Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.
und M. Angelo denselben Gegenstand darzustellen hätten, so könnte
und M. Angelo denſelben Gegenſtand darzuſtellen hätten, ſo könnte <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0137" n="125"/> und M. Angelo denſelben Gegenſtand darzuſtellen hätten, ſo könnte<lb/> jeder von ihnen unbeſchadet der objectiven Natur desſelben ſeinen<lb/> Styl geltend machen, ſofern derſelbe die musculöſe, ſtarke, gewaltig<lb/> bewegte Auffaſſung ebenſogut zuließe, als die großartig ſchöne. Man<lb/> ſetze: beide hätten einen Moſes zu malen gehabt, die Situation aber<lb/> wäre frei gegeben geweſen; ſo hätte M. Angelo ihn als den erhaben<lb/> zürnenden aufgefaßt, wie in ſeinem bekannten plaſtiſchen Werke, Raphael<lb/> als den ernſtmilden, ruhig großen Geſetzgeber, beide großartig, beide<lb/> berechtigt, beide im intenſiven Sinne des Stylbegriffs. Wäre aber ein<lb/> beſonderer Moment darzuſtellen geweſen, ſo wäre M. Angelo ohne Zweifel<lb/> manierirt geworden, wenn dieſer Moment der einer milden und ſchönen<lb/> Stimmung geweſen wäre (ſo wie er manierirt iſt in der Uebertragung<lb/> ſeiner überſtarken Formen und gewaltſamen Stellungen auf die Gruppe<lb/> der Seligen im jüngſten Gericht), und Raphael wäre vielleicht manierirt<lb/> geworden, wenn dieſer Moment ein furchtbarer geweſen wäre: er hätte<lb/> verſucht, den M. Angelo da nachzuahmen, wo nur M. Angelo heimiſch<lb/> war. — Der ganze Schwerpunkt des Stylbegriffs liegt nun darin, daß<lb/> er die idealbildende Thätigkeit (§. 398) darſtellt, wie ſie in die techniſche<lb/> Gewöhnung übergegangen iſt. Wo gewiſſe Bedingungen ausbleiben, um<lb/> von jenem innern Acte zu dieſer techniſchen Gewöhnung den Uebergang<lb/> zu gewinnen, kann Einzelnes gelingen, von dem man Idealität ausſagen<lb/> kann, aber Styl iſt nicht da: man ſieht dem Zuge der Hand, den Linien,<lb/> Tonverhältniſſen, dem Gebilde des Dichters an, daß der innere Schwung<lb/> nicht habituell übergegangen iſt in die techniſchen Organe, was freilich<lb/> auch auf mangelnde Fülle der geiſtig innerlichen Phantaſiethätigkeit,<lb/> wenigſtens im Sinne einer dauernd gleichmäßigen Wirkung, ſchließen<lb/> läßt. Die Düſſeldorfer Schule hat einzelnes Treffliches geleiſtet, aber<lb/> man hat nicht mit Unrecht zwiſchen ihr und der Münchener-Schule ſo<lb/> unterſchieden, daß dieſe Styl habe, jene nicht. Die Großheit, die alles<lb/> Kleine, Zerfahrene, Dünne, Gemeine entfernt und die Grundzüge des<lb/> mit Geiſt durchdrungenen Gegenſtands mit gewaltiger Fauſt herausführt<lb/> an’s Licht, die feſten Knochen der Darſtellung, den markigen Rhythmus,<lb/> das Monumentale, was durch dieſe wie für eine Ewigkeit hingeſtellten<lb/> Formen in die Ausführung tritt: alles dieß läßt ſich auch im Begriffe<lb/> des Architektoniſchen zuſammenfaſſen. Daß der Bildhauer in Manier zer-<lb/> fährt, wenn er das Band löst, welches ſeine Kunſt innerlich und äußer-<lb/> lich an die Baukunſt knüpft, leuchtet von ſelbſt ein; länger hatte man ver-<lb/> geſſen, daß auch die Malerei zur Ausbildung deſſen, was man Styl nennt,<lb/> am ſicherſten durch Anlehnung an dieſe Kunſt gelangt; die Entwicklung<lb/> der Münchenerſchule brachte dieſe Wahrheit wieder zu Tage; freilich ſind<lb/> die rechten Kräfte auch hier vorausgeſetzt, Cornelius hat ſchon in ſeinen<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [125/0137]
und M. Angelo denſelben Gegenſtand darzuſtellen hätten, ſo könnte
jeder von ihnen unbeſchadet der objectiven Natur desſelben ſeinen
Styl geltend machen, ſofern derſelbe die musculöſe, ſtarke, gewaltig
bewegte Auffaſſung ebenſogut zuließe, als die großartig ſchöne. Man
ſetze: beide hätten einen Moſes zu malen gehabt, die Situation aber
wäre frei gegeben geweſen; ſo hätte M. Angelo ihn als den erhaben
zürnenden aufgefaßt, wie in ſeinem bekannten plaſtiſchen Werke, Raphael
als den ernſtmilden, ruhig großen Geſetzgeber, beide großartig, beide
berechtigt, beide im intenſiven Sinne des Stylbegriffs. Wäre aber ein
beſonderer Moment darzuſtellen geweſen, ſo wäre M. Angelo ohne Zweifel
manierirt geworden, wenn dieſer Moment der einer milden und ſchönen
Stimmung geweſen wäre (ſo wie er manierirt iſt in der Uebertragung
ſeiner überſtarken Formen und gewaltſamen Stellungen auf die Gruppe
der Seligen im jüngſten Gericht), und Raphael wäre vielleicht manierirt
geworden, wenn dieſer Moment ein furchtbarer geweſen wäre: er hätte
verſucht, den M. Angelo da nachzuahmen, wo nur M. Angelo heimiſch
war. — Der ganze Schwerpunkt des Stylbegriffs liegt nun darin, daß
er die idealbildende Thätigkeit (§. 398) darſtellt, wie ſie in die techniſche
Gewöhnung übergegangen iſt. Wo gewiſſe Bedingungen ausbleiben, um
von jenem innern Acte zu dieſer techniſchen Gewöhnung den Uebergang
zu gewinnen, kann Einzelnes gelingen, von dem man Idealität ausſagen
kann, aber Styl iſt nicht da: man ſieht dem Zuge der Hand, den Linien,
Tonverhältniſſen, dem Gebilde des Dichters an, daß der innere Schwung
nicht habituell übergegangen iſt in die techniſchen Organe, was freilich
auch auf mangelnde Fülle der geiſtig innerlichen Phantaſiethätigkeit,
wenigſtens im Sinne einer dauernd gleichmäßigen Wirkung, ſchließen
läßt. Die Düſſeldorfer Schule hat einzelnes Treffliches geleiſtet, aber
man hat nicht mit Unrecht zwiſchen ihr und der Münchener-Schule ſo
unterſchieden, daß dieſe Styl habe, jene nicht. Die Großheit, die alles
Kleine, Zerfahrene, Dünne, Gemeine entfernt und die Grundzüge des
mit Geiſt durchdrungenen Gegenſtands mit gewaltiger Fauſt herausführt
an’s Licht, die feſten Knochen der Darſtellung, den markigen Rhythmus,
das Monumentale, was durch dieſe wie für eine Ewigkeit hingeſtellten
Formen in die Ausführung tritt: alles dieß läßt ſich auch im Begriffe
des Architektoniſchen zuſammenfaſſen. Daß der Bildhauer in Manier zer-
fährt, wenn er das Band löst, welches ſeine Kunſt innerlich und äußer-
lich an die Baukunſt knüpft, leuchtet von ſelbſt ein; länger hatte man ver-
geſſen, daß auch die Malerei zur Ausbildung deſſen, was man Styl nennt,
am ſicherſten durch Anlehnung an dieſe Kunſt gelangt; die Entwicklung
der Münchenerſchule brachte dieſe Wahrheit wieder zu Tage; freilich ſind
die rechten Kräfte auch hier vorausgeſetzt, Cornelius hat ſchon in ſeinen
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