Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.des Styls ersetzt; der Lithograph und Kupferstecher sucht dem farblosen 2. Dieß Alles erspart dem Künstler den Kampf mit den Schwierig- §. 519. 1 Es gibt allerdings eine Kunst mit dem denkbar geringsten Maaße von des Styls erſetzt; der Lithograph und Kupferſtecher ſucht dem farbloſen 2. Dieß Alles erſpart dem Künſtler den Kampf mit den Schwierig- §. 519. 1 Es gibt allerdings eine Kunſt mit dem denkbar geringſten Maaße von <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <pb facs="#f0110" n="98"/> <hi rendition="#et">des Styls erſetzt; der Lithograph und Kupferſtecher ſucht dem farbloſen<lb/> Schwarz durch die Behandlung einen Anklang von Farbe abzugewinnen;<lb/> die Muſik hat ſcheinbar arme Inſtrumente durch Erfindungen zu den<lb/> ſeelenvollſten Tönen befähigt und die Poeſie das Vehikel einer tonloſen<lb/> und harten Sprache (namentlich Shakespeare das Engliſche) mit Feuer-<lb/> athem in Fluß gebracht, ſo daß ihm eine Kraft entſtieg, worin ihm ſchönere<lb/> Sprachen nicht folgen können. Zu dem Materiale müßen wir auch weitere<lb/> Bedingungen, Ort, Aufſtellung, Licht, Zeitmoment u. ſ. w. ziehen und<lb/> auf die tauſend Fälle hinweiſen, wo Zwang dieſer Bedingungen für geiſt-<lb/> volle Künſtler vielmehr ein Hebel der fruchtbarſten Gedanken, ganzer<lb/> Compoſitions-Reihen und Cyclen, und der anziehendſten Behandlung<lb/> geworden ſind.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">2. Dieß Alles erſpart dem Künſtler den Kampf mit den Schwierig-<lb/> keiten des Materials nicht; „des Fleißes Nerv muß ſich ſpannen, nur<lb/> beharrlich ringend unterwirft der Gedanke ſich das Element, nur des<lb/> Meiſels ſchwerem Schlag erweichet ſich des Marmors ſprödes Korn.“<lb/> Auch die Lieblingskinder des Dichters ſind „Schmerzenskinder“ (Göthe<lb/> von ſeiner Iphigenie) und es iſt nur die Palme des Ringens, daß man<lb/> dem fertigen Werke den Schweiß nicht mehr anſieht. Nur die ſaure<lb/> Arbeit des Lernens ſchafft das Band zwiſchen der ſchwungloſen Fertigkeit,<lb/> die das Handwerk verleiht, der leeren Regel, die durch das Spiel<lb/> befeſtigt wird, der kalten Einſicht, welche die Wiſſenſchaft gibt, und<lb/> zwiſchen der innerlich ſchaffenden Phantaſie: die <hi rendition="#g">beſeelte Technik</hi>, die<lb/> Kunſttechnik.</hi> </p> </div><lb/> <div n="6"> <head>§. 519.</head><lb/> <note place="left"> <hi rendition="#fr">1</hi> </note> <p> <hi rendition="#fr">Es gibt allerdings eine Kunſt mit dem denkbar geringſten Maaße von<lb/> techniſcher Bildung, jedoch nur in Gebieten, wo das Material von einer Nach-<lb/> giebigkeit iſt, die einen unmittelbaren Uebergang des Innern in das Aeußere<lb/> erlaubt. Dieß iſt die Kunſt vor der Kunſt, die <hi rendition="#g">naive Kunſt</hi>: die einzige<lb/> Stufe, wohin die allgemeine Phantaſie der beſondern im künſtleriſchen Schaffen<lb/> folgt. Mehr ein Gemeinproduct des Volks, als ein Werk des Einzelnen, iſt<lb/> ſie nach Inhalt tief, voll, innig, nach Form entweder kurz und einfach oder<lb/> lückenhaft in der Compoſition, gedrängt, knapp, incorrect in der Ausführung,<lb/> aber durch die Friſche ihrer Unmittelbarkeit eine Verjüngungsquelle für die<lb/><note place="left">2</note>Kunſt einer ausgetrackneten Bildung. Dagegen folgt der <hi rendition="#g">Naturaliſt</hi> mitten in einer<lb/> ſchon gebildeten Kunſtwelt dem bloßen Inſtincte, deſſen Führung eine zufällige<lb/> iſt und deſſen urſprüngliche Friſche ſich bei mangelnder Schule in angewöhnten<lb/> Formen verhärtet.</hi> </p><lb/> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [98/0110]
des Styls erſetzt; der Lithograph und Kupferſtecher ſucht dem farbloſen
Schwarz durch die Behandlung einen Anklang von Farbe abzugewinnen;
die Muſik hat ſcheinbar arme Inſtrumente durch Erfindungen zu den
ſeelenvollſten Tönen befähigt und die Poeſie das Vehikel einer tonloſen
und harten Sprache (namentlich Shakespeare das Engliſche) mit Feuer-
athem in Fluß gebracht, ſo daß ihm eine Kraft entſtieg, worin ihm ſchönere
Sprachen nicht folgen können. Zu dem Materiale müßen wir auch weitere
Bedingungen, Ort, Aufſtellung, Licht, Zeitmoment u. ſ. w. ziehen und
auf die tauſend Fälle hinweiſen, wo Zwang dieſer Bedingungen für geiſt-
volle Künſtler vielmehr ein Hebel der fruchtbarſten Gedanken, ganzer
Compoſitions-Reihen und Cyclen, und der anziehendſten Behandlung
geworden ſind.
2. Dieß Alles erſpart dem Künſtler den Kampf mit den Schwierig-
keiten des Materials nicht; „des Fleißes Nerv muß ſich ſpannen, nur
beharrlich ringend unterwirft der Gedanke ſich das Element, nur des
Meiſels ſchwerem Schlag erweichet ſich des Marmors ſprödes Korn.“
Auch die Lieblingskinder des Dichters ſind „Schmerzenskinder“ (Göthe
von ſeiner Iphigenie) und es iſt nur die Palme des Ringens, daß man
dem fertigen Werke den Schweiß nicht mehr anſieht. Nur die ſaure
Arbeit des Lernens ſchafft das Band zwiſchen der ſchwungloſen Fertigkeit,
die das Handwerk verleiht, der leeren Regel, die durch das Spiel
befeſtigt wird, der kalten Einſicht, welche die Wiſſenſchaft gibt, und
zwiſchen der innerlich ſchaffenden Phantaſie: die beſeelte Technik, die
Kunſttechnik.
§. 519.
Es gibt allerdings eine Kunſt mit dem denkbar geringſten Maaße von
techniſcher Bildung, jedoch nur in Gebieten, wo das Material von einer Nach-
giebigkeit iſt, die einen unmittelbaren Uebergang des Innern in das Aeußere
erlaubt. Dieß iſt die Kunſt vor der Kunſt, die naive Kunſt: die einzige
Stufe, wohin die allgemeine Phantaſie der beſondern im künſtleriſchen Schaffen
folgt. Mehr ein Gemeinproduct des Volks, als ein Werk des Einzelnen, iſt
ſie nach Inhalt tief, voll, innig, nach Form entweder kurz und einfach oder
lückenhaft in der Compoſition, gedrängt, knapp, incorrect in der Ausführung,
aber durch die Friſche ihrer Unmittelbarkeit eine Verjüngungsquelle für die
Kunſt einer ausgetrackneten Bildung. Dagegen folgt der Naturaliſt mitten in einer
ſchon gebildeten Kunſtwelt dem bloßen Inſtincte, deſſen Führung eine zufällige
iſt und deſſen urſprüngliche Friſche ſich bei mangelnder Schule in angewöhnten
Formen verhärtet.
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Zitationshilfe: | Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/110>, abgerufen am 16.02.2025. |