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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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besonderer Vorliebe für die natürlichen Formen wie bei Göthe, bald aber für
diejenige, welche Gewohnheiten, Sitten, Culturformen in's Kleine ver-
folgt und welche das sogenannte Genre oder Sittenbild schafft. Eben diese
letztere Phantasie nun wird sich vorzüglich in diejenigen Stoffe legen, die
wir sofort unter der Bezeichnung: "die besonderen Formen" (§. 324 ff.)
zusammenfaßten: Völker, Stämme, Thätigkeiten, die dem Bedürfniß und
Genusse dienen, Krieg, Tracht, kurz Culturform. Die Weise der Phan-
tasie, die sich damit beschäftigt, liegt ganz nahe an der vorigen; so ist es
z. B. eben auch Göthe, der das Gattungsmäßige, Geschlechtliche, Ero-
tische, die Kämpfe der Neigung und Leidenschaft und die Sitten, Gewohn-
heiten, Naturell der Völker gleich genial behandelt. Hier treten nun auch
die vorgeschichtlichen Naturformen des Staates auf und aus den reiferen
die Typen der Stände. Wir sehen das Gebiet des Epos aufgeschlagen,
zu dem aber das eintheilende Prinzip noch nicht ausgesprochen ist. Wir
können an verschiedene Kunstzweige denken; Göthe hatte besonderen Sinn
für Genremalerei und ebenderselbe war besonders zum Epos berufen. Da-
rauf folgten nun im ersten Abschnitte die individuellen Formen (§. 331 ff.);
soweit sich diese noch im natürlichen Gebiete bewegen, fallen sie der Phan-
tasie der natürlichen Schönheit und der genre-artigen zu, je mehr wir
aber zum Charakter aufsteigen, desto mehr fordert der sich vertiefende Ge-
genstand die tiefere Phantasie, welche das Innere, das Psychologische in's
Auge faßt und den so gefaßten Stoff auf die verschiedenste Weise, z.
B. für Darstellung der Bildungsgeschichte des Individuums im Roman,
für ein geistig bewegteres, mehr innerliches Genre, aber auch für die
Personen im Drama, das jedoch seinem Hauptkörper nach eine ganz an-
dere Form der Phantasie fordert, verwenden kann. Wir haben aber nicht
umsonst dieß Alles unter dem Begriff der allgemein menschlichen Phantasie
zusammengefaßt, denn wir trennen alle diese Sphären jetzt von dem con-
creten Schauplatz der Weltgeschichte. Im ersten Abschnitte dieses zweiten
Theils der Aesthetik zwar führten wir die Zustände des Privatlebens, die
Geltung des Individuums, die Culturformen durch das ganze geschichtliche
Gebiet mit fort und auch die geschichtliche Phantasie braucht sie ja bestän-
dig zur vollendeten Anschauung ihres Stoffes; allein sie braucht sie nur
als Momente in der concreten Bewegung der eigentlich geschichtlichen
Begebenheiten und Thaten. Diese Formen lassen sich aber von der in
die Tafeln der Geschichte eingezeichneten That und Begebenheit auch tren-
nen und an einen allgemein menschlichen Gehalt, der wohl auch in einer
Begebenheit, aber nicht in einer der eigentlichen Geschichte angehörigen
sich darstellt, anlehnen; und dieß bildet dann das Gebiet eben für jene
Art der Phantasie, welche nicht auf den Sinn der Geschichte gegründet
ist, welche das Datum und Factum, das Unerbittliche der Thatsache, die

beſonderer Vorliebe für die natürlichen Formen wie bei Göthe, bald aber für
diejenige, welche Gewohnheiten, Sitten, Culturformen in’s Kleine ver-
folgt und welche das ſogenannte Genre oder Sittenbild ſchafft. Eben dieſe
letztere Phantaſie nun wird ſich vorzüglich in diejenigen Stoffe legen, die
wir ſofort unter der Bezeichnung: „die beſonderen Formen“ (§. 324 ff.)
zuſammenfaßten: Völker, Stämme, Thätigkeiten, die dem Bedürfniß und
Genuſſe dienen, Krieg, Tracht, kurz Culturform. Die Weiſe der Phan-
taſie, die ſich damit beſchäftigt, liegt ganz nahe an der vorigen; ſo iſt es
z. B. eben auch Göthe, der das Gattungsmäßige, Geſchlechtliche, Ero-
tiſche, die Kämpfe der Neigung und Leidenſchaft und die Sitten, Gewohn-
heiten, Naturell der Völker gleich genial behandelt. Hier treten nun auch
die vorgeſchichtlichen Naturformen des Staates auf und aus den reiferen
die Typen der Stände. Wir ſehen das Gebiet des Epos aufgeſchlagen,
zu dem aber das eintheilende Prinzip noch nicht ausgeſprochen iſt. Wir
können an verſchiedene Kunſtzweige denken; Göthe hatte beſonderen Sinn
für Genremalerei und ebenderſelbe war beſonders zum Epos berufen. Da-
rauf folgten nun im erſten Abſchnitte die individuellen Formen (§. 331 ff.);
ſoweit ſich dieſe noch im natürlichen Gebiete bewegen, fallen ſie der Phan-
taſie der natürlichen Schönheit und der genre-artigen zu, je mehr wir
aber zum Charakter aufſteigen, deſto mehr fordert der ſich vertiefende Ge-
genſtand die tiefere Phantaſie, welche das Innere, das Pſychologiſche in’s
Auge faßt und den ſo gefaßten Stoff auf die verſchiedenſte Weiſe, z.
B. für Darſtellung der Bildungsgeſchichte des Individuums im Roman,
für ein geiſtig bewegteres, mehr innerliches Genre, aber auch für die
Perſonen im Drama, das jedoch ſeinem Hauptkörper nach eine ganz an-
dere Form der Phantaſie fordert, verwenden kann. Wir haben aber nicht
umſonſt dieß Alles unter dem Begriff der allgemein menſchlichen Phantaſie
zuſammengefaßt, denn wir trennen alle dieſe Sphären jetzt von dem con-
creten Schauplatz der Weltgeſchichte. Im erſten Abſchnitte dieſes zweiten
Theils der Aeſthetik zwar führten wir die Zuſtände des Privatlebens, die
Geltung des Individuums, die Culturformen durch das ganze geſchichtliche
Gebiet mit fort und auch die geſchichtliche Phantaſie braucht ſie ja beſtän-
dig zur vollendeten Anſchauung ihres Stoffes; allein ſie braucht ſie nur
als Momente in der concreten Bewegung der eigentlich geſchichtlichen
Begebenheiten und Thaten. Dieſe Formen laſſen ſich aber von der in
die Tafeln der Geſchichte eingezeichneten That und Begebenheit auch tren-
nen und an einen allgemein menſchlichen Gehalt, der wohl auch in einer
Begebenheit, aber nicht in einer der eigentlichen Geſchichte angehörigen
ſich darſtellt, anlehnen; und dieß bildet dann das Gebiet eben für jene
Art der Phantaſie, welche nicht auf den Sinn der Geſchichte gegründet
iſt, welche das Datum und Factum, das Unerbittliche der Thatſache, die

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[375/0089] beſonderer Vorliebe für die natürlichen Formen wie bei Göthe, bald aber für diejenige, welche Gewohnheiten, Sitten, Culturformen in’s Kleine ver- folgt und welche das ſogenannte Genre oder Sittenbild ſchafft. Eben dieſe letztere Phantaſie nun wird ſich vorzüglich in diejenigen Stoffe legen, die wir ſofort unter der Bezeichnung: „die beſonderen Formen“ (§. 324 ff.) zuſammenfaßten: Völker, Stämme, Thätigkeiten, die dem Bedürfniß und Genuſſe dienen, Krieg, Tracht, kurz Culturform. Die Weiſe der Phan- taſie, die ſich damit beſchäftigt, liegt ganz nahe an der vorigen; ſo iſt es z. B. eben auch Göthe, der das Gattungsmäßige, Geſchlechtliche, Ero- tiſche, die Kämpfe der Neigung und Leidenſchaft und die Sitten, Gewohn- heiten, Naturell der Völker gleich genial behandelt. Hier treten nun auch die vorgeſchichtlichen Naturformen des Staates auf und aus den reiferen die Typen der Stände. Wir ſehen das Gebiet des Epos aufgeſchlagen, zu dem aber das eintheilende Prinzip noch nicht ausgeſprochen iſt. Wir können an verſchiedene Kunſtzweige denken; Göthe hatte beſonderen Sinn für Genremalerei und ebenderſelbe war beſonders zum Epos berufen. Da- rauf folgten nun im erſten Abſchnitte die individuellen Formen (§. 331 ff.); ſoweit ſich dieſe noch im natürlichen Gebiete bewegen, fallen ſie der Phan- taſie der natürlichen Schönheit und der genre-artigen zu, je mehr wir aber zum Charakter aufſteigen, deſto mehr fordert der ſich vertiefende Ge- genſtand die tiefere Phantaſie, welche das Innere, das Pſychologiſche in’s Auge faßt und den ſo gefaßten Stoff auf die verſchiedenſte Weiſe, z. B. für Darſtellung der Bildungsgeſchichte des Individuums im Roman, für ein geiſtig bewegteres, mehr innerliches Genre, aber auch für die Perſonen im Drama, das jedoch ſeinem Hauptkörper nach eine ganz an- dere Form der Phantaſie fordert, verwenden kann. Wir haben aber nicht umſonſt dieß Alles unter dem Begriff der allgemein menſchlichen Phantaſie zuſammengefaßt, denn wir trennen alle dieſe Sphären jetzt von dem con- creten Schauplatz der Weltgeſchichte. Im erſten Abſchnitte dieſes zweiten Theils der Aeſthetik zwar führten wir die Zuſtände des Privatlebens, die Geltung des Individuums, die Culturformen durch das ganze geſchichtliche Gebiet mit fort und auch die geſchichtliche Phantaſie braucht ſie ja beſtän- dig zur vollendeten Anſchauung ihres Stoffes; allein ſie braucht ſie nur als Momente in der concreten Bewegung der eigentlich geſchichtlichen Begebenheiten und Thaten. Dieſe Formen laſſen ſich aber von der in die Tafeln der Geſchichte eingezeichneten That und Begebenheit auch tren- nen und an einen allgemein menſchlichen Gehalt, der wohl auch in einer Begebenheit, aber nicht in einer der eigentlichen Geſchichte angehörigen ſich darſtellt, anlehnen; und dieß bildet dann das Gebiet eben für jene Art der Phantaſie, welche nicht auf den Sinn der Geſchichte gegründet iſt, welche das Datum und Factum, das Unerbittliche der Thatſache, die

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 375. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/89>, abgerufen am 27.11.2024.