gewinnen und gerade die Beruhigung bei den einfachen Erscheinungen, welche ein noch bruchloses Seelenleben ganz in die festen Formen ergossen zeigen, wird ihm am meisten fremd sein. Daher wird es unter den ge- schichtlichen Stoffen am wenigsten die der objectiven antiken Lebensform aufsuchen, welche dagegen dem tastenden Auge ein homogener Gegenstand sein werden.
b. Die empfindende Phantasie. Wir unterschieden also schon im Acte der Anschauung das scharfe Fassen und das innige Gefühl des Gegenstands. Da dieser sein innerstes Leben in Bewegung und Laut kund gibt, so ist die zweite dieser Formen zwar nicht allein, aber doch besonders durch das Gehör vermittelt: es ist das Organ der unmittel- baren Theilnahme des subjectiven Lebens am Leben des Objects. Die Phantasie nun, welche von dieser Form der Anschauung ausgeht, stellt sich im Fortschritte zum innern Schaffen auf den Boden des Moments der Stimmung. Als Moment des Ganzen bringt es diese noch nicht zur Gestalt, sondern webt in der dunkeln Gährung des Gemüths im Subjecte mit dem Gehalt im Objecte; legt sich aber die ganze Phantasie in den Standpunkt dieses Moments, so wird sie innerhalb desselben auch gestalten und zwar im Elemente des Hörbaren. Kurz hier ist die Musik vorgezeich- net. Die empfindende Phantasie nun wird sich mit allen Arten des vor- herigen §. verbinden können, nur aber so, daß sie von jeder Sphäre des Stoffs, worauf diese Arten gerichtet sind, nicht die Gestalt, nicht die Gegenstände, sondern nur den Eindruck derselben auf das Gefühl zur reinen Form erhebt; ebendaher aber wird sie vorzüglich die Sphären aufsuchen, wo volles und vertieftes inneres Leben sich kund gibt: wie sie selbst die empfindende ist, so ist der empfindende Mensch ihr Stoff, und je mehr eine Sphäre des Stoffs Erregungen des innersten Lebens mit sich führt, desto willkommener muß sie ihr sein: so die Liebe, die Freuden und Genüsse, die sich mit den "besonderen Formen" verbinden, die See- lenkämpfe des Individuums, die Freundschaft; an allen geschichtlichen Stoffen aber wird sie eben diese Resonanz im Individuum aufsuchen, sich also auch hier auf den Boden des allgemein Menschlichen und zwar in der Form der bewegten Individualität stellen. Das einfach Schöne und Erhabene ist ihr im reichsten Umfange, das Komische nur in sehr einge- schränktem Sinne offen.
c. Die dichtende Phantasie. Wir können sie die Phantasie der Phantasie nennen, denn es ist diejenige, welche, verglichen mit der An- schauung, im Elemente der innerlichen Gestaltung, der Einbildungskraft, bestimmter aber, da diese auf zweiter Linie nur die Anschauung wieder- holt, im Element der eigentlichen Formthätigkeit, also im vollendeten letzten Schritte des ästhetischen Organs ihren Standpunkt nimmt. Wären wir
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gewinnen und gerade die Beruhigung bei den einfachen Erſcheinungen, welche ein noch bruchloſes Seelenleben ganz in die feſten Formen ergoſſen zeigen, wird ihm am meiſten fremd ſein. Daher wird es unter den ge- ſchichtlichen Stoffen am wenigſten die der objectiven antiken Lebensform aufſuchen, welche dagegen dem taſtenden Auge ein homogener Gegenſtand ſein werden.
b. Die empfindende Phantaſie. Wir unterſchieden alſo ſchon im Acte der Anſchauung das ſcharfe Faſſen und das innige Gefühl des Gegenſtands. Da dieſer ſein innerſtes Leben in Bewegung und Laut kund gibt, ſo iſt die zweite dieſer Formen zwar nicht allein, aber doch beſonders durch das Gehör vermittelt: es iſt das Organ der unmittel- baren Theilnahme des ſubjectiven Lebens am Leben des Objects. Die Phantaſie nun, welche von dieſer Form der Anſchauung ausgeht, ſtellt ſich im Fortſchritte zum innern Schaffen auf den Boden des Moments der Stimmung. Als Moment des Ganzen bringt es dieſe noch nicht zur Geſtalt, ſondern webt in der dunkeln Gährung des Gemüths im Subjecte mit dem Gehalt im Objecte; legt ſich aber die ganze Phantaſie in den Standpunkt dieſes Moments, ſo wird ſie innerhalb deſſelben auch geſtalten und zwar im Elemente des Hörbaren. Kurz hier iſt die Muſik vorgezeich- net. Die empfindende Phantaſie nun wird ſich mit allen Arten des vor- herigen §. verbinden können, nur aber ſo, daß ſie von jeder Sphäre des Stoffs, worauf dieſe Arten gerichtet ſind, nicht die Geſtalt, nicht die Gegenſtände, ſondern nur den Eindruck derſelben auf das Gefühl zur reinen Form erhebt; ebendaher aber wird ſie vorzüglich die Sphären aufſuchen, wo volles und vertieftes inneres Leben ſich kund gibt: wie ſie ſelbſt die empfindende iſt, ſo iſt der empfindende Menſch ihr Stoff, und je mehr eine Sphäre des Stoffs Erregungen des innerſten Lebens mit ſich führt, deſto willkommener muß ſie ihr ſein: ſo die Liebe, die Freuden und Genüſſe, die ſich mit den „beſonderen Formen“ verbinden, die See- lenkämpfe des Individuums, die Freundſchaft; an allen geſchichtlichen Stoffen aber wird ſie eben dieſe Reſonanz im Individuum aufſuchen, ſich alſo auch hier auf den Boden des allgemein Menſchlichen und zwar in der Form der bewegten Individualität ſtellen. Das einfach Schöne und Erhabene iſt ihr im reichſten Umfange, das Komiſche nur in ſehr einge- ſchränktem Sinne offen.
c. Die dichtende Phantaſie. Wir können ſie die Phantaſie der Phantaſie nennen, denn es iſt diejenige, welche, verglichen mit der An- ſchauung, im Elemente der innerlichen Geſtaltung, der Einbildungskraft, beſtimmter aber, da dieſe auf zweiter Linie nur die Anſchauung wieder- holt, im Element der eigentlichen Formthätigkeit, alſo im vollendeten letzten Schritte des äſthetiſchen Organs ihren Standpunkt nimmt. Wären wir
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gewinnen und gerade die Beruhigung bei den einfachen Erſcheinungen,
welche ein noch bruchloſes Seelenleben ganz in die feſten Formen ergoſſen
zeigen, wird ihm am meiſten fremd ſein. Daher wird es unter den ge-
ſchichtlichen Stoffen am wenigſten die der objectiven antiken Lebensform
aufſuchen, welche dagegen dem taſtenden Auge ein homogener Gegenſtand
ſein werden.
b. Die empfindende Phantaſie. Wir unterſchieden alſo ſchon im
Acte der Anſchauung das ſcharfe Faſſen und das innige Gefühl des
Gegenſtands. Da dieſer ſein innerſtes Leben in Bewegung und Laut
kund gibt, ſo iſt die zweite dieſer Formen zwar nicht allein, aber doch
beſonders durch das Gehör vermittelt: es iſt das Organ der unmittel-
baren Theilnahme des ſubjectiven Lebens am Leben des Objects. Die
Phantaſie nun, welche von dieſer Form der Anſchauung ausgeht, ſtellt ſich
im Fortſchritte zum innern Schaffen auf den Boden des Moments der
Stimmung. Als Moment des Ganzen bringt es dieſe noch nicht zur
Geſtalt, ſondern webt in der dunkeln Gährung des Gemüths im Subjecte
mit dem Gehalt im Objecte; legt ſich aber die ganze Phantaſie in den
Standpunkt dieſes Moments, ſo wird ſie innerhalb deſſelben auch geſtalten
und zwar im Elemente des Hörbaren. Kurz hier iſt die Muſik vorgezeich-
net. Die empfindende Phantaſie nun wird ſich mit allen Arten des vor-
herigen §. verbinden können, nur aber ſo, daß ſie von jeder Sphäre
des Stoffs, worauf dieſe Arten gerichtet ſind, nicht die Geſtalt, nicht
die Gegenſtände, ſondern nur den Eindruck derſelben auf das Gefühl zur
reinen Form erhebt; ebendaher aber wird ſie vorzüglich die Sphären
aufſuchen, wo volles und vertieftes inneres Leben ſich kund gibt: wie ſie
ſelbſt die empfindende iſt, ſo iſt der empfindende Menſch ihr Stoff, und
je mehr eine Sphäre des Stoffs Erregungen des innerſten Lebens mit
ſich führt, deſto willkommener muß ſie ihr ſein: ſo die Liebe, die Freuden
und Genüſſe, die ſich mit den „beſonderen Formen“ verbinden, die See-
lenkämpfe des Individuums, die Freundſchaft; an allen geſchichtlichen
Stoffen aber wird ſie eben dieſe Reſonanz im Individuum aufſuchen,
ſich alſo auch hier auf den Boden des allgemein Menſchlichen und zwar
in der Form der bewegten Individualität ſtellen. Das einfach Schöne und
Erhabene iſt ihr im reichſten Umfange, das Komiſche nur in ſehr einge-
ſchränktem Sinne offen.
c. Die dichtende Phantaſie. Wir können ſie die Phantaſie der
Phantaſie nennen, denn es iſt diejenige, welche, verglichen mit der An-
ſchauung, im Elemente der innerlichen Geſtaltung, der Einbildungskraft,
beſtimmter aber, da dieſe auf zweiter Linie nur die Anſchauung wieder-
holt, im Element der eigentlichen Formthätigkeit, alſo im vollendeten letzten
Schritte des äſthetiſchen Organs ihren Standpunkt nimmt. Wären wir
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 381. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/95>, abgerufen am 08.07.2024.
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