Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.
geheftet, dem es gleichsam übergezogen, aufgelegt wird, damit er es
geheftet, dem es gleichſam übergezogen, aufgelegt wird, damit er es <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0021" n="9"/> geheftet, dem es gleichſam übergezogen, aufgelegt wird, damit er es<lb/> weiter gebe, weiter ſchicke. Stoff hat hier die dritte der zu §. 55 Anm. <hi rendition="#sub">2</hi><lb/> unterſchiedenen Bedeutungen und wir werden, um die Verwechslung mit<lb/> der erſten und zweiten zu verhüten, gewöhnlich den Ausdruck „Material“<lb/> vorziehen. Es verſteht ſich nun, daß das Material nicht abſolut roher<lb/> Stoff ſein kann, denn ſolcher oder reine Materie exiſtirt ja überhaupt<lb/> nicht, ſelbſt im Naturleben verwendet jedes Weſen zu ſeiner Erhaltung<lb/> Stoffe, die vorher ſchon irgendwie geformt waren. Der Stoff muß aber für<lb/> den Zweck der darſtellenden Phantaſie roh ſein in dem Sinne, daß die<lb/> Form, die er vorher hatte, mit der Form, die jene ihm aufdrückt, nichts<lb/> zu ſchaffen hat. „Todt“ bedeutet entweder unorganiſche Maſſe, wie<lb/> Stein, Metall, Farbſtoffe, oder organiſche, aber abgeſtorbene, wie Holz,<lb/> Leinwand, Saiten. Alle Künſte bedürfen ein Material. Von der Poeſie<lb/> wird ſeines Orts gezeigt werden, daß ihr eigentliches Material die<lb/> Phantaſie der Zuhörer iſt: ebenfalls relativ todter und roher Stoff in<lb/> einem dann zu entwickelnden Sinne; die Sprache iſt nur das Werkzeug,<lb/> womit in dieſem Material gearbeitet wird. Roh und todt in dieſem<lb/> Sinne muß nun der Stoff, der als Material dient, aus folgenden Gründen<lb/> ſeyn. Der Stoff, der eine eigene, noch lebendige Form mitbringt zur<lb/> künſtleriſchen Bearbeitung, läßt ſich die Selbſtändigkeit des Lebens, vermöge<lb/> deren er einmal ſeinen eigenen, anderweitig entſtandenen und befeſtigten<lb/> Ausdruck hat, nicht nehmen. Man kann mit wirklichen Bäumen, Bergen,<lb/> Waſſern keine Landſchaft malen, denn ſie folgen ihren Geſetzen und nicht<lb/> dem Geiſte des Malers. Wird vollends beides verbunden, Schein und<lb/> Wirklichkeit, wie in Tableau-Uhren, ſo kommt etwas zu Stande, was nur<lb/> Kindern nicht widerlich iſt. Lebendige Thiere auf dem Theater können<lb/> ihre eindreſſirte Rolle ganz ohne ſtörende Improviſation durchführen und<lb/> doch zeigt jede Bewegung, daß hier eine ſelbſtändige Natur vor uns<lb/> handelt, welche in das Ganze der Darſtellung als ein völlig Fremdes<lb/> hereingeworfen iſt, und ſchon die beſtändige Furcht, ſie möchten aus der<lb/> Rolle fallen, genügt, die ganze Stimmung jedes Zuſchauers, der einen<lb/> Begriff vom Schönen hat, zu zerreißen. Begeiſteter Stoff nun, d. h.<lb/> menſchliche Perſönlichkeit vermag allerdings durch den Willen die eigene<lb/> Geſtalt, Bewegung, Stimme bis auf einen gewiſſen Grad zum reinen<lb/> Stoff herabzuſetzen und ihnen den Ausdruck aufzulegen, den ein darzu-<lb/> ſtellendes äſthetiſches Ganzes verlangt; aber auch nur bis auf einen<lb/> gewiſſen Grad: denn die Erſcheinung drückt den Charakter dieſer Perſönlichkeit<lb/> in feſten Formen, angebornen und angewöhnten Bewegungen aus, welche<lb/> ſich niemals ganz in den beabſichtigten Ausdruck eines Phantaſiebilds<lb/> fügen, das ſie momentan darſtellen ſollen. Die Ueberwindung dieſer<lb/> Fremdheit iſt natürlich eine tiefere in bewegter und redender Darſtellung,<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [9/0021]
geheftet, dem es gleichſam übergezogen, aufgelegt wird, damit er es
weiter gebe, weiter ſchicke. Stoff hat hier die dritte der zu §. 55 Anm. 2
unterſchiedenen Bedeutungen und wir werden, um die Verwechslung mit
der erſten und zweiten zu verhüten, gewöhnlich den Ausdruck „Material“
vorziehen. Es verſteht ſich nun, daß das Material nicht abſolut roher
Stoff ſein kann, denn ſolcher oder reine Materie exiſtirt ja überhaupt
nicht, ſelbſt im Naturleben verwendet jedes Weſen zu ſeiner Erhaltung
Stoffe, die vorher ſchon irgendwie geformt waren. Der Stoff muß aber für
den Zweck der darſtellenden Phantaſie roh ſein in dem Sinne, daß die
Form, die er vorher hatte, mit der Form, die jene ihm aufdrückt, nichts
zu ſchaffen hat. „Todt“ bedeutet entweder unorganiſche Maſſe, wie
Stein, Metall, Farbſtoffe, oder organiſche, aber abgeſtorbene, wie Holz,
Leinwand, Saiten. Alle Künſte bedürfen ein Material. Von der Poeſie
wird ſeines Orts gezeigt werden, daß ihr eigentliches Material die
Phantaſie der Zuhörer iſt: ebenfalls relativ todter und roher Stoff in
einem dann zu entwickelnden Sinne; die Sprache iſt nur das Werkzeug,
womit in dieſem Material gearbeitet wird. Roh und todt in dieſem
Sinne muß nun der Stoff, der als Material dient, aus folgenden Gründen
ſeyn. Der Stoff, der eine eigene, noch lebendige Form mitbringt zur
künſtleriſchen Bearbeitung, läßt ſich die Selbſtändigkeit des Lebens, vermöge
deren er einmal ſeinen eigenen, anderweitig entſtandenen und befeſtigten
Ausdruck hat, nicht nehmen. Man kann mit wirklichen Bäumen, Bergen,
Waſſern keine Landſchaft malen, denn ſie folgen ihren Geſetzen und nicht
dem Geiſte des Malers. Wird vollends beides verbunden, Schein und
Wirklichkeit, wie in Tableau-Uhren, ſo kommt etwas zu Stande, was nur
Kindern nicht widerlich iſt. Lebendige Thiere auf dem Theater können
ihre eindreſſirte Rolle ganz ohne ſtörende Improviſation durchführen und
doch zeigt jede Bewegung, daß hier eine ſelbſtändige Natur vor uns
handelt, welche in das Ganze der Darſtellung als ein völlig Fremdes
hereingeworfen iſt, und ſchon die beſtändige Furcht, ſie möchten aus der
Rolle fallen, genügt, die ganze Stimmung jedes Zuſchauers, der einen
Begriff vom Schönen hat, zu zerreißen. Begeiſteter Stoff nun, d. h.
menſchliche Perſönlichkeit vermag allerdings durch den Willen die eigene
Geſtalt, Bewegung, Stimme bis auf einen gewiſſen Grad zum reinen
Stoff herabzuſetzen und ihnen den Ausdruck aufzulegen, den ein darzu-
ſtellendes äſthetiſches Ganzes verlangt; aber auch nur bis auf einen
gewiſſen Grad: denn die Erſcheinung drückt den Charakter dieſer Perſönlichkeit
in feſten Formen, angebornen und angewöhnten Bewegungen aus, welche
ſich niemals ganz in den beabſichtigten Ausdruck eines Phantaſiebilds
fügen, das ſie momentan darſtellen ſollen. Die Ueberwindung dieſer
Fremdheit iſt natürlich eine tiefere in bewegter und redender Darſtellung,
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |