Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.
die Kunst von ihrer Seite ebenfalls an der Entwicklung und Fort- b. Die Schule. §. 517. Tritt nun die Phantasie auf den so vorbereiteten Boden ein, so findet sie
die Kunſt von ihrer Seite ebenfalls an der Entwicklung und Fort- β. Die Schule. §. 517. Tritt nun die Phantaſie auf den ſo vorbereiteten Boden ein, ſo findet ſie <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0107" n="95"/> die Kunſt von ihrer Seite ebenfalls an der Entwicklung und Fort-<lb/> bildung derſelben mit. Was nun die Ausbildungsſtufen dieſes theoreti-<lb/> ſchen Bewußtſeins betrifft, ſo ſind theils Zeiten, theils Zweige wohl<lb/> zu unterſcheiden. Die Epochen blühender Kunſt im Alterthum und<lb/> Mittelalter haben im Großen und Ganzen mit dem Inſtinct und einzelnen<lb/> Regeln ausgereicht, erſt an der Grenze des höchſten Schwungs hat ſich ein<lb/> wiſſenſchaftliches Bewußtſein über die Geſetze der darzuſtellenden Natur<lb/> (namentlich Anatomie), des Materials, der Technik ausgebildet. Unſere<lb/> und jede künftige Zeit aber trifft die Wiſſenſchaft bereits ausgebildet an,<lb/> der Schüler muß ſie, ſoweit ſie ſich auf die Kunſt bezieht, durcharbeiten,<lb/> wobei er die Erleichterung, die ſie ihm verſchafft, mit einer Gefahr bezahlt,<lb/> welche demnächſt zur Sprache kommen muß. Unterſcheidet man jedoch<lb/> verſchiedene Zweige, ſo erſcheint dieſer Gegenſatz der Zeiten zunächſt wieder<lb/> beſchränkt. In einigen der erſteren nämlich muß allerdings ſchon in der<lb/> inſtinctiven Zeit ein theoretiſches Bewußtſein vorhanden ſein: ohne geomet-<lb/> riſche, mechaniſche, ſtatiſche Kenntniße läßt ſich überhaupt nicht bauen, einige<lb/> mineralogiſche, ſtatiſche Kenntniſſe, ein Bewußtſein über die Proportionen<lb/> des menſchlichen Körpers ſetzt die Bildhauerkunſt voraus, über den Rhythmus<lb/> in Muſik und Poeſie entwickeln ſich Begriffe und die Malerei kann ohne<lb/> die Kenntniß der Perſpective ſich nicht als ſelbſtändige Kunſtform ausbilden.<lb/> Von einem ſyſtematiſchen Ausbau dieſer Wiſſenſchaften kann jedoch in<lb/> den Epochen, deren blühende Kunſt auf einer naiven Cultur ruht, nicht<lb/> die Rede ſein und ebenſo beſchränkt iſt das theoretiſche Bewußtſein ſeiner Aus-<lb/> dehnung nach: es gibt z. B. keine Farbenlehre, keine Anatomie; Mathematik<lb/> und Phyſik haben weſentliche Zweige, die jetzt zur Propädeutik des Künſtlers<lb/> gehören, noch gar nicht getrieben und dieſe qualitativen und quantitativen Lücken<lb/> ſind nur der Ausdruck einer noch unentwickelten Reflexionsbildung, wodurch<lb/> der oben ausgeſprochene Gegenſatz im Ganzen und Großen ſich wiederherſtellt.</hi> </p> </div> </div><lb/> <div n="5"> <head><hi rendition="#i">β.</hi><lb/> Die Schule.</head><lb/> <div n="6"> <head>§. 517.</head><lb/> <p> <hi rendition="#fr">Tritt nun die Phantaſie auf den ſo vorbereiteten Boden ein, ſo findet ſie<lb/> ihre Arbeit am Materiale zwar erleichtert, aber ſie hat dem auf andern Gebieten<lb/> Erlernten einen völlig neuen Geiſt einzugießen. Dieſer Schöpfung ſtellt ſich<lb/> das Material unendlich ſpröder entgegen, als den in §. 514—516 voraus-<lb/> geſetzten Thätigkeiten: es beengt durch die ſinnliche Ausſchließlichkeit ſeiner<lb/> Natur die Freiheit der Erfindung und es ſträubt ſich, die flüßig lebendige<lb/> Form in ſich aufzunehmen.</hi> </p><lb/> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [95/0107]
die Kunſt von ihrer Seite ebenfalls an der Entwicklung und Fort-
bildung derſelben mit. Was nun die Ausbildungsſtufen dieſes theoreti-
ſchen Bewußtſeins betrifft, ſo ſind theils Zeiten, theils Zweige wohl
zu unterſcheiden. Die Epochen blühender Kunſt im Alterthum und
Mittelalter haben im Großen und Ganzen mit dem Inſtinct und einzelnen
Regeln ausgereicht, erſt an der Grenze des höchſten Schwungs hat ſich ein
wiſſenſchaftliches Bewußtſein über die Geſetze der darzuſtellenden Natur
(namentlich Anatomie), des Materials, der Technik ausgebildet. Unſere
und jede künftige Zeit aber trifft die Wiſſenſchaft bereits ausgebildet an,
der Schüler muß ſie, ſoweit ſie ſich auf die Kunſt bezieht, durcharbeiten,
wobei er die Erleichterung, die ſie ihm verſchafft, mit einer Gefahr bezahlt,
welche demnächſt zur Sprache kommen muß. Unterſcheidet man jedoch
verſchiedene Zweige, ſo erſcheint dieſer Gegenſatz der Zeiten zunächſt wieder
beſchränkt. In einigen der erſteren nämlich muß allerdings ſchon in der
inſtinctiven Zeit ein theoretiſches Bewußtſein vorhanden ſein: ohne geomet-
riſche, mechaniſche, ſtatiſche Kenntniße läßt ſich überhaupt nicht bauen, einige
mineralogiſche, ſtatiſche Kenntniſſe, ein Bewußtſein über die Proportionen
des menſchlichen Körpers ſetzt die Bildhauerkunſt voraus, über den Rhythmus
in Muſik und Poeſie entwickeln ſich Begriffe und die Malerei kann ohne
die Kenntniß der Perſpective ſich nicht als ſelbſtändige Kunſtform ausbilden.
Von einem ſyſtematiſchen Ausbau dieſer Wiſſenſchaften kann jedoch in
den Epochen, deren blühende Kunſt auf einer naiven Cultur ruht, nicht
die Rede ſein und ebenſo beſchränkt iſt das theoretiſche Bewußtſein ſeiner Aus-
dehnung nach: es gibt z. B. keine Farbenlehre, keine Anatomie; Mathematik
und Phyſik haben weſentliche Zweige, die jetzt zur Propädeutik des Künſtlers
gehören, noch gar nicht getrieben und dieſe qualitativen und quantitativen Lücken
ſind nur der Ausdruck einer noch unentwickelten Reflexionsbildung, wodurch
der oben ausgeſprochene Gegenſatz im Ganzen und Großen ſich wiederherſtellt.
β.
Die Schule.
§. 517.
Tritt nun die Phantaſie auf den ſo vorbereiteten Boden ein, ſo findet ſie
ihre Arbeit am Materiale zwar erleichtert, aber ſie hat dem auf andern Gebieten
Erlernten einen völlig neuen Geiſt einzugießen. Dieſer Schöpfung ſtellt ſich
das Material unendlich ſpröder entgegen, als den in §. 514—516 voraus-
geſetzten Thätigkeiten: es beengt durch die ſinnliche Ausſchließlichkeit ſeiner
Natur die Freiheit der Erfindung und es ſträubt ſich, die flüßig lebendige
Form in ſich aufzunehmen.
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