lung überhaupt, bald durch Einschiebung neuer Theile zu vollziehen sein. Ihre tiefste Bedeutung erhält sie bei den Contrasten, deren Zusammen- stoß stark und hart sein darf, aber auch seine Auflösung finden muß. Die Auflösung der Contraste kann in verschiedenen Formen geschehen. Die erste, unbestimmteste ist die Wirkung allgemeiner Medien, wie solche so eben von der Malerei angegeben sind; klar ist dieß in der Musik, in der Poesie kann man an den allgemeinen Zustand der Gesellschaft und Sitte denken, der Freund und Feind unter Einen Beleuchtungston befaßt. Als bestimmtere Form tritt sodann die Milderung des gegensätzlich schroffen Contrasts durch den Contrast des bloßen Unterschieds auf: so wird der dämonisch steil aufgerichtete Richard III. mit der Menschheit, welcher er als directer Feind gegenübersteht, wieder vermittelt durch die weniger consequent bösen, daher vom Menschlichen und Guten weniger losge- rissenen Charaktere, die ihn umgeben, so steht zwischen Mephistopheles und Margarete die verdorbene, aber nicht absolut böse Marthe, so erscheint Macbeth menschlicher neben Lady Macbeth und umgekehrt ist diese durch Gattenliebe an die Menschheit geknüpft. Der verwandte, aber schwächere und anders schattirte Farbenton führt die grelle Farbe zur Farben-Totalität hinüber. Eine weitere Form ist die Aufstellung eines Theils, einer Person, Scene, Tongruppe, welche die dissonirenden in sich zusammenfaßt, indem sie ausdrücklich an beiden Theil hat: so kämpft in Faust das Böse und Gute, er vermittelt den grellen Abstich von Schatten und Licht zwischen Mephistopheles und Margareten und der in ihr verhöhnten Menschheit; Banquo liegt zwar im Contraste mit Macbeth, hat aber den Reiz der Versuchung wohl kennen gelernt und steht so zwischen ihm und der mißhandelten Unschuld als eine helle, doch an seinem Schatten theil- nehmende Farbe; die Scene zwischen Maria Stuart und Elisabeth in Schillers Tragödie denke man sich ohne die Gegenwart des alten Shrewsbury, der Elisabeths Rath und zugleich Mariens theilnehmender Freund ist: so wäre sie grell bis zum Unerträglichen. Die höchste Form der Auflösung ist nun aber natürlich die der Bewegung, der Handlung: die kämpfenden Gegner heben ihren Gegensatz auf, indem sie durchein- ander leiden, am Bösewicht rächt sich die menschliche Natur, die beleidigte Gesellschaft, doch nicht, ohne daß die Guten für lange Willenlosigkeit büßen, und es gilt im weitesten Sinne der Satz: duplex negatio affir- mat. Man denke aber dabei keineswegs blos an das Tragische und Dramatische, wir nehmen unsere Beispiele vorzüglich aus der höchsten Kunstform und können nicht jedesmal auf alle andern Kunstformen Rück- sicht nehmen, ohne in allzuhäufige Vorgriffe zu gerathen; der folgenoe §. muß ohnedieß den Gegenstand sogleich wieder aufnehmen.
lung überhaupt, bald durch Einſchiebung neuer Theile zu vollziehen ſein. Ihre tiefſte Bedeutung erhält ſie bei den Contraſten, deren Zuſammen- ſtoß ſtark und hart ſein darf, aber auch ſeine Auflöſung finden muß. Die Auflöſung der Contraſte kann in verſchiedenen Formen geſchehen. Die erſte, unbeſtimmteſte iſt die Wirkung allgemeiner Medien, wie ſolche ſo eben von der Malerei angegeben ſind; klar iſt dieß in der Muſik, in der Poeſie kann man an den allgemeinen Zuſtand der Geſellſchaft und Sitte denken, der Freund und Feind unter Einen Beleuchtungston befaßt. Als beſtimmtere Form tritt ſodann die Milderung des gegenſätzlich ſchroffen Contraſts durch den Contraſt des bloßen Unterſchieds auf: ſo wird der dämoniſch ſteil aufgerichtete Richard III. mit der Menſchheit, welcher er als directer Feind gegenüberſteht, wieder vermittelt durch die weniger conſequent böſen, daher vom Menſchlichen und Guten weniger losge- riſſenen Charaktere, die ihn umgeben, ſo ſteht zwiſchen Mephiſtopheles und Margarete die verdorbene, aber nicht abſolut böſe Marthe, ſo erſcheint Macbeth menſchlicher neben Lady Macbeth und umgekehrt iſt dieſe durch Gattenliebe an die Menſchheit geknüpft. Der verwandte, aber ſchwächere und anders ſchattirte Farbenton führt die grelle Farbe zur Farben-Totalität hinüber. Eine weitere Form iſt die Aufſtellung eines Theils, einer Perſon, Scene, Tongruppe, welche die diſſonirenden in ſich zuſammenfaßt, indem ſie ausdrücklich an beiden Theil hat: ſo kämpft in Fauſt das Böſe und Gute, er vermittelt den grellen Abſtich von Schatten und Licht zwiſchen Mephiſtopheles und Margareten und der in ihr verhöhnten Menſchheit; Banquo liegt zwar im Contraſte mit Macbeth, hat aber den Reiz der Verſuchung wohl kennen gelernt und ſteht ſo zwiſchen ihm und der mißhandelten Unſchuld als eine helle, doch an ſeinem Schatten theil- nehmende Farbe; die Scene zwiſchen Maria Stuart und Eliſabeth in Schillers Tragödie denke man ſich ohne die Gegenwart des alten Shrewsbury, der Eliſabeths Rath und zugleich Mariens theilnehmender Freund iſt: ſo wäre ſie grell bis zum Unerträglichen. Die höchſte Form der Auflöſung iſt nun aber natürlich die der Bewegung, der Handlung: die kämpfenden Gegner heben ihren Gegenſatz auf, indem ſie durchein- ander leiden, am Böſewicht rächt ſich die menſchliche Natur, die beleidigte Geſellſchaft, doch nicht, ohne daß die Guten für lange Willenloſigkeit büßen, und es gilt im weiteſten Sinne der Satz: duplex negatio affir- mat. Man denke aber dabei keineswegs blos an das Tragiſche und Dramatiſche, wir nehmen unſere Beiſpiele vorzüglich aus der höchſten Kunſtform und können nicht jedesmal auf alle andern Kunſtformen Rück- ſicht nehmen, ohne in allzuhäufige Vorgriffe zu gerathen; der folgenoe §. muß ohnedieß den Gegenſtand ſogleich wieder aufnehmen.
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lung überhaupt, bald durch Einſchiebung neuer Theile zu vollziehen ſein.
Ihre tiefſte Bedeutung erhält ſie bei den Contraſten, deren Zuſammen-
ſtoß ſtark und hart ſein darf, aber auch ſeine Auflöſung finden muß.
Die Auflöſung der Contraſte kann in verſchiedenen Formen geſchehen.
Die erſte, unbeſtimmteſte iſt die Wirkung allgemeiner Medien, wie ſolche
ſo eben von der Malerei angegeben ſind; klar iſt dieß in der Muſik, in
der Poeſie kann man an den allgemeinen Zuſtand der Geſellſchaft und
Sitte denken, der Freund und Feind unter Einen Beleuchtungston befaßt.
Als beſtimmtere Form tritt ſodann die Milderung des gegenſätzlich
ſchroffen Contraſts durch den Contraſt des bloßen Unterſchieds auf: ſo wird
der dämoniſch ſteil aufgerichtete Richard III. mit der Menſchheit, welcher
er als directer Feind gegenüberſteht, wieder vermittelt durch die weniger
conſequent böſen, daher vom Menſchlichen und Guten weniger losge-
riſſenen Charaktere, die ihn umgeben, ſo ſteht zwiſchen Mephiſtopheles
und Margarete die verdorbene, aber nicht abſolut böſe Marthe, ſo
erſcheint Macbeth menſchlicher neben Lady Macbeth und umgekehrt iſt
dieſe durch Gattenliebe an die Menſchheit geknüpft. Der verwandte, aber
ſchwächere und anders ſchattirte Farbenton führt die grelle Farbe zur
Farben-Totalität hinüber. Eine weitere Form iſt die Aufſtellung eines
Theils, einer Perſon, Scene, Tongruppe, welche die diſſonirenden in ſich
zuſammenfaßt, indem ſie ausdrücklich an beiden Theil hat: ſo kämpft in Fauſt
das Böſe und Gute, er vermittelt den grellen Abſtich von Schatten und Licht
zwiſchen Mephiſtopheles und Margareten und der in ihr verhöhnten
Menſchheit; Banquo liegt zwar im Contraſte mit Macbeth, hat aber den
Reiz der Verſuchung wohl kennen gelernt und ſteht ſo zwiſchen ihm und
der mißhandelten Unſchuld als eine helle, doch an ſeinem Schatten theil-
nehmende Farbe; die Scene zwiſchen Maria Stuart und Eliſabeth in
Schillers Tragödie denke man ſich ohne die Gegenwart des alten
Shrewsbury, der Eliſabeths Rath und zugleich Mariens theilnehmender
Freund iſt: ſo wäre ſie grell bis zum Unerträglichen. Die höchſte Form
der Auflöſung iſt nun aber natürlich die der Bewegung, der Handlung:
die kämpfenden Gegner heben ihren Gegenſatz auf, indem ſie durchein-
ander leiden, am Böſewicht rächt ſich die menſchliche Natur, die beleidigte
Geſellſchaft, doch nicht, ohne daß die Guten für lange Willenloſigkeit
büßen, und es gilt im weiteſten Sinne der Satz: duplex negatio affir-
mat. Man denke aber dabei keineswegs blos an das Tragiſche und
Dramatiſche, wir nehmen unſere Beiſpiele vorzüglich aus der höchſten
Kunſtform und können nicht jedesmal auf alle andern Kunſtformen Rück-
ſicht nehmen, ohne in allzuhäufige Vorgriffe zu gerathen; der folgenoe §.
muß ohnedieß den Gegenſtand ſogleich wieder aufnehmen.
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/55>, abgerufen am 16.02.2025.
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