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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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umbrischen Innigkeit und Grazie (Raphacl) und der feurigen florentini-
schen Bewegtheit, Kraftfülle (M. Angelo); so in Deutschland der des
offenen fränkischen Weltsinns (Göthe), des innerlichen gedankenvollen
schwäbischen Pathos (Schiller).

2. Nachdem sich uns der Stylbegriff von seiner erst individuellen
Bedeutung zu einer allgemeineren provinziellen und nationalen erweitert
hat, müssen wir von dem Zustande der Reife und relativen Vollkommen-
heit, der uns zu dieser Erweiterung geführt hat, zurückblicken auf frühere
Stufen der Unreife und die auf ihnen hervortretenden Styl-Unterschiede.
Es fragt sich nämlich, ob nach oder Angesichts der höchsten Styl-Ent-
wicklung diese frühern Stufen nicht als blos subjectiv, als bloße Manier
erscheinen? Keineswegs, denn auch die ihnen angehörigen Formen des
Styls zeigen sich nun als getragen von dem Boden einer engeren oder
weiteren Allgemeinheit. Was an ihnen schwerfällig, hart, eckig, steif,
schüchtern erscheint, ist Ausdruck des Geistes eines Stammes, Volks auf
dieser Stufe; Cimabue, Giotto, Fiesole, Masaccio, Ghirlandajo,
P. Perugino, Fr. Francia, Mantegna, G. Bellini sind nicht Ma-
nieristen, sondern Stylisten, ein Volk ist hinter ihnen, ihre M[ - 1 Zeichen fehlt]in-
gel sind nicht subjective Verhärtung, ihre Art hat trotz ihrer Enge
substantiellen Charakter, das Objective, die Großheit des Styls. Die
deutsche Malerei ist auch am Schlusse des Mittelalters nicht aus den
eckigen, harten, hageren Formen herausgekommen, der Durchbruch der
fließenden Zeichnung war dem späten achtzehnten Jahrhundert vorbehal-
ten, und doch sind jene Formen von einer gravitas durchdrungen, welche
ihnen den Namen des Styls im vollen Sinne sichert. Es ist ein Aus-
druck der Nothwendigkeit in diesen zur habituellen technischen Haltung
gewordenen Auffassungsweisen, der alles blos Subjective ausschließt.
Dazwischen legen sich allerdings auch einzelne Erscheinungen, die mehr
als bloße Manier zu fassen sind, wie z. B. die Kunstweise eines Fra
Filippo Lippi. Eigentlich aber tritt die Manier erst mit dem Momente ein,
wo der beginnende Verfall die Subjectivität entbindet. Allein in der
nun gewonnenen historischen Anschauung erhält selbst die Manier die
Basis einer objectiveren Bedeutung, denn daß die Subjectivität mit ihrer
Eitelkeit sich entfesselt, ist eben auch der Ausdruck eines historischen
Zustands. Insofern spricht man nicht mit Unrecht von einem Style des
Bernini, denn seine eitle, renommistische, knochenlose Manier ist eben das
Spiegelbild einer Zeitstimmung, in technischer Gewöhnung niedergelegt;
alles, was man unter Rokoko begreift, ist eigentlich ganz Manier, heißt
aber als ein verbreitetes Zeitgemäßes doch Styl; die sentimentale Manier,
wie sie seit Klopstock eingedrungen und in Werthers Leiden, dann in
J. Paul ihren höchsten Ausdruck gefunden, kann man aus demselben

umbriſchen Innigkeit und Grazie (Raphacl) und der feurigen florentini-
ſchen Bewegtheit, Kraftfülle (M. Angelo); ſo in Deutſchland der des
offenen fränkiſchen Weltſinns (Göthe), des innerlichen gedankenvollen
ſchwäbiſchen Pathos (Schiller).

2. Nachdem ſich uns der Stylbegriff von ſeiner erſt individuellen
Bedeutung zu einer allgemeineren provinziellen und nationalen erweitert
hat, müſſen wir von dem Zuſtande der Reife und relativen Vollkommen-
heit, der uns zu dieſer Erweiterung geführt hat, zurückblicken auf frühere
Stufen der Unreife und die auf ihnen hervortretenden Styl-Unterſchiede.
Es fragt ſich nämlich, ob nach oder Angeſichts der höchſten Styl-Ent-
wicklung dieſe frühern Stufen nicht als blos ſubjectiv, als bloße Manier
erſcheinen? Keineswegs, denn auch die ihnen angehörigen Formen des
Styls zeigen ſich nun als getragen von dem Boden einer engeren oder
weiteren Allgemeinheit. Was an ihnen ſchwerfällig, hart, eckig, ſteif,
ſchüchtern erſcheint, iſt Ausdruck des Geiſtes eines Stammes, Volks auf
dieſer Stufe; Cimabue, Giotto, Fieſole, Maſaccio, Ghirlandajo,
P. Perugino, Fr. Francia, Mantegna, G. Bellini ſind nicht Ma-
nieriſten, ſondern Styliſten, ein Volk iſt hinter ihnen, ihre M[ – 1 Zeichen fehlt]in-
gel ſind nicht ſubjective Verhärtung, ihre Art hat trotz ihrer Enge
ſubſtantiellen Charakter, das Objective, die Großheit des Styls. Die
deutſche Malerei iſt auch am Schluſſe des Mittelalters nicht aus den
eckigen, harten, hageren Formen herausgekommen, der Durchbruch der
fließenden Zeichnung war dem ſpäten achtzehnten Jahrhundert vorbehal-
ten, und doch ſind jene Formen von einer gravitas durchdrungen, welche
ihnen den Namen des Styls im vollen Sinne ſichert. Es iſt ein Aus-
druck der Nothwendigkeit in dieſen zur habituellen techniſchen Haltung
gewordenen Auffaſſungsweiſen, der alles blos Subjective ausſchließt.
Dazwiſchen legen ſich allerdings auch einzelne Erſcheinungen, die mehr
als bloße Manier zu faſſen ſind, wie z. B. die Kunſtweiſe eines Fra
Filippo Lippi. Eigentlich aber tritt die Manier erſt mit dem Momente ein,
wo der beginnende Verfall die Subjectivität entbindet. Allein in der
nun gewonnenen hiſtoriſchen Anſchauung erhält ſelbſt die Manier die
Baſis einer objectiveren Bedeutung, denn daß die Subjectivität mit ihrer
Eitelkeit ſich entfeſſelt, iſt eben auch der Ausdruck eines hiſtoriſchen
Zuſtands. Inſofern ſpricht man nicht mit Unrecht von einem Style des
Bernini, denn ſeine eitle, renommiſtiſche, knochenloſe Manier iſt eben das
Spiegelbild einer Zeitſtimmung, in techniſcher Gewöhnung niedergelegt;
alles, was man unter Rokoko begreift, iſt eigentlich ganz Manier, heißt
aber als ein verbreitetes Zeitgemäßes doch Styl; die ſentimentale Manier,
wie ſie ſeit Klopſtock eingedrungen und in Werthers Leiden, dann in
J. Paul ihren höchſten Ausdruck gefunden, kann man aus demſelben

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[132/0144] umbriſchen Innigkeit und Grazie (Raphacl) und der feurigen florentini- ſchen Bewegtheit, Kraftfülle (M. Angelo); ſo in Deutſchland der des offenen fränkiſchen Weltſinns (Göthe), des innerlichen gedankenvollen ſchwäbiſchen Pathos (Schiller). 2. Nachdem ſich uns der Stylbegriff von ſeiner erſt individuellen Bedeutung zu einer allgemeineren provinziellen und nationalen erweitert hat, müſſen wir von dem Zuſtande der Reife und relativen Vollkommen- heit, der uns zu dieſer Erweiterung geführt hat, zurückblicken auf frühere Stufen der Unreife und die auf ihnen hervortretenden Styl-Unterſchiede. Es fragt ſich nämlich, ob nach oder Angeſichts der höchſten Styl-Ent- wicklung dieſe frühern Stufen nicht als blos ſubjectiv, als bloße Manier erſcheinen? Keineswegs, denn auch die ihnen angehörigen Formen des Styls zeigen ſich nun als getragen von dem Boden einer engeren oder weiteren Allgemeinheit. Was an ihnen ſchwerfällig, hart, eckig, ſteif, ſchüchtern erſcheint, iſt Ausdruck des Geiſtes eines Stammes, Volks auf dieſer Stufe; Cimabue, Giotto, Fieſole, Maſaccio, Ghirlandajo, P. Perugino, Fr. Francia, Mantegna, G. Bellini ſind nicht Ma- nieriſten, ſondern Styliſten, ein Volk iſt hinter ihnen, ihre M_in- gel ſind nicht ſubjective Verhärtung, ihre Art hat trotz ihrer Enge ſubſtantiellen Charakter, das Objective, die Großheit des Styls. Die deutſche Malerei iſt auch am Schluſſe des Mittelalters nicht aus den eckigen, harten, hageren Formen herausgekommen, der Durchbruch der fließenden Zeichnung war dem ſpäten achtzehnten Jahrhundert vorbehal- ten, und doch ſind jene Formen von einer gravitas durchdrungen, welche ihnen den Namen des Styls im vollen Sinne ſichert. Es iſt ein Aus- druck der Nothwendigkeit in dieſen zur habituellen techniſchen Haltung gewordenen Auffaſſungsweiſen, der alles blos Subjective ausſchließt. Dazwiſchen legen ſich allerdings auch einzelne Erſcheinungen, die mehr als bloße Manier zu faſſen ſind, wie z. B. die Kunſtweiſe eines Fra Filippo Lippi. Eigentlich aber tritt die Manier erſt mit dem Momente ein, wo der beginnende Verfall die Subjectivität entbindet. Allein in der nun gewonnenen hiſtoriſchen Anſchauung erhält ſelbſt die Manier die Baſis einer objectiveren Bedeutung, denn daß die Subjectivität mit ihrer Eitelkeit ſich entfeſſelt, iſt eben auch der Ausdruck eines hiſtoriſchen Zuſtands. Inſofern ſpricht man nicht mit Unrecht von einem Style des Bernini, denn ſeine eitle, renommiſtiſche, knochenloſe Manier iſt eben das Spiegelbild einer Zeitſtimmung, in techniſcher Gewöhnung niedergelegt; alles, was man unter Rokoko begreift, iſt eigentlich ganz Manier, heißt aber als ein verbreitetes Zeitgemäßes doch Styl; die ſentimentale Manier, wie ſie ſeit Klopſtock eingedrungen und in Werthers Leiden, dann in J. Paul ihren höchſten Ausdruck gefunden, kann man aus demſelben

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/144>, abgerufen am 25.11.2024.