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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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unerklärte Compositionskünstler, so viel Stoff bietet. Er vorzüglich liebt
es, jeden wesentlichen Ton des Ganzen durch eine Verdopplung,
Verdreifachung in verschiedenen verwandten Tönen zu heben. In Romeo
und Julie ist Romeo durch den verschiedenen Charakter seiner Freunde
Benvolio und Mercutio in höheres Licht gestellt, zu Mercutio steht er allerdings
in dem schärferen Contraste des Gegensatzes, mit ihm zusammengefaßt aber
tritt er vielmehr gegen Tybalt in dieses Verhältniß, mit Mercutio in das
des milden Contrastes. Auf der andern Seite stehen Capulet und seine
Frau, Capulet und Tybalt im Contraste der Schattirung und des Tons.
Auf beiden Seiten treten sich die Amme und Lorenzo so gegenüber, daß
sie den vollen Contrast des Gegensatzes bilden würden, wenn sie nicht
durch die Rolle von Zwischenträgern und Vermittlern wieder verwandt
wären. In Richard III. ist dieser vollendete Bösewicht durch die, selbst
wieder in den verschiedensten Tönen sich unterscheidende, Unreinheit und
nur inconsequentere Bosheit der ganzen umgebenden Welt in sein volles
Licht gesetzt, in der Gleichheit verschieden ertönt Schmerz und Fluch der
klagenden Frauen u. s. w. Macbeth und Lady Macbeth sind zwei mit
der größten Tiefe auf gegenseitige Farbensteigerung innerhalb desselben
Charakters: phantasievoller Ehrgeiz, angelegte Naturen. Am belehrendsten
tritt dasselbe Kunstmittel hervor, wo Shakespeare zwei verschiedene Fabeln
verbindet, ohne daß dieß für die Darstellung der Grundidee der Handlung
absolut nothwendig gewesen wäre, eben um jenem Gesetze zu genügen.
So besonders im König Lear: der ähnliche Fall begiebt sich hier, damit
wir recht erkennen sollen, was das Wesen und die Folgen verkehrter
Vaterliebe und zerstörter Pietät seien, im Hause des Herzogs Gloster,
wie in dem Hause Lears. Weiter heben sich gegenseitig der wirkliche
Wahnsinn Lears, der verstellte Edgars und das absichtliche Faseln des
Narren. Auf der Seite des Hauses Lear ist der Kindes-Undank in doppelter,
absichtlich nur ganz wenig unterschiedener Form und ebenso in zwei ganz
symmetrisch angelegten Scenen entwickelt. Wie die Bösen (Lears Töchter,
ihre Gatten, der Haushofmeister, Edmund) Variationen des Einen Thema
sind, so die Guten: Edgar, Cordelia, Kent und der Narr. In so reicher
Theilung der Stimmen breitet sich bei diesem Dichter die Melodie aus.
Trotz der Relativität, welche diese Beziehungen so beherrscht, daß dasselbe
Verhältniß, das, nach der einen Seite betrachtet, voller Contrast ist, nach
der andern als milder erscheint und umgekehrt, ist nun von der bisher
beleuchteten Form der scharfe Contrast des Gegensatzes wohl zu unterscheiden.
Licht und Dunkel, lichtvolle und lichtarme Farbe geben das nächste Beispiel.
Man darf auch die Farben-Dissonanzen (§. 251) hieher ziehen, denn wenn
in dieser die eine Farbe auch die andre in sich enthält (wie in der
Zusammenstellung von Rothblau und Roth u. s. w), so ist dieß in der

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unerklärte Compoſitionskünſtler, ſo viel Stoff bietet. Er vorzüglich liebt
es, jeden weſentlichen Ton des Ganzen durch eine Verdopplung,
Verdreifachung in verſchiedenen verwandten Tönen zu heben. In Romeo
und Julie iſt Romeo durch den verſchiedenen Charakter ſeiner Freunde
Benvolio und Mercutio in höheres Licht geſtellt, zu Mercutio ſteht er allerdings
in dem ſchärferen Contraſte des Gegenſatzes, mit ihm zuſammengefaßt aber
tritt er vielmehr gegen Tybalt in dieſes Verhältniß, mit Mercutio in das
des milden Contraſtes. Auf der andern Seite ſtehen Capulet und ſeine
Frau, Capulet und Tybalt im Contraſte der Schattirung und des Tons.
Auf beiden Seiten treten ſich die Amme und Lorenzo ſo gegenüber, daß
ſie den vollen Contraſt des Gegenſatzes bilden würden, wenn ſie nicht
durch die Rolle von Zwiſchenträgern und Vermittlern wieder verwandt
wären. In Richard III. iſt dieſer vollendete Böſewicht durch die, ſelbſt
wieder in den verſchiedenſten Tönen ſich unterſcheidende, Unreinheit und
nur inconſequentere Bosheit der ganzen umgebenden Welt in ſein volles
Licht geſetzt, in der Gleichheit verſchieden ertönt Schmerz und Fluch der
klagenden Frauen u. ſ. w. Macbeth und Lady Macbeth ſind zwei mit
der größten Tiefe auf gegenſeitige Farbenſteigerung innerhalb deſſelben
Charakters: phantaſievoller Ehrgeiz, angelegte Naturen. Am belehrendſten
tritt daſſelbe Kunſtmittel hervor, wo Shakespeare zwei verſchiedene Fabeln
verbindet, ohne daß dieß für die Darſtellung der Grundidee der Handlung
abſolut nothwendig geweſen wäre, eben um jenem Geſetze zu genügen.
So beſonders im König Lear: der ähnliche Fall begiebt ſich hier, damit
wir recht erkennen ſollen, was das Weſen und die Folgen verkehrter
Vaterliebe und zerſtörter Pietät ſeien, im Hauſe des Herzogs Gloſter,
wie in dem Hauſe Lears. Weiter heben ſich gegenſeitig der wirkliche
Wahnſinn Lears, der verſtellte Edgars und das abſichtliche Faſeln des
Narren. Auf der Seite des Hauſes Lear iſt der Kindes-Undank in doppelter,
abſichtlich nur ganz wenig unterſchiedener Form und ebenſo in zwei ganz
ſymmetriſch angelegten Scenen entwickelt. Wie die Böſen (Lears Töchter,
ihre Gatten, der Haushofmeiſter, Edmund) Variationen des Einen Thema
ſind, ſo die Guten: Edgar, Cordelia, Kent und der Narr. In ſo reicher
Theilung der Stimmen breitet ſich bei dieſem Dichter die Melodie aus.
Trotz der Relativität, welche dieſe Beziehungen ſo beherrſcht, daß daſſelbe
Verhältniß, das, nach der einen Seite betrachtet, voller Contraſt iſt, nach
der andern als milder erſcheint und umgekehrt, iſt nun von der bisher
beleuchteten Form der ſcharfe Contraſt des Gegenſatzes wohl zu unterſcheiden.
Licht und Dunkel, lichtvolle und lichtarme Farbe geben das nächſte Beiſpiel.
Man darf auch die Farben-Diſſonanzen (§. 251) hieher ziehen, denn wenn
in dieſer die eine Farbe auch die andre in ſich enthält (wie in der
Zuſammenſtellung von Rothblau und Roth u. ſ. w), ſo iſt dieß in der

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[35/0047] unerklärte Compoſitionskünſtler, ſo viel Stoff bietet. Er vorzüglich liebt es, jeden weſentlichen Ton des Ganzen durch eine Verdopplung, Verdreifachung in verſchiedenen verwandten Tönen zu heben. In Romeo und Julie iſt Romeo durch den verſchiedenen Charakter ſeiner Freunde Benvolio und Mercutio in höheres Licht geſtellt, zu Mercutio ſteht er allerdings in dem ſchärferen Contraſte des Gegenſatzes, mit ihm zuſammengefaßt aber tritt er vielmehr gegen Tybalt in dieſes Verhältniß, mit Mercutio in das des milden Contraſtes. Auf der andern Seite ſtehen Capulet und ſeine Frau, Capulet und Tybalt im Contraſte der Schattirung und des Tons. Auf beiden Seiten treten ſich die Amme und Lorenzo ſo gegenüber, daß ſie den vollen Contraſt des Gegenſatzes bilden würden, wenn ſie nicht durch die Rolle von Zwiſchenträgern und Vermittlern wieder verwandt wären. In Richard III. iſt dieſer vollendete Böſewicht durch die, ſelbſt wieder in den verſchiedenſten Tönen ſich unterſcheidende, Unreinheit und nur inconſequentere Bosheit der ganzen umgebenden Welt in ſein volles Licht geſetzt, in der Gleichheit verſchieden ertönt Schmerz und Fluch der klagenden Frauen u. ſ. w. Macbeth und Lady Macbeth ſind zwei mit der größten Tiefe auf gegenſeitige Farbenſteigerung innerhalb deſſelben Charakters: phantaſievoller Ehrgeiz, angelegte Naturen. Am belehrendſten tritt daſſelbe Kunſtmittel hervor, wo Shakespeare zwei verſchiedene Fabeln verbindet, ohne daß dieß für die Darſtellung der Grundidee der Handlung abſolut nothwendig geweſen wäre, eben um jenem Geſetze zu genügen. So beſonders im König Lear: der ähnliche Fall begiebt ſich hier, damit wir recht erkennen ſollen, was das Weſen und die Folgen verkehrter Vaterliebe und zerſtörter Pietät ſeien, im Hauſe des Herzogs Gloſter, wie in dem Hauſe Lears. Weiter heben ſich gegenſeitig der wirkliche Wahnſinn Lears, der verſtellte Edgars und das abſichtliche Faſeln des Narren. Auf der Seite des Hauſes Lear iſt der Kindes-Undank in doppelter, abſichtlich nur ganz wenig unterſchiedener Form und ebenſo in zwei ganz ſymmetriſch angelegten Scenen entwickelt. Wie die Böſen (Lears Töchter, ihre Gatten, der Haushofmeiſter, Edmund) Variationen des Einen Thema ſind, ſo die Guten: Edgar, Cordelia, Kent und der Narr. In ſo reicher Theilung der Stimmen breitet ſich bei dieſem Dichter die Melodie aus. Trotz der Relativität, welche dieſe Beziehungen ſo beherrſcht, daß daſſelbe Verhältniß, das, nach der einen Seite betrachtet, voller Contraſt iſt, nach der andern als milder erſcheint und umgekehrt, iſt nun von der bisher beleuchteten Form der ſcharfe Contraſt des Gegenſatzes wohl zu unterſcheiden. Licht und Dunkel, lichtvolle und lichtarme Farbe geben das nächſte Beiſpiel. Man darf auch die Farben-Diſſonanzen (§. 251) hieher ziehen, denn wenn in dieſer die eine Farbe auch die andre in ſich enthält (wie in der Zuſammenſtellung von Rothblau und Roth u. ſ. w), ſo iſt dieß in der 3*

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/47>, abgerufen am 24.11.2024.