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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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Gehalt, der im Götz von Berlichingen lag, nicht erfaßt, nicht erschöpft, das
Ende der Ritterzeit, der Bauernkrieg, die Reformation boten ganz andere Mo-
tive; da er aber doch als wahre Dichternatur von seinem Stoffe begeistert war,
so faßte er andere, ebenfalls wesentliche Seiten in demselben auf und diese wa-
ren ganz geeignet, in die Stimmung der Sturm- und Drangperiode als er-
höhende Kraft gehoben zu werden: die Natürlichkeit, die derbe Treu-
herzigkeit auf der einen, das Ende der Einfalt des Herzens, die Willkühr,
die Weltlichkeit, der Kampf der Neigung mit der Pflicht auf der andern
Seite. Dagegen hat Lessing aus purer Reflexion einen Stoff aus der
römischen Geschichte gewählt, um gegen die Natur desselben eine mo-
derne sociale und sittliche Frage, und ebenso einen Stoff aus den Kreuz-
zügen, um gegen die Natur desselben die Idee der Toleranz, Aufklärung,
Humanität hineinzulegen. Nicht ebensogroß ist der Widerspruch des Stoffs
des Don Carlos und der von Schiller in ihn gelegten Zeit-Ideen.

Hier war vom ganzen Zeitbewußtsein die Rede. Es muß noch
hinzugesetzt werden, daß dafür gesorgt ist, daß die wahrhaft phantasiebe-
gabte Natur die Stoffe in diesem Sinn recht behandle; denn ist sie erfüllt
vom Pathos ihrer Zeit, so werden auch eben die Stoffe, die diesem ver-
wandt und Vorläufer desselben sind, in ihr zünden, und so z. B. den
jetzigen Dichter gerade die Stoffe ergreifen, in denen eine gährende Zeit
wie die unsrige zu Tage liegt. Man muß dem Naturgesetz der Anziehung
etwas zutrauen; der ächte Jagdhund frißt kein Geflügel. Ebenso verhält
es sich mit dem Charakter. Sein Pathos darf und muß in Reinheit
herausgebildet, seine Motive müssen erweitert, aber kein anderes Pathos,
keine wesentlich anderen Motive dürfen ihm geliehen werden, wie wenn
z B. ein an Entstellung der Geschichte gewöhntes Subject einen Luther,
Gustav Adolf nach extrem katholischer Ansicht behandeln wollte. Belehrend ist
Göthes Behandlung des Egmont. So wie er war, konnte er ihn nicht
brauchen, aber so wie er ihn idealisirt hat, durfte er ihn nicht idealisiren.
Das schöne Jünglingsbild widerspricht dem Bilde des Familienvaters, der
aus Sorge um die Seinen, aber auch aus Mangel an politischer Energie
in sein Verderben rennt, zu sehr; gleich sind sich beide nur durch den
Mangel an Intensivität für den politischen Zweck. Göthe hat freilich nicht
nur die Geschichte, sondern zugleich das Wesen der Tragödie verletzt.
Konnte Egmont anders nicht gehoben werden, als so, so war er gar kein
dramatischer Stoff.

Was nun die Begebenheit und das Schicksal betrifft, so hat die
Phantasie das gute Recht, Solches, was in nicht allzuferner Zeit der Haupt-
handlung Verwandtes geschah, heranzurücken, gleichzeitiges Fremdartiges
aber auszustoßen. So wäre z. B. ein schöner dramatischer Stoff Franz
von Sickingen, sein zu frühes Losschlagen für den großen Plan, die päbst-

Gehalt, der im Götz von Berlichingen lag, nicht erfaßt, nicht erſchöpft, das
Ende der Ritterzeit, der Bauernkrieg, die Reformation boten ganz andere Mo-
tive; da er aber doch als wahre Dichternatur von ſeinem Stoffe begeiſtert war,
ſo faßte er andere, ebenfalls weſentliche Seiten in demſelben auf und dieſe wa-
ren ganz geeignet, in die Stimmung der Sturm- und Drangperiode als er-
höhende Kraft gehoben zu werden: die Natürlichkeit, die derbe Treu-
herzigkeit auf der einen, das Ende der Einfalt des Herzens, die Willkühr,
die Weltlichkeit, der Kampf der Neigung mit der Pflicht auf der andern
Seite. Dagegen hat Leſſing aus purer Reflexion einen Stoff aus der
römiſchen Geſchichte gewählt, um gegen die Natur deſſelben eine mo-
derne ſociale und ſittliche Frage, und ebenſo einen Stoff aus den Kreuz-
zügen, um gegen die Natur deſſelben die Idee der Toleranz, Aufklärung,
Humanität hineinzulegen. Nicht ebenſogroß iſt der Widerſpruch des Stoffs
des Don Carlos und der von Schiller in ihn gelegten Zeit-Ideen.

Hier war vom ganzen Zeitbewußtſein die Rede. Es muß noch
hinzugeſetzt werden, daß dafür geſorgt iſt, daß die wahrhaft phantaſiebe-
gabte Natur die Stoffe in dieſem Sinn recht behandle; denn iſt ſie erfüllt
vom Pathos ihrer Zeit, ſo werden auch eben die Stoffe, die dieſem ver-
wandt und Vorläufer deſſelben ſind, in ihr zünden, und ſo z. B. den
jetzigen Dichter gerade die Stoffe ergreifen, in denen eine gährende Zeit
wie die unſrige zu Tage liegt. Man muß dem Naturgeſetz der Anziehung
etwas zutrauen; der ächte Jagdhund frißt kein Geflügel. Ebenſo verhält
es ſich mit dem Charakter. Sein Pathos darf und muß in Reinheit
herausgebildet, ſeine Motive müſſen erweitert, aber kein anderes Pathos,
keine weſentlich anderen Motive dürfen ihm geliehen werden, wie wenn
z B. ein an Entſtellung der Geſchichte gewöhntes Subject einen Luther,
Guſtav Adolf nach extrem katholiſcher Anſicht behandeln wollte. Belehrend iſt
Göthes Behandlung des Egmont. So wie er war, konnte er ihn nicht
brauchen, aber ſo wie er ihn idealiſirt hat, durfte er ihn nicht idealiſiren.
Das ſchöne Jünglingsbild widerſpricht dem Bilde des Familienvaters, der
aus Sorge um die Seinen, aber auch aus Mangel an politiſcher Energie
in ſein Verderben rennt, zu ſehr; gleich ſind ſich beide nur durch den
Mangel an Intenſivität für den politiſchen Zweck. Göthe hat freilich nicht
nur die Geſchichte, ſondern zugleich das Weſen der Tragödie verletzt.
Konnte Egmont anders nicht gehoben werden, als ſo, ſo war er gar kein
dramatiſcher Stoff.

Was nun die Begebenheit und das Schickſal betrifft, ſo hat die
Phantaſie das gute Recht, Solches, was in nicht allzuferner Zeit der Haupt-
handlung Verwandtes geſchah, heranzurücken, gleichzeitiges Fremdartiges
aber auszuſtoßen. So wäre z. B. ein ſchöner dramatiſcher Stoff Franz
von Sickingen, ſein zu frühes Losſchlagen für den großen Plan, die päbſt-

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[367/0081] Gehalt, der im Götz von Berlichingen lag, nicht erfaßt, nicht erſchöpft, das Ende der Ritterzeit, der Bauernkrieg, die Reformation boten ganz andere Mo- tive; da er aber doch als wahre Dichternatur von ſeinem Stoffe begeiſtert war, ſo faßte er andere, ebenfalls weſentliche Seiten in demſelben auf und dieſe wa- ren ganz geeignet, in die Stimmung der Sturm- und Drangperiode als er- höhende Kraft gehoben zu werden: die Natürlichkeit, die derbe Treu- herzigkeit auf der einen, das Ende der Einfalt des Herzens, die Willkühr, die Weltlichkeit, der Kampf der Neigung mit der Pflicht auf der andern Seite. Dagegen hat Leſſing aus purer Reflexion einen Stoff aus der römiſchen Geſchichte gewählt, um gegen die Natur deſſelben eine mo- derne ſociale und ſittliche Frage, und ebenſo einen Stoff aus den Kreuz- zügen, um gegen die Natur deſſelben die Idee der Toleranz, Aufklärung, Humanität hineinzulegen. Nicht ebenſogroß iſt der Widerſpruch des Stoffs des Don Carlos und der von Schiller in ihn gelegten Zeit-Ideen. Hier war vom ganzen Zeitbewußtſein die Rede. Es muß noch hinzugeſetzt werden, daß dafür geſorgt iſt, daß die wahrhaft phantaſiebe- gabte Natur die Stoffe in dieſem Sinn recht behandle; denn iſt ſie erfüllt vom Pathos ihrer Zeit, ſo werden auch eben die Stoffe, die dieſem ver- wandt und Vorläufer deſſelben ſind, in ihr zünden, und ſo z. B. den jetzigen Dichter gerade die Stoffe ergreifen, in denen eine gährende Zeit wie die unſrige zu Tage liegt. Man muß dem Naturgeſetz der Anziehung etwas zutrauen; der ächte Jagdhund frißt kein Geflügel. Ebenſo verhält es ſich mit dem Charakter. Sein Pathos darf und muß in Reinheit herausgebildet, ſeine Motive müſſen erweitert, aber kein anderes Pathos, keine weſentlich anderen Motive dürfen ihm geliehen werden, wie wenn z B. ein an Entſtellung der Geſchichte gewöhntes Subject einen Luther, Guſtav Adolf nach extrem katholiſcher Anſicht behandeln wollte. Belehrend iſt Göthes Behandlung des Egmont. So wie er war, konnte er ihn nicht brauchen, aber ſo wie er ihn idealiſirt hat, durfte er ihn nicht idealiſiren. Das ſchöne Jünglingsbild widerſpricht dem Bilde des Familienvaters, der aus Sorge um die Seinen, aber auch aus Mangel an politiſcher Energie in ſein Verderben rennt, zu ſehr; gleich ſind ſich beide nur durch den Mangel an Intenſivität für den politiſchen Zweck. Göthe hat freilich nicht nur die Geſchichte, ſondern zugleich das Weſen der Tragödie verletzt. Konnte Egmont anders nicht gehoben werden, als ſo, ſo war er gar kein dramatiſcher Stoff. Was nun die Begebenheit und das Schickſal betrifft, ſo hat die Phantaſie das gute Recht, Solches, was in nicht allzuferner Zeit der Haupt- handlung Verwandtes geſchah, heranzurücken, gleichzeitiges Fremdartiges aber auszuſtoßen. So wäre z. B. ein ſchöner dramatiſcher Stoff Franz von Sickingen, ſein zu frühes Losſchlagen für den großen Plan, die päbſt-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 367. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/81>, abgerufen am 27.11.2024.