Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.
Durchlaufen der Stufen durch das Individuum. Die Phantasie ist ja 2. Da die Kunst ein geistiges, freies Thun ist, warum ergreift sie Vischer's Aesthetik. 3. Band. 10
Durchlaufen der Stufen durch das Individuum. Die Phantaſie iſt ja 2. Da die Kunſt ein geiſtiges, freies Thun iſt, warum ergreift ſie Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 10
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Durchlaufen der Stufen durch das Individuum. Die Phantaſie iſt ja
ein Großes und Allgemeines, wie die Natur, welche die Stufen ihres
Lebens als ſelbſtändig bleibende hinſtellt, wiewohl die höhere die tiefere
widerlegt; ſie führt Ein Individuum ſo wenig durch alle Formen, als
dieſe den einzelnen Vogel zum Säugethier fortbildet. Die Stufen in der
Natur dauern als geſchloßene Reiche, Gattungen, Arten nebeneinander,
jede Stufe iſt zugleich die ganze Natur; ſo iſt jede Kunſt implicite die
ganze Kunſt. Es liegen zwei Beziehungen vor: jede Kunſt als eine
Welt für ſich und jede Kunſt verglichen mit der ganzen explicite gedachten
Aufgabe der Kunſt; die zweite Beziehung bringt den Mangel der einzel-
nen Kunſt zu Tage und führt den Standpunct des Werthverhält-
niſſes in Vergleichung mit den andern Künſten herein. Beide Beziehungen
haben ihre Wahrheit und Geltung; wir werden übrigens die zweite in
eine beſtimmtere Anſchauung ſich aufheben ſehen. Im Großen aber ſtellt
ſich das Stufenverhältniß allerdings bis zu einer gewiſſen Grenze wirklich
als eine hiſtoriſche Aufeinanderfolge dar; welches dieſe Grenze ſei, muß
ſich zeigen. Zunächſt fragt ſich noch, ob nicht der Gang von oben nach
unten dem von unten nach oben vorzuziehen ſei, wie z. B. Solger ge-
than hat, der mit der Poeſie anfängt. Auf den erſten Blick ſcheint es,
als ob zwiſchen beiden Wegen die Wahl unbeſtimmbar frei ſtehen müſſe:
es kann, könnte man ſagen, als gleichgültig betrachtet werden, ob ich
von der Poeſie als der adäquateſten Erſcheinung der Kunſt ausgehe und
abſteigend die andern Künſte als die projicirte, in Momente aufgelöste
Dichtkunſt (wie Oken das organiſche Reich als den projicirten Menſchen)
abwickle, oder aufſteigend in der Poeſie die disjecta membra ſammle.
Für die Wahl des erſteren Wegs könnte nun ein Grund in der Geſchichte
gefunden werden, denn die Poeſie (und Muſik) iſt allen andern Künſten
vorangegangen; allein damit iſt (um die Frage nach dem empiriſchen
Beweiſe für die logiſch abſteigende Reihenfolge der übrigen Künſte zu
übergehen) nicht bewieſen, daß die Dichtkunſt in der Zeit, wo ſie den
andern Künſten vorauseilte, der adäquateſte Ausdruck des Kunſtlebens
geweſen ſei, im Gegentheile läßt ſich leicht zeigen, daß ſie die ächt moderne
Kunſt iſt, welche alle andern überleben wird, alſo hiſtoriſch die letzte.
Dieſer Satz iſt freilich nicht mehr bloß empiriſch, ſondern enthält bereits
einen Schluß aus dem Weſen, und aus dieſem muß überhaupt der Ent-
ſcheidungsgrund fließen. Er ergibt ſich mit der folgenden Anmerkung.
2. Da die Kunſt ein geiſtiges, freies Thun iſt, warum ergreift ſie
nicht ſogleich und allein das vollkommenſte Darſtellungsmittel? Warum
bindet ſie ſich an das engere? Deßwegen, weil das Erſcheinungsleben des
Naturſchönen für ſeine einzelnen Momente eine beſondere und ſelbſtändige
Ausbildung fordert, damit Alles erſchöpft werde, was in ihm liegt. Die
Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 10
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