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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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über, als sie dem Volke in der Form ihres Bewußtseins noch näher
standen, trotz dieser Wendung zu einer einzelnen Volksclasse hin noch
ungleich freiere Bewegung in Erfindung und Anlegung seines Werks, so
vollendete sich nun erst und dauerte tief in das achtzehnte Jahrhundert
herein zugleich mit der Losreißung vom Volke seine Abhängigkeit von
der höheren Gesellschaft. Nicht mehr das Bewußtsein, die Sitte und
Stimmung eines Volksganzen wird in die fremdartigen gelehrten Stoffe,
in die entstellte Antike gelegt, sondern nur der Geist und die Cultur-
formen des Hofs und Adels. Composition, Styl, alle Formen werden
conventionell über Einen Leisten geschlagen und die Kunst wird so sehr
von der Bestellung beherrscht, daß selbst die am unmittelbarsten subjective
Form der geistigsten Kunst, die lyrische Poesie, stückweise zu festen
Preisen nach der Anzahl der Verse u. s. w. bezahlt wird. Wir stehen
hier an demselben Puncte, der in §. 476 dargestellt ist, nur daß wir
ihn jetzt von einer andern Seite, nämlich vom Standort der Frage nach
der Freiheit der innersten geistigen Thätigkeit des Künstlers, auffassen und
daß uns der dagewesene Zustand jetzt nicht als etwas Historisches
beschäftigt, sondern als eine Form, die immer möglich und, nur nicht
als herrschende, sondern an den Rand gedrückt, auch in guter Zeit wirk-
lich ist. So kann das Conventionelle auch in besserer Zeit als ein
Stützpunkt für Einführung idealerer Formen in Opposition gegen herr-
schenden Naturalismus aufgenommen werden, wie von Göthe auf dem
Theater zu Weimar. Daher ist die höfisch geregelte Kunst nicht immer,
begreiflicher Weise aber häufig zugleich ein Dienst der Lüsternheit
und pikanter Effecte; denn eine vom gesunden Volksboden losgerissene
Gesellschaft wird mehr oder weniger die wahre Grazie immer mit jenem
reflectirten Kitzel der zurückgetretenen Sinnlichkeit (§. 73) zu verwechseln
geneigt sein.

§. 506.

1

In vollen Gegensatz gegen diese Bindung wirst sich die Kunst, wenn sie
von dem innern Bilden des Ideals ohne Vermittlung einer den Zuschauer im
Auge haltenden Besinnung zum Darstellen überspringt. Dieß unmittelbare Schaffen
aus der Begeisterung läßt jedoch nicht einmal jenen innern Prozeß (§. 393--399) zur
Reise gelangen und die scheinbar unbedingte Freiheit schlägt in Mechanistrung
und vollständige Abhängigkeit von dem auf die plötzliche Geburt wartenden
2Zuschauer um, besonders im eigentlichen Improvisiren. Auch wird eine solche
Kunst durch ihren Naturalismus dem ungeläuterten Volkssinne dienstbar.

1. Auch dieses Verhalten der Phantasie ist in §. 478 als eine
historische Form aufgeführt worden, steht aber hier als eine Erscheinung,

über, als ſie dem Volke in der Form ihres Bewußtſeins noch näher
ſtanden, trotz dieſer Wendung zu einer einzelnen Volksclaſſe hin noch
ungleich freiere Bewegung in Erfindung und Anlegung ſeines Werks, ſo
vollendete ſich nun erſt und dauerte tief in das achtzehnte Jahrhundert
herein zugleich mit der Losreißung vom Volke ſeine Abhängigkeit von
der höheren Geſellſchaft. Nicht mehr das Bewußtſein, die Sitte und
Stimmung eines Volksganzen wird in die fremdartigen gelehrten Stoffe,
in die entſtellte Antike gelegt, ſondern nur der Geiſt und die Cultur-
formen des Hofs und Adels. Compoſition, Styl, alle Formen werden
conventionell über Einen Leiſten geſchlagen und die Kunſt wird ſo ſehr
von der Beſtellung beherrſcht, daß ſelbſt die am unmittelbarſten ſubjective
Form der geiſtigſten Kunſt, die lyriſche Poeſie, ſtückweiſe zu feſten
Preiſen nach der Anzahl der Verſe u. ſ. w. bezahlt wird. Wir ſtehen
hier an demſelben Puncte, der in §. 476 dargeſtellt iſt, nur daß wir
ihn jetzt von einer andern Seite, nämlich vom Standort der Frage nach
der Freiheit der innerſten geiſtigen Thätigkeit des Künſtlers, auffaſſen und
daß uns der dageweſene Zuſtand jetzt nicht als etwas Hiſtoriſches
beſchäftigt, ſondern als eine Form, die immer möglich und, nur nicht
als herrſchende, ſondern an den Rand gedrückt, auch in guter Zeit wirk-
lich iſt. So kann das Conventionelle auch in beſſerer Zeit als ein
Stützpunkt für Einführung idealerer Formen in Oppoſition gegen herr-
ſchenden Naturalismus aufgenommen werden, wie von Göthe auf dem
Theater zu Weimar. Daher iſt die höfiſch geregelte Kunſt nicht immer,
begreiflicher Weiſe aber häufig zugleich ein Dienſt der Lüſternheit
und pikanter Effecte; denn eine vom geſunden Volksboden losgeriſſene
Geſellſchaft wird mehr oder weniger die wahre Grazie immer mit jenem
reflectirten Kitzel der zurückgetretenen Sinnlichkeit (§. 73) zu verwechſeln
geneigt ſein.

§. 506.

1

In vollen Gegenſatz gegen dieſe Bindung wirſt ſich die Kunſt, wenn ſie
von dem innern Bilden des Ideals ohne Vermittlung einer den Zuſchauer im
Auge haltenden Beſinnung zum Darſtellen überſpringt. Dieß unmittelbare Schaffen
aus der Begeiſterung läßt jedoch nicht einmal jenen innern Prozeß (§. 393—399) zur
Reiſe gelangen und die ſcheinbar unbedingte Freiheit ſchlägt in Mechaniſtrung
und vollſtändige Abhängigkeit von dem auf die plötzliche Geburt wartenden
2Zuſchauer um, beſonders im eigentlichen Improviſiren. Auch wird eine ſolche
Kunſt durch ihren Naturalismus dem ungeläuterten Volksſinne dienſtbar.

1. Auch dieſes Verhalten der Phantaſie iſt in §. 478 als eine
hiſtoriſche Form aufgeführt worden, ſteht aber hier als eine Erſcheinung,

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[62/0074] über, als ſie dem Volke in der Form ihres Bewußtſeins noch näher ſtanden, trotz dieſer Wendung zu einer einzelnen Volksclaſſe hin noch ungleich freiere Bewegung in Erfindung und Anlegung ſeines Werks, ſo vollendete ſich nun erſt und dauerte tief in das achtzehnte Jahrhundert herein zugleich mit der Losreißung vom Volke ſeine Abhängigkeit von der höheren Geſellſchaft. Nicht mehr das Bewußtſein, die Sitte und Stimmung eines Volksganzen wird in die fremdartigen gelehrten Stoffe, in die entſtellte Antike gelegt, ſondern nur der Geiſt und die Cultur- formen des Hofs und Adels. Compoſition, Styl, alle Formen werden conventionell über Einen Leiſten geſchlagen und die Kunſt wird ſo ſehr von der Beſtellung beherrſcht, daß ſelbſt die am unmittelbarſten ſubjective Form der geiſtigſten Kunſt, die lyriſche Poeſie, ſtückweiſe zu feſten Preiſen nach der Anzahl der Verſe u. ſ. w. bezahlt wird. Wir ſtehen hier an demſelben Puncte, der in §. 476 dargeſtellt iſt, nur daß wir ihn jetzt von einer andern Seite, nämlich vom Standort der Frage nach der Freiheit der innerſten geiſtigen Thätigkeit des Künſtlers, auffaſſen und daß uns der dageweſene Zuſtand jetzt nicht als etwas Hiſtoriſches beſchäftigt, ſondern als eine Form, die immer möglich und, nur nicht als herrſchende, ſondern an den Rand gedrückt, auch in guter Zeit wirk- lich iſt. So kann das Conventionelle auch in beſſerer Zeit als ein Stützpunkt für Einführung idealerer Formen in Oppoſition gegen herr- ſchenden Naturalismus aufgenommen werden, wie von Göthe auf dem Theater zu Weimar. Daher iſt die höfiſch geregelte Kunſt nicht immer, begreiflicher Weiſe aber häufig zugleich ein Dienſt der Lüſternheit und pikanter Effecte; denn eine vom geſunden Volksboden losgeriſſene Geſellſchaft wird mehr oder weniger die wahre Grazie immer mit jenem reflectirten Kitzel der zurückgetretenen Sinnlichkeit (§. 73) zu verwechſeln geneigt ſein. §. 506. In vollen Gegenſatz gegen dieſe Bindung wirſt ſich die Kunſt, wenn ſie von dem innern Bilden des Ideals ohne Vermittlung einer den Zuſchauer im Auge haltenden Beſinnung zum Darſtellen überſpringt. Dieß unmittelbare Schaffen aus der Begeiſterung läßt jedoch nicht einmal jenen innern Prozeß (§. 393—399) zur Reiſe gelangen und die ſcheinbar unbedingte Freiheit ſchlägt in Mechaniſtrung und vollſtändige Abhängigkeit von dem auf die plötzliche Geburt wartenden Zuſchauer um, beſonders im eigentlichen Improviſiren. Auch wird eine ſolche Kunſt durch ihren Naturalismus dem ungeläuterten Volksſinne dienſtbar. 1. Auch dieſes Verhalten der Phantaſie iſt in §. 478 als eine hiſtoriſche Form aufgeführt worden, ſteht aber hier als eine Erſcheinung,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/74>, abgerufen am 21.11.2024.