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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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Knechtschaft werden darf. Diese Schuld ist ja in Wahrheit eine Ver-
pflichtung, der Masse zu geben, was sie nicht hat: die ideale Gestalt,
nicht von ihr zu entlehnen, was sie hat, um es ihr mit einiger Aus-
schmückung zurückzugeben, sei nun Eitelkeit oder gemeine Habsucht das
Motiv. Die Kunst als ideale Thätigkeit gehört wesentlich zu den großen
geistigen Sphären, welche nach der einen Seite zwar der edelste Auszug
aus dem Vorhandenen, aber nach der andern Seite die großen Hebel
sind, welche, indem sie den Kräften eines Volks und einer Zeit Ausdruck
und Bewußtsein geben, wesentlich neue Bahnen eröffnen und die Mensch-
heit mit gewaltiger Hand vorwärts führen. Besonders belehrend über
diese doppelte Stellung der Kunst, das Publikum und seine Gunst zu
bedürfen und doch über ihm stehen zu sollen, ist die Schauspielkunst
und ihre Geschichte. -- Die folgenden §§. entwickeln hauptsächlich den
zweiten, allgemeineren Standpunct, in welchem jener ethische als eine
einzelne Seite enthalten ist; sie geben eine kurze Uebersicht der allgemei-
nen Zustände, betrachtet unter der Frage, welches die Stellung des Künst-
lers zu denen, für die er arbeitet, sein muß, wenn diese Arbeit frei sein
soll. Die Betrachtung ist keine eigentlich geschichtliche, entnimmt aber die
verschiedenen Wendungen, die jene Stellung nehmen kann, natürlich der
geschichtlichen Erfahrung.

§. 503.

In dem naturgemäßen Zustande, wo die Kunst eine nationale (§. 423)1
und öffentliche ist, wird die Freiheit jener Thätigkeiten weder durch die
Herrschaft der mythischen und sagenhaften Stoffe (§. 417), noch durch die
verbreitete Auffaßungsweise gehemmt; der Unterschied von Kennern und2
Nichtkennern besteht in gewissem Sinn, aber er begründet keine Kluft und die
gleichzeitige Rücksicht auf beide, sowie der natürliche Wettstreit mit den
Kunstgenoßen, fördert anregend und belebend den Künstler im innern Bau
seines Werks.

1. Im zweiten Theil §. 423 wurde das Verhältniß der Kunst zum
Publikum in seiner organischen Gesundheit einfach hingestellt, die Kunst
als die Frucht der Gesammtkräfte eines Volks und Zeitalters, als die
geistige Zusammenfaßung des Lebens bezeichnet, die diesem sein eigenes
unendlich erhöhtes Bild zurückgibt. So soll es sein, so war es in guter
Zeit; jetzt aber gehen wir von da aus, um nachher auch unlebendigere,
verwickeltere Zustände ins Auge zu faßen. Diese gute Zeit war das
Alterthum und Mittelalter, die Zeit, wo die allgemeine Phantasie der
besondern durch Aufbau jener zweiten Stoffwelt vorarbeitete, welche sich

Knechtſchaft werden darf. Dieſe Schuld iſt ja in Wahrheit eine Ver-
pflichtung, der Maſſe zu geben, was ſie nicht hat: die ideale Geſtalt,
nicht von ihr zu entlehnen, was ſie hat, um es ihr mit einiger Aus-
ſchmückung zurückzugeben, ſei nun Eitelkeit oder gemeine Habſucht das
Motiv. Die Kunſt als ideale Thätigkeit gehört weſentlich zu den großen
geiſtigen Sphären, welche nach der einen Seite zwar der edelſte Auszug
aus dem Vorhandenen, aber nach der andern Seite die großen Hebel
ſind, welche, indem ſie den Kräften eines Volks und einer Zeit Ausdruck
und Bewußtſein geben, weſentlich neue Bahnen eröffnen und die Menſch-
heit mit gewaltiger Hand vorwärts führen. Beſonders belehrend über
dieſe doppelte Stellung der Kunſt, das Publikum und ſeine Gunſt zu
bedürfen und doch über ihm ſtehen zu ſollen, iſt die Schauſpielkunſt
und ihre Geſchichte. — Die folgenden §§. entwickeln hauptſächlich den
zweiten, allgemeineren Standpunct, in welchem jener ethiſche als eine
einzelne Seite enthalten iſt; ſie geben eine kurze Ueberſicht der allgemei-
nen Zuſtände, betrachtet unter der Frage, welches die Stellung des Künſt-
lers zu denen, für die er arbeitet, ſein muß, wenn dieſe Arbeit frei ſein
ſoll. Die Betrachtung iſt keine eigentlich geſchichtliche, entnimmt aber die
verſchiedenen Wendungen, die jene Stellung nehmen kann, natürlich der
geſchichtlichen Erfahrung.

§. 503.

In dem naturgemäßen Zuſtande, wo die Kunſt eine nationale (§. 423)1
und öffentliche iſt, wird die Freiheit jener Thätigkeiten weder durch die
Herrſchaft der mythiſchen und ſagenhaften Stoffe (§. 417), noch durch die
verbreitete Auffaßungsweiſe gehemmt; der Unterſchied von Kennern und2
Nichtkennern beſteht in gewiſſem Sinn, aber er begründet keine Kluft und die
gleichzeitige Rückſicht auf beide, ſowie der natürliche Wettſtreit mit den
Kunſtgenoßen, fördert anregend und belebend den Künſtler im innern Bau
ſeines Werks.

1. Im zweiten Theil §. 423 wurde das Verhältniß der Kunſt zum
Publikum in ſeiner organiſchen Geſundheit einfach hingeſtellt, die Kunſt
als die Frucht der Geſammtkräfte eines Volks und Zeitalters, als die
geiſtige Zuſammenfaßung des Lebens bezeichnet, die dieſem ſein eigenes
unendlich erhöhtes Bild zurückgibt. So ſoll es ſein, ſo war es in guter
Zeit; jetzt aber gehen wir von da aus, um nachher auch unlebendigere,
verwickeltere Zuſtände ins Auge zu faßen. Dieſe gute Zeit war das
Alterthum und Mittelalter, die Zeit, wo die allgemeine Phantaſie der
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[55/0067] Knechtſchaft werden darf. Dieſe Schuld iſt ja in Wahrheit eine Ver- pflichtung, der Maſſe zu geben, was ſie nicht hat: die ideale Geſtalt, nicht von ihr zu entlehnen, was ſie hat, um es ihr mit einiger Aus- ſchmückung zurückzugeben, ſei nun Eitelkeit oder gemeine Habſucht das Motiv. Die Kunſt als ideale Thätigkeit gehört weſentlich zu den großen geiſtigen Sphären, welche nach der einen Seite zwar der edelſte Auszug aus dem Vorhandenen, aber nach der andern Seite die großen Hebel ſind, welche, indem ſie den Kräften eines Volks und einer Zeit Ausdruck und Bewußtſein geben, weſentlich neue Bahnen eröffnen und die Menſch- heit mit gewaltiger Hand vorwärts führen. Beſonders belehrend über dieſe doppelte Stellung der Kunſt, das Publikum und ſeine Gunſt zu bedürfen und doch über ihm ſtehen zu ſollen, iſt die Schauſpielkunſt und ihre Geſchichte. — Die folgenden §§. entwickeln hauptſächlich den zweiten, allgemeineren Standpunct, in welchem jener ethiſche als eine einzelne Seite enthalten iſt; ſie geben eine kurze Ueberſicht der allgemei- nen Zuſtände, betrachtet unter der Frage, welches die Stellung des Künſt- lers zu denen, für die er arbeitet, ſein muß, wenn dieſe Arbeit frei ſein ſoll. Die Betrachtung iſt keine eigentlich geſchichtliche, entnimmt aber die verſchiedenen Wendungen, die jene Stellung nehmen kann, natürlich der geſchichtlichen Erfahrung. §. 503. In dem naturgemäßen Zuſtande, wo die Kunſt eine nationale (§. 423) und öffentliche iſt, wird die Freiheit jener Thätigkeiten weder durch die Herrſchaft der mythiſchen und ſagenhaften Stoffe (§. 417), noch durch die verbreitete Auffaßungsweiſe gehemmt; der Unterſchied von Kennern und Nichtkennern beſteht in gewiſſem Sinn, aber er begründet keine Kluft und die gleichzeitige Rückſicht auf beide, ſowie der natürliche Wettſtreit mit den Kunſtgenoßen, fördert anregend und belebend den Künſtler im innern Bau ſeines Werks. 1. Im zweiten Theil §. 423 wurde das Verhältniß der Kunſt zum Publikum in ſeiner organiſchen Geſundheit einfach hingeſtellt, die Kunſt als die Frucht der Geſammtkräfte eines Volks und Zeitalters, als die geiſtige Zuſammenfaßung des Lebens bezeichnet, die dieſem ſein eigenes unendlich erhöhtes Bild zurückgibt. So ſoll es ſein, ſo war es in guter Zeit; jetzt aber gehen wir von da aus, um nachher auch unlebendigere, verwickeltere Zuſtände ins Auge zu faßen. Dieſe gute Zeit war das Alterthum und Mittelalter, die Zeit, wo die allgemeine Phantaſie der beſondern durch Aufbau jener zweiten Stoffwelt vorarbeitete, welche ſich

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/67>, abgerufen am 24.11.2024.