Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.
sosehr über diese Sprache der im mythischen Sinne vereinfachten Motivi- Bei diesen Bemerkungen haben wir auf die Künste, die nur im 3. Die so vorbereiteten und motivirten Theile des Ganzen dürfen
ſoſehr über dieſe Sprache der im mythiſchen Sinne vereinfachten Motivi- Bei dieſen Bemerkungen haben wir auf die Künſte, die nur im 3. Die ſo vorbereiteten und motivirten Theile des Ganzen dürfen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0054" n="42"/> ſoſehr über dieſe Sprache der im mythiſchen Sinne vereinfachten Motivi-<lb/> rung, indem es neben ihr die eigentliche, natürlich menſchliche, vorzüglich<lb/> im Drama entwickelt. Die Kunſtgattungen aber bringen neue Unterſchiede<lb/> mit ſich: es iſt klar, daß die Motivirung eine unendlich andere in den<lb/> ſtummen Künſten, als in den tönenden, und wieder eine andere in der Dicht-<lb/> kunſt, als in der Tonkunſt, ſein muß. In der Dichtkunſt iſt es der Unterſchied<lb/> des Epiſchen und Dramatiſchen, der einen tief dringenden Unterſchied der<lb/> Motivirung begründet; auf dieſen Unterſchied iſt hier noch nicht einzugehen,<lb/> aber ſoviel folgt unmittelbar aus unſern Sätzen, daß auch die verzweigtere,<lb/> breitere, dem Aeußern mehr Raum gönnende Motivirung des Epos doch<lb/> die Handlungen ihrer Charaktere ſchließlich aus Einem Motiv, in dem<lb/> ſich die vielen zuſammenfaſſen, ableiten muß. Als Beiſpiel einer über-<lb/> fruchteten Motivirung haben wir zu §. 495, <hi rendition="#sub">2.</hi> ſchon die dunkel verviel-<lb/> fachten Impulſe von Brunhildens Haß im Nibelungenliede angeführt,<lb/> ebenſo die Triebfedern von Jago’s Haß in Shakespeares Othello.<lb/> Uebrigens wird natürlich auch das Drama, namentlich das hiſtoriſche,<lb/> vom einfachen nächſten Motiv auf eine breitere Summe von Motiven<lb/> hinausweiſen. So liegt hinter dem oben erwähnten nächſten Motiv<lb/> Richards <hi rendition="#aq">III.</hi> die Wildheit der allgemeinen Zuſtände, deren Product<lb/> er iſt.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">Bei dieſen Bemerkungen haben wir auf die Künſte, die nur im<lb/> unbeſtimmteſten Sinn ein Vorbild in der Natur haben (Baukunſt und<lb/> Muſik), keine Rückſicht genommen. Bei ihnen kann die Frage gar nicht<lb/> entſtehen, wie ſich die künſtleriſche Motivirung zu der thatſächlichen<lb/> Motivirung des Gegenſtands in der Wirklichkeit zu verhalten habe. Das<lb/> Geſetz der Motivirung beſteht hier einfach für die künſtleriſchen Formen,<lb/> die nun aber ebenſo begründet erſcheinen ſollen, wie wenn ſie Nachbil-<lb/> dung menſchlicher Handlungen wären. Eine Laſt ohne Stütze, ein Glied,<lb/> das nicht aus einem andern hervorgeht, eine lebhafte Tonmaſſe, die aus<lb/> früheren Tongruppen nicht hervorwächst, iſt wie eine Handlung ohne<lb/> Beweggrund.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">3. Die ſo vorbereiteten und motivirten Theile des Ganzen dürfen<lb/> ſich nicht zu ſpröder Selbſtändigkeit verdichten, nicht vereinzeln. Wie<lb/> im Gemälde die Wirkung der vollen Farben durch Uebergangstöne und<lb/> Helldunkel, alle Härten der einzelnen Körper durch den die Umriſſe<lb/> mildernden Schleier der Luftperſpective zu vermitteln ſind, wie die<lb/> Plaſtik die Härte des Knochens, Muskels, der Sehne durch lebendige<lb/> Nachahmung des Weichen in der Fettbildung und Haut auflöſen und in<lb/> Fluß bringen muß, ſo hat alle Kunſt dafür zu ſorgen, daß das Einzelne,<lb/> wie es auseinander hervorgewachſen, ſo auch wieder ineinander hinüber-<lb/> wachſe. Bald wird dieſe Ausfüllung der Fugen mehr durch die Behand-<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [42/0054]
ſoſehr über dieſe Sprache der im mythiſchen Sinne vereinfachten Motivi-
rung, indem es neben ihr die eigentliche, natürlich menſchliche, vorzüglich
im Drama entwickelt. Die Kunſtgattungen aber bringen neue Unterſchiede
mit ſich: es iſt klar, daß die Motivirung eine unendlich andere in den
ſtummen Künſten, als in den tönenden, und wieder eine andere in der Dicht-
kunſt, als in der Tonkunſt, ſein muß. In der Dichtkunſt iſt es der Unterſchied
des Epiſchen und Dramatiſchen, der einen tief dringenden Unterſchied der
Motivirung begründet; auf dieſen Unterſchied iſt hier noch nicht einzugehen,
aber ſoviel folgt unmittelbar aus unſern Sätzen, daß auch die verzweigtere,
breitere, dem Aeußern mehr Raum gönnende Motivirung des Epos doch
die Handlungen ihrer Charaktere ſchließlich aus Einem Motiv, in dem
ſich die vielen zuſammenfaſſen, ableiten muß. Als Beiſpiel einer über-
fruchteten Motivirung haben wir zu §. 495, 2. ſchon die dunkel verviel-
fachten Impulſe von Brunhildens Haß im Nibelungenliede angeführt,
ebenſo die Triebfedern von Jago’s Haß in Shakespeares Othello.
Uebrigens wird natürlich auch das Drama, namentlich das hiſtoriſche,
vom einfachen nächſten Motiv auf eine breitere Summe von Motiven
hinausweiſen. So liegt hinter dem oben erwähnten nächſten Motiv
Richards III. die Wildheit der allgemeinen Zuſtände, deren Product
er iſt.
Bei dieſen Bemerkungen haben wir auf die Künſte, die nur im
unbeſtimmteſten Sinn ein Vorbild in der Natur haben (Baukunſt und
Muſik), keine Rückſicht genommen. Bei ihnen kann die Frage gar nicht
entſtehen, wie ſich die künſtleriſche Motivirung zu der thatſächlichen
Motivirung des Gegenſtands in der Wirklichkeit zu verhalten habe. Das
Geſetz der Motivirung beſteht hier einfach für die künſtleriſchen Formen,
die nun aber ebenſo begründet erſcheinen ſollen, wie wenn ſie Nachbil-
dung menſchlicher Handlungen wären. Eine Laſt ohne Stütze, ein Glied,
das nicht aus einem andern hervorgeht, eine lebhafte Tonmaſſe, die aus
früheren Tongruppen nicht hervorwächst, iſt wie eine Handlung ohne
Beweggrund.
3. Die ſo vorbereiteten und motivirten Theile des Ganzen dürfen
ſich nicht zu ſpröder Selbſtändigkeit verdichten, nicht vereinzeln. Wie
im Gemälde die Wirkung der vollen Farben durch Uebergangstöne und
Helldunkel, alle Härten der einzelnen Körper durch den die Umriſſe
mildernden Schleier der Luftperſpective zu vermitteln ſind, wie die
Plaſtik die Härte des Knochens, Muskels, der Sehne durch lebendige
Nachahmung des Weichen in der Fettbildung und Haut auflöſen und in
Fluß bringen muß, ſo hat alle Kunſt dafür zu ſorgen, daß das Einzelne,
wie es auseinander hervorgewachſen, ſo auch wieder ineinander hinüber-
wachſe. Bald wird dieſe Ausfüllung der Fugen mehr durch die Behand-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |