Sogleich ist klar, daß die landschaftliche Phantasie sich bald mit der einfach schönen, bald mit der erhabenen verbinden wird; die letztere wird Hoch- gebirge, Einöden, Stürme der stillen Milde des Naturlebens vorziehen, in der weicheren Form Mondschein-Scenen u. s. w. In der Thierwelt findet der Freund des Erhabenen genug des Gewaltigen und Furchtbaren, der des einfach Schönen genug der friedlichen und behaglichen Stoffe. In der Sphäre des allgemein Menschlichen bietet sich der Phantasie der schönen Ge- stalt, wenn sie sich im Erhabenen bewegt, genug des Gewaltigen, Tragischen (Herkules, borghesischer, sterbender Fechter u. dgl.), der für Volkszustände und Culturformen organisirten vorzüglich der Krieg neben der gefährlicheren Jagd als Stoff dar. Diejenige Phantasie, welche in den durchgearbeiteteren Zuständen der Gesellschaft heimisch ist, hat in der Ehe, Familie, den Collisionen der Stände, dem Bildungsgang des Individuums ein reiches Feld für einfach schöne Situation und, wenn sie erhaben oder komisch gestimmt ist, für Kämpfe und Widersprüche aller Art; auch das schöne Naturleben des Menschen bietet sich der Komik so gut, wie der einfach schönen und erhabe- nen Phantasie, nur überall wesentlich der naiven Komik als Fundgrube an. Daß aber das geschichtliche Gebiet der erhabenen und komischen Phantasie die reichsten Stoffe liefert, bedarf keines weiteren Beweises; vielmehr hier eben ist das Feld, wo beide Formen der Weltanschauung sich zu selbst- ständigen großen Standpunkten (und daher Kunstgattungen) gestalten. Man meine nicht, die komische Phantasie sei bloß auf das Privatleben angewiesen, das wir, wie gesagt, im gegenwärtigen Zusammenhang vom Politischen zu den besonderen Formen zurückstellen; die Geschichte im Großen ist wahrer Stoff für den großen Komiker (vergl. §. 222).
Auch dieses Feld der Combinationen erschöpft aber noch nicht den ganzen Umfang der möglichen Verbindungen. Wir haben die einzelnen Arten der Phantasie zusammengestellt, welche aus den Reichen des natur- schönen Stoffes als Eintheilungsgrund entstehen, wir haben ihre verschie- denen Verbindungen untereinander angedeutet. Dann haben wir die Eintheilung des vorhergehenden §., die den Grundformen des Schönen folgt, zur jetzigen geschlagen und so wiederum eine Linie neuer Mischungen auf- gezeigt. Nun entsteht aber eine weitere, wenn man die einzelnen Arten oder Unterarten dieses §. sammt der schon dazugeschlagenen Weise ihrer Verbindung mit den Arten oder Unterarten des vorhergehenden §. darauf ansieht, wie sie sich gestalten, wenn sie sich mit dieser Stimmung auf den Boden einer andern Art oder Unterart begeben. Wer z. B. dem einfach Schönen nachgeht und so unter den Stoffen der besonderen mensch- lichen Formwelt vorzüglich für naive Volkssitte Sinn hat, der wird, wenn er in das geschichtliche Gebiet übergeht, Volksscenen besser darstellen, als Helden, wie Göthe im Egmont; ebenderselbe liebt unter den allgemeinen
Sogleich iſt klar, daß die landſchaftliche Phantaſie ſich bald mit der einfach ſchönen, bald mit der erhabenen verbinden wird; die letztere wird Hoch- gebirge, Einöden, Stürme der ſtillen Milde des Naturlebens vorziehen, in der weicheren Form Mondſchein-Scenen u. ſ. w. In der Thierwelt findet der Freund des Erhabenen genug des Gewaltigen und Furchtbaren, der des einfach Schönen genug der friedlichen und behaglichen Stoffe. In der Sphäre des allgemein Menſchlichen bietet ſich der Phantaſie der ſchönen Ge- ſtalt, wenn ſie ſich im Erhabenen bewegt, genug des Gewaltigen, Tragiſchen (Herkules, borgheſiſcher, ſterbender Fechter u. dgl.), der für Volkszuſtände und Culturformen organiſirten vorzüglich der Krieg neben der gefährlicheren Jagd als Stoff dar. Diejenige Phantaſie, welche in den durchgearbeiteteren Zuſtänden der Geſellſchaft heimiſch iſt, hat in der Ehe, Familie, den Colliſionen der Stände, dem Bildungsgang des Individuums ein reiches Feld für einfach ſchöne Situation und, wenn ſie erhaben oder komiſch geſtimmt iſt, für Kämpfe und Widerſprüche aller Art; auch das ſchöne Naturleben des Menſchen bietet ſich der Komik ſo gut, wie der einfach ſchönen und erhabe- nen Phantaſie, nur überall weſentlich der naiven Komik als Fundgrube an. Daß aber das geſchichtliche Gebiet der erhabenen und komiſchen Phantaſie die reichſten Stoffe liefert, bedarf keines weiteren Beweiſes; vielmehr hier eben iſt das Feld, wo beide Formen der Weltanſchauung ſich zu ſelbſt- ſtändigen großen Standpunkten (und daher Kunſtgattungen) geſtalten. Man meine nicht, die komiſche Phantaſie ſei bloß auf das Privatleben angewieſen, das wir, wie geſagt, im gegenwärtigen Zuſammenhang vom Politiſchen zu den beſonderen Formen zurückſtellen; die Geſchichte im Großen iſt wahrer Stoff für den großen Komiker (vergl. §. 222).
Auch dieſes Feld der Combinationen erſchöpft aber noch nicht den ganzen Umfang der möglichen Verbindungen. Wir haben die einzelnen Arten der Phantaſie zuſammengeſtellt, welche aus den Reichen des natur- ſchönen Stoffes als Eintheilungsgrund entſtehen, wir haben ihre verſchie- denen Verbindungen untereinander angedeutet. Dann haben wir die Eintheilung des vorhergehenden §., die den Grundformen des Schönen folgt, zur jetzigen geſchlagen und ſo wiederum eine Linie neuer Miſchungen auf- gezeigt. Nun entſteht aber eine weitere, wenn man die einzelnen Arten oder Unterarten dieſes §. ſammt der ſchon dazugeſchlagenen Weiſe ihrer Verbindung mit den Arten oder Unterarten des vorhergehenden §. darauf anſieht, wie ſie ſich geſtalten, wenn ſie ſich mit dieſer Stimmung auf den Boden einer andern Art oder Unterart begeben. Wer z. B. dem einfach Schönen nachgeht und ſo unter den Stoffen der beſonderen menſch- lichen Formwelt vorzüglich für naive Volksſitte Sinn hat, der wird, wenn er in das geſchichtliche Gebiet übergeht, Volksſcenen beſſer darſtellen, als Helden, wie Göthe im Egmont; ebenderſelbe liebt unter den allgemeinen
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Sogleich iſt klar, daß die landſchaftliche Phantaſie ſich bald mit der einfach
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gebirge, Einöden, Stürme der ſtillen Milde des Naturlebens vorziehen,
in der weicheren Form Mondſchein-Scenen u. ſ. w. In der Thierwelt
findet der Freund des Erhabenen genug des Gewaltigen und Furchtbaren,
der des einfach Schönen genug der friedlichen und behaglichen Stoffe. In
der Sphäre des allgemein Menſchlichen bietet ſich der Phantaſie der ſchönen Ge-
ſtalt, wenn ſie ſich im Erhabenen bewegt, genug des Gewaltigen, Tragiſchen
(Herkules, borgheſiſcher, ſterbender Fechter u. dgl.), der für Volkszuſtände und
Culturformen organiſirten vorzüglich der Krieg neben der gefährlicheren Jagd
als Stoff dar. Diejenige Phantaſie, welche in den durchgearbeiteteren
Zuſtänden der Geſellſchaft heimiſch iſt, hat in der Ehe, Familie, den
Colliſionen der Stände, dem Bildungsgang des Individuums ein reiches
Feld für einfach ſchöne Situation und, wenn ſie erhaben oder komiſch geſtimmt
iſt, für Kämpfe und Widerſprüche aller Art; auch das ſchöne Naturleben
des Menſchen bietet ſich der Komik ſo gut, wie der einfach ſchönen und erhabe-
nen Phantaſie, nur überall weſentlich der naiven Komik als Fundgrube an.
Daß aber das geſchichtliche Gebiet der erhabenen und komiſchen Phantaſie
die reichſten Stoffe liefert, bedarf keines weiteren Beweiſes; vielmehr hier
eben iſt das Feld, wo beide Formen der Weltanſchauung ſich zu ſelbſt-
ſtändigen großen Standpunkten (und daher Kunſtgattungen) geſtalten.
Man meine nicht, die komiſche Phantaſie ſei bloß auf das Privatleben
angewieſen, das wir, wie geſagt, im gegenwärtigen Zuſammenhang vom
Politiſchen zu den beſonderen Formen zurückſtellen; die Geſchichte im
Großen iſt wahrer Stoff für den großen Komiker (vergl. §. 222).
Auch dieſes Feld der Combinationen erſchöpft aber noch nicht den
ganzen Umfang der möglichen Verbindungen. Wir haben die einzelnen
Arten der Phantaſie zuſammengeſtellt, welche aus den Reichen des natur-
ſchönen Stoffes als Eintheilungsgrund entſtehen, wir haben ihre verſchie-
denen Verbindungen untereinander angedeutet. Dann haben wir die
Eintheilung des vorhergehenden §., die den Grundformen des Schönen folgt,
zur jetzigen geſchlagen und ſo wiederum eine Linie neuer Miſchungen auf-
gezeigt. Nun entſteht aber eine weitere, wenn man die einzelnen Arten
oder Unterarten dieſes §. ſammt der ſchon dazugeſchlagenen Weiſe ihrer
Verbindung mit den Arten oder Unterarten des vorhergehenden §. darauf
anſieht, wie ſie ſich geſtalten, wenn ſie ſich mit dieſer Stimmung auf
den Boden einer andern Art oder Unterart begeben. Wer z. B. dem
einfach Schönen nachgeht und ſo unter den Stoffen der beſonderen menſch-
lichen Formwelt vorzüglich für naive Volksſitte Sinn hat, der wird, wenn
er in das geſchichtliche Gebiet übergeht, Volksſcenen beſſer darſtellen, als
Helden, wie Göthe im Egmont; ebenderſelbe liebt unter den allgemeinen
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 377. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/91>, abgerufen am 08.07.2024.
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