Die allgemeine Thätigkeit der Kunst bewegt sich von ihrem Anfang zu ihrem Abschluß durch eine Reihe inhaltsvoller Momente, deren Begriff dem Uebergang in die Besonderung zu concreten Kunstformen wesentlich voraus- gesetzt ist.
Das Wesen der Kunst überhaupt ist bisher in der Wissenschaft der Aesthetik ebenso wie die Lehre von der Phantasie viel zu kurz und flüchtig behandelt worden. Es liegt hier ein Punct des Systems vor uns, der seine eigene Welt hat, in welcher alle jene Begriffe auftreten, die man in jeder Kunstbeurtheilung als geläufige Schlüßel handhabt, ohne sich strenge Rechenschaft über ihre Bedeutung zu geben: eine Unterlassung, die aber eben eine Hauptquelle der Verwirrung im Kunsturtheil ist. Wir nennen beispielsweise statt alles Andern nur den Begriff der Composition und der schwierigen Fragen (wie z. E. die des Contrasts), die er in sich schließt. Am meisten hat sich Thiersch (Allgem. Aesthetik in akademischen Lehr- vorträgen. 1846) mit diesen allgemeinen Kunstbegriffen, jedoch in zu ver- zettelter Weise, beschäftigt. Wie aber im Kunsturtheil, so läßt sich auch in der wissenschaftlichen Darstellung der Künste nicht ein einziger sicherer Schritt gehen, wenn jene Begriffe nicht vorher in ihrer Allgemeinheit entwickelt sind. Wie schwierig ist z. B. der Begriff des Styls, wie viel- fach spaltet er sich, und wie kann man über den Styl der einzelnen Künste etwas Klares sagen, wenn man sich nicht vorher am rechten Orte Rechenschaft über seine Grundbedeutung abgelegt hat!
A. Die Kunſt überhaupt.
§. 486.
Die allgemeine Thätigkeit der Kunſt bewegt ſich von ihrem Anfang zu ihrem Abſchluß durch eine Reihe inhaltsvoller Momente, deren Begriff dem Uebergang in die Beſonderung zu concreten Kunſtformen weſentlich voraus- geſetzt iſt.
Das Weſen der Kunſt überhaupt iſt bisher in der Wiſſenſchaft der Aeſthetik ebenſo wie die Lehre von der Phantaſie viel zu kurz und flüchtig behandelt worden. Es liegt hier ein Punct des Syſtems vor uns, der ſeine eigene Welt hat, in welcher alle jene Begriffe auftreten, die man in jeder Kunſtbeurtheilung als geläufige Schlüßel handhabt, ohne ſich ſtrenge Rechenſchaft über ihre Bedeutung zu geben: eine Unterlaſſung, die aber eben eine Hauptquelle der Verwirrung im Kunſturtheil iſt. Wir nennen beiſpielsweiſe ſtatt alles Andern nur den Begriff der Compoſition und der ſchwierigen Fragen (wie z. E. die des Contraſts), die er in ſich ſchließt. Am meiſten hat ſich Thierſch (Allgem. Aeſthetik in akademiſchen Lehr- vorträgen. 1846) mit dieſen allgemeinen Kunſtbegriffen, jedoch in zu ver- zettelter Weiſe, beſchäftigt. Wie aber im Kunſturtheil, ſo läßt ſich auch in der wiſſenſchaftlichen Darſtellung der Künſte nicht ein einziger ſicherer Schritt gehen, wenn jene Begriffe nicht vorher in ihrer Allgemeinheit entwickelt ſind. Wie ſchwierig iſt z. B. der Begriff des Styls, wie viel- fach ſpaltet er ſich, und wie kann man über den Styl der einzelnen Künſte etwas Klares ſagen, wenn man ſich nicht vorher am rechten Orte Rechenſchaft über ſeine Grundbedeutung abgelegt hat!
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[[2]/0014]
A.
Die Kunſt überhaupt.
§. 486.
Die allgemeine Thätigkeit der Kunſt bewegt ſich von ihrem Anfang zu
ihrem Abſchluß durch eine Reihe inhaltsvoller Momente, deren Begriff dem
Uebergang in die Beſonderung zu concreten Kunſtformen weſentlich voraus-
geſetzt iſt.
Das Weſen der Kunſt überhaupt iſt bisher in der Wiſſenſchaft der
Aeſthetik ebenſo wie die Lehre von der Phantaſie viel zu kurz und flüchtig
behandelt worden. Es liegt hier ein Punct des Syſtems vor uns, der
ſeine eigene Welt hat, in welcher alle jene Begriffe auftreten, die man
in jeder Kunſtbeurtheilung als geläufige Schlüßel handhabt, ohne ſich
ſtrenge Rechenſchaft über ihre Bedeutung zu geben: eine Unterlaſſung,
die aber eben eine Hauptquelle der Verwirrung im Kunſturtheil iſt. Wir
nennen beiſpielsweiſe ſtatt alles Andern nur den Begriff der Compoſition
und der ſchwierigen Fragen (wie z. E. die des Contraſts), die er in ſich ſchließt.
Am meiſten hat ſich Thierſch (Allgem. Aeſthetik in akademiſchen Lehr-
vorträgen. 1846) mit dieſen allgemeinen Kunſtbegriffen, jedoch in zu ver-
zettelter Weiſe, beſchäftigt. Wie aber im Kunſturtheil, ſo läßt ſich auch
in der wiſſenſchaftlichen Darſtellung der Künſte nicht ein einziger ſicherer
Schritt gehen, wenn jene Begriffe nicht vorher in ihrer Allgemeinheit
entwickelt ſind. Wie ſchwierig iſt z. B. der Begriff des Styls, wie viel-
fach ſpaltet er ſich, und wie kann man über den Styl der einzelnen
Künſte etwas Klares ſagen, wenn man ſich nicht vorher am rechten Orte
Rechenſchaft über ſeine Grundbedeutung abgelegt hat!
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. [2]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/14>, abgerufen am 04.03.2025.
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