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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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wie sie im Kampf mit dem Zustande unfreier, heteronomischer Gesetz-
gebung der Kunst jederzeit hervortreten kann; daher werden hier zugleich
andere Erscheinungen angeknüpft, die einer revolutionären Kunst nur in
Einem Momente verwandt sind, aber gerade durch die Aehnlichkeit im
Unterschied ein lehrreiches Licht auf das Zweifelhafte und Gefährliche
jener Kunst werfen, die mit dem Losungswort Genie das Prinzip der
unmittelbaren Eingebung, der Ursprünglichkeit, der Göttlichkeit des ersten
Wurfes von dem ebenso wesentlichen Gesetze jener neuen tiefen Besin-
nung trennt, welche in dem Momente des Uebergangs von der innern
Dichtung zur äußern Darstellung eintreten soll. Diese Besinnung, dieses
Stillestehen auf der Schwelle zwischen Phantasie und Kunst schließt nach
dem Standpunct unserer gegenwärtigen Erörterung wesentlich eine Rück-
sicht auf die wahren Anforderungen des Zuschauers in sich, die Compo-
sitionsgesetze kommen zur Ausführung durch die Vergegenwärtigung einer
objectiven Nothwendigkeit, die ebensosehr ein subjectives Bedürfniß der
Zuschauer ist. Die revolutionär geniale Kunst dagegen macht an den
Zuschauer die Anforderung, daß er sich als hinreichend vertreten ansehe
im hervorbringenden Genie selbst, wie es seinem innern Schaffen zusieht,
als ob dieses nicht zu sehr Partei wäre, um für einen solchen Vertreter
gelten zu können, und erlaubt nun dem Künstler, diesem so der Garan-
tieen beraubten Zuschauer sein Werk ohne Weiteres zu octroyiren. Jenes
Zusehen ist aber überdieß, wo das Moment der Begeisterung einseitig
gilt, schon im ersten Acte, dem erst innern Erzeugen des Ideals, ein
unzureichendes: die Besonnenheit steht hier nicht mit der Begeisterung auf
gleicher Höhe, wie §. 397 verlangte; das Kind wird nicht nur nach
der geistigen Geburt nicht an der mütterlichen Brust gehalten, bis es
gehen lernt, um in die Welt zu treten, sondern es wird im Mutterschooße
selbst nicht ausgetragen. Das wirkliche Genie, ein Göthe, wird selbst
diesen stürmischen Frühgeburten seinen Geist einhauchen, und ein Götz
von Berlichingen verrieth den Schöpfer einer neuen Kunst, obwohl er
"ohne Plan und Entwurf, ohne weder rückwärts, noch rechts, noch links
zu sehen" gearbeitet war, aber das ganze Prinzip ist falsch; es hat seine
einseitige Berechtigung im Kampfe mit der conventionellen Kunst; es stürzt
die fremden, von außen aufgedrungenen Gesetze und kann die neue, freie
Gesetzgebung noch nicht schaffen, es wirft einem Extrem ein Extrem ent-
gegen, es steht, wie alle Revolution, in der dunkeln Mitte zwischen Zer-
stören und Schaffen. Shakespeare wurde zur Zeit der conventionellen
Kunst für ein wildlaufendes Genie gehalten, weil sie ihre Afterweisheit
bei ihm suchte und so seine wahre Weisheit und Besonnenheit nicht fand.
Die Falschheit des Prinzips erweist sich aber wesentlich dadurch, daß es
in sein Gegentheil umschlägt. Das Publikum nämlich ist vorauszusetzen

wie ſie im Kampf mit dem Zuſtande unfreier, heteronomiſcher Geſetz-
gebung der Kunſt jederzeit hervortreten kann; daher werden hier zugleich
andere Erſcheinungen angeknüpft, die einer revolutionären Kunſt nur in
Einem Momente verwandt ſind, aber gerade durch die Aehnlichkeit im
Unterſchied ein lehrreiches Licht auf das Zweifelhafte und Gefährliche
jener Kunſt werfen, die mit dem Loſungswort Genie das Prinzip der
unmittelbaren Eingebung, der Urſprünglichkeit, der Göttlichkeit des erſten
Wurfes von dem ebenſo weſentlichen Geſetze jener neuen tiefen Beſin-
nung trennt, welche in dem Momente des Uebergangs von der innern
Dichtung zur äußern Darſtellung eintreten ſoll. Dieſe Beſinnung, dieſes
Stilleſtehen auf der Schwelle zwiſchen Phantaſie und Kunſt ſchließt nach
dem Standpunct unſerer gegenwärtigen Erörterung weſentlich eine Rück-
ſicht auf die wahren Anforderungen des Zuſchauers in ſich, die Compo-
ſitionsgeſetze kommen zur Ausführung durch die Vergegenwärtigung einer
objectiven Nothwendigkeit, die ebenſoſehr ein ſubjectives Bedürfniß der
Zuſchauer iſt. Die revolutionär geniale Kunſt dagegen macht an den
Zuſchauer die Anforderung, daß er ſich als hinreichend vertreten anſehe
im hervorbringenden Genie ſelbſt, wie es ſeinem innern Schaffen zuſieht,
als ob dieſes nicht zu ſehr Partei wäre, um für einen ſolchen Vertreter
gelten zu können, und erlaubt nun dem Künſtler, dieſem ſo der Garan-
tieen beraubten Zuſchauer ſein Werk ohne Weiteres zu octroyiren. Jenes
Zuſehen iſt aber überdieß, wo das Moment der Begeiſterung einſeitig
gilt, ſchon im erſten Acte, dem erſt innern Erzeugen des Ideals, ein
unzureichendes: die Beſonnenheit ſteht hier nicht mit der Begeiſterung auf
gleicher Höhe, wie §. 397 verlangte; das Kind wird nicht nur nach
der geiſtigen Geburt nicht an der mütterlichen Bruſt gehalten, bis es
gehen lernt, um in die Welt zu treten, ſondern es wird im Mutterſchooße
ſelbſt nicht ausgetragen. Das wirkliche Genie, ein Göthe, wird ſelbſt
dieſen ſtürmiſchen Frühgeburten ſeinen Geiſt einhauchen, und ein Götz
von Berlichingen verrieth den Schöpfer einer neuen Kunſt, obwohl er
„ohne Plan und Entwurf, ohne weder rückwärts, noch rechts, noch links
zu ſehen“ gearbeitet war, aber das ganze Prinzip iſt falſch; es hat ſeine
einſeitige Berechtigung im Kampfe mit der conventionellen Kunſt; es ſtürzt
die fremden, von außen aufgedrungenen Geſetze und kann die neue, freie
Geſetzgebung noch nicht ſchaffen, es wirft einem Extrem ein Extrem ent-
gegen, es ſteht, wie alle Revolution, in der dunkeln Mitte zwiſchen Zer-
ſtören und Schaffen. Shakespeare wurde zur Zeit der conventionellen
Kunſt für ein wildlaufendes Genie gehalten, weil ſie ihre Afterweisheit
bei ihm ſuchte und ſo ſeine wahre Weisheit und Beſonnenheit nicht fand.
Die Falſchheit des Prinzips erweist ſich aber weſentlich dadurch, daß es
in ſein Gegentheil umſchlägt. Das Publikum nämlich iſt vorauszuſetzen

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[63/0075] wie ſie im Kampf mit dem Zuſtande unfreier, heteronomiſcher Geſetz- gebung der Kunſt jederzeit hervortreten kann; daher werden hier zugleich andere Erſcheinungen angeknüpft, die einer revolutionären Kunſt nur in Einem Momente verwandt ſind, aber gerade durch die Aehnlichkeit im Unterſchied ein lehrreiches Licht auf das Zweifelhafte und Gefährliche jener Kunſt werfen, die mit dem Loſungswort Genie das Prinzip der unmittelbaren Eingebung, der Urſprünglichkeit, der Göttlichkeit des erſten Wurfes von dem ebenſo weſentlichen Geſetze jener neuen tiefen Beſin- nung trennt, welche in dem Momente des Uebergangs von der innern Dichtung zur äußern Darſtellung eintreten ſoll. Dieſe Beſinnung, dieſes Stilleſtehen auf der Schwelle zwiſchen Phantaſie und Kunſt ſchließt nach dem Standpunct unſerer gegenwärtigen Erörterung weſentlich eine Rück- ſicht auf die wahren Anforderungen des Zuſchauers in ſich, die Compo- ſitionsgeſetze kommen zur Ausführung durch die Vergegenwärtigung einer objectiven Nothwendigkeit, die ebenſoſehr ein ſubjectives Bedürfniß der Zuſchauer iſt. Die revolutionär geniale Kunſt dagegen macht an den Zuſchauer die Anforderung, daß er ſich als hinreichend vertreten anſehe im hervorbringenden Genie ſelbſt, wie es ſeinem innern Schaffen zuſieht, als ob dieſes nicht zu ſehr Partei wäre, um für einen ſolchen Vertreter gelten zu können, und erlaubt nun dem Künſtler, dieſem ſo der Garan- tieen beraubten Zuſchauer ſein Werk ohne Weiteres zu octroyiren. Jenes Zuſehen iſt aber überdieß, wo das Moment der Begeiſterung einſeitig gilt, ſchon im erſten Acte, dem erſt innern Erzeugen des Ideals, ein unzureichendes: die Beſonnenheit ſteht hier nicht mit der Begeiſterung auf gleicher Höhe, wie §. 397 verlangte; das Kind wird nicht nur nach der geiſtigen Geburt nicht an der mütterlichen Bruſt gehalten, bis es gehen lernt, um in die Welt zu treten, ſondern es wird im Mutterſchooße ſelbſt nicht ausgetragen. Das wirkliche Genie, ein Göthe, wird ſelbſt dieſen ſtürmiſchen Frühgeburten ſeinen Geiſt einhauchen, und ein Götz von Berlichingen verrieth den Schöpfer einer neuen Kunſt, obwohl er „ohne Plan und Entwurf, ohne weder rückwärts, noch rechts, noch links zu ſehen“ gearbeitet war, aber das ganze Prinzip iſt falſch; es hat ſeine einſeitige Berechtigung im Kampfe mit der conventionellen Kunſt; es ſtürzt die fremden, von außen aufgedrungenen Geſetze und kann die neue, freie Geſetzgebung noch nicht ſchaffen, es wirft einem Extrem ein Extrem ent- gegen, es ſteht, wie alle Revolution, in der dunkeln Mitte zwiſchen Zer- ſtören und Schaffen. Shakespeare wurde zur Zeit der conventionellen Kunſt für ein wildlaufendes Genie gehalten, weil ſie ihre Afterweisheit bei ihm ſuchte und ſo ſeine wahre Weisheit und Beſonnenheit nicht fand. Die Falſchheit des Prinzips erweist ſich aber weſentlich dadurch, daß es in ſein Gegentheil umſchlägt. Das Publikum nämlich iſt vorauszuſetzen

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/75>, abgerufen am 24.11.2024.