Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.
läßt sich sehr leicht auch auf Kunstwerke übertragen, die nur Eine Gestalt
läßt ſich ſehr leicht auch auf Kunſtwerke übertragen, die nur Eine Geſtalt <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0040" n="28"/> läßt ſich ſehr leicht auch auf Kunſtwerke übertragen, die nur Eine Geſtalt<lb/> darſtellen. Die einzelnen Glieder einer Figur ſind in ihrer Stärke, in<lb/> dem Grad ihrer ſich vordrängenden oder zurücktretenden Thätigkeit dem<lb/> Charakter des Ganzen untergeordnet; dazu gehört auch die Gewandung,<lb/> ſie iſt minder weſentlich, aber weit mehr, als bloßes ſogenanntes Beiwerk.<lb/> In der Architectur ſind Seitenflügel, Oeffnungen, Glieder des Gebäudes<lb/> ſolche untergeordnete Momente des Ganzen; was hier die Stelle des<lb/> Beiwerks vertrete, davon unter <hi rendition="#sub">2.</hi> In der Muſik kann kein Zweifel über<lb/> den Sinn des Unterſchieds zwiſchen Herrſchendem, Untergeordnetem u. ſ. w.<lb/> entſtehen, ebenſowenig in irgend einer Gattung der Poeſie. In der<lb/> Ausführung der Skizze wird nun der Künſtler immer finden, daß im<lb/> innern Bilde das rechte Werthverhältniß zwiſchen den Theilen, richtiger<lb/> Gliedern des Ganzen noch nicht beſteht. Der §. unterſcheidet Ueberordnung,<lb/> Nebenordnung, Unterordnung. Hier kann nur darüber ein Zweifel<lb/> entſtehen, was unter Nebenordnung verſtanden ſey. Der abſolute<lb/> Mittelpunct des Ganzen duldet natürlich nichts Nebengeordnetes, ſondern<lb/> nur Untergeordnetes, er ſoll herrſchen. Wenn auch zwei Helden kämpfend<lb/> ſich gegenüberſtehen, oder neben einer Haupthandlung eine zweite verwandte<lb/> hinläuft, ſo darf dort der zweite Held, hier die zweite Handlung doch<lb/> nur der Exponent für die Größe des Haupthelden, der Haupthandlung<lb/> ſein. So in Shakespeares Macbeth iſt dieſer nicht, ſeine Gemahlinn, die<lb/> Hauptfigur, im Antonius dieſer, nicht Octavian, im König Lear wiederholt<lb/> ſich die tragiſche Störung der Familie Lears im Hauſe Gloſters, aber<lb/> dieſe verſtärkt nur jene, verdrängt ſie nicht aus dem Vordergrund. Allein<lb/> innerhalb des Untergeordneten ſteht Einiges auf gleicher Höhe, gleicher<lb/> äſthetiſcher Rangſtufe, iſt ſich alſo nebengeordnet. So ſtehen ſich in<lb/> der Gruppe des Laokoon die beiden Knaben, dem Vater untergeordnet,<lb/> ungefähr in gleichem Gewichte der Bedeutung, wiewohl unter ſich wieder<lb/> verſchieden, gegenüber. So treten im König Lear Edgar und Cordelie<lb/> einander gegenüber als verwandte Lichtpuncte in einer verdorbenen<lb/> Welt. Es können auch Gegenſätze ſein: ſo erſcheinen Kent und Oswald,<lb/> der treue und der ſchurkiſche Diener, einander gegenüber geſtellt, ihr<lb/> Gegenſatz gibt ihnen dieſelbe Nichthöhe, die ſich in einem Gemälde, einem<lb/> plaſtiſchen Werk auch räumlich ausdrücken würde. In der Baukunſt ſind<lb/> dieſe Verhältniße am klarſten und treten unmittelbar ins Auge, wenn<lb/> Theile, die zu zweien oder mehreren ſymmetriſch ſich gegenüberſtehen ſollen,<lb/> wie Flügel, Fenſter, Portale u. ſ. w. verkehrter Weiſe nicht in dieſer<lb/> Ordnung geſtellt ſind. In der einzelnen menſchlichen Figur iſt dieß<lb/> Gegenüber durch den Bau des Körpers gegeben: das Haupt emporragend,<lb/> tiefer auf gleicher Höhe Schultern, Arme u. ſ. f. Wir reden übrigens<lb/> noch nicht ſpeziell vom räumlichen Compoſitionsgeſetz, darum wäre eine<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [28/0040]
läßt ſich ſehr leicht auch auf Kunſtwerke übertragen, die nur Eine Geſtalt
darſtellen. Die einzelnen Glieder einer Figur ſind in ihrer Stärke, in
dem Grad ihrer ſich vordrängenden oder zurücktretenden Thätigkeit dem
Charakter des Ganzen untergeordnet; dazu gehört auch die Gewandung,
ſie iſt minder weſentlich, aber weit mehr, als bloßes ſogenanntes Beiwerk.
In der Architectur ſind Seitenflügel, Oeffnungen, Glieder des Gebäudes
ſolche untergeordnete Momente des Ganzen; was hier die Stelle des
Beiwerks vertrete, davon unter 2. In der Muſik kann kein Zweifel über
den Sinn des Unterſchieds zwiſchen Herrſchendem, Untergeordnetem u. ſ. w.
entſtehen, ebenſowenig in irgend einer Gattung der Poeſie. In der
Ausführung der Skizze wird nun der Künſtler immer finden, daß im
innern Bilde das rechte Werthverhältniß zwiſchen den Theilen, richtiger
Gliedern des Ganzen noch nicht beſteht. Der §. unterſcheidet Ueberordnung,
Nebenordnung, Unterordnung. Hier kann nur darüber ein Zweifel
entſtehen, was unter Nebenordnung verſtanden ſey. Der abſolute
Mittelpunct des Ganzen duldet natürlich nichts Nebengeordnetes, ſondern
nur Untergeordnetes, er ſoll herrſchen. Wenn auch zwei Helden kämpfend
ſich gegenüberſtehen, oder neben einer Haupthandlung eine zweite verwandte
hinläuft, ſo darf dort der zweite Held, hier die zweite Handlung doch
nur der Exponent für die Größe des Haupthelden, der Haupthandlung
ſein. So in Shakespeares Macbeth iſt dieſer nicht, ſeine Gemahlinn, die
Hauptfigur, im Antonius dieſer, nicht Octavian, im König Lear wiederholt
ſich die tragiſche Störung der Familie Lears im Hauſe Gloſters, aber
dieſe verſtärkt nur jene, verdrängt ſie nicht aus dem Vordergrund. Allein
innerhalb des Untergeordneten ſteht Einiges auf gleicher Höhe, gleicher
äſthetiſcher Rangſtufe, iſt ſich alſo nebengeordnet. So ſtehen ſich in
der Gruppe des Laokoon die beiden Knaben, dem Vater untergeordnet,
ungefähr in gleichem Gewichte der Bedeutung, wiewohl unter ſich wieder
verſchieden, gegenüber. So treten im König Lear Edgar und Cordelie
einander gegenüber als verwandte Lichtpuncte in einer verdorbenen
Welt. Es können auch Gegenſätze ſein: ſo erſcheinen Kent und Oswald,
der treue und der ſchurkiſche Diener, einander gegenüber geſtellt, ihr
Gegenſatz gibt ihnen dieſelbe Nichthöhe, die ſich in einem Gemälde, einem
plaſtiſchen Werk auch räumlich ausdrücken würde. In der Baukunſt ſind
dieſe Verhältniße am klarſten und treten unmittelbar ins Auge, wenn
Theile, die zu zweien oder mehreren ſymmetriſch ſich gegenüberſtehen ſollen,
wie Flügel, Fenſter, Portale u. ſ. w. verkehrter Weiſe nicht in dieſer
Ordnung geſtellt ſind. In der einzelnen menſchlichen Figur iſt dieß
Gegenüber durch den Bau des Körpers gegeben: das Haupt emporragend,
tiefer auf gleicher Höhe Schultern, Arme u. ſ. f. Wir reden übrigens
noch nicht ſpeziell vom räumlichen Compoſitionsgeſetz, darum wäre eine
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