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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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Unser Gang bestätigt sich auch hier als der rechte, der diese Anti-
nomie löst; wir schickten die Naturschönheit voraus, stiegen erst von da
zur Phantasie auf, stellten den Zufall des Ergriffenwerdens von einem
naturschönen Objecte auf den Uebergang, fiengen daher nicht mit dem
Begriffe der Autonomie der Phantasie an, schlossen das Wählen, an
welchem Rötscher noch hält, aus und ließen die Autonomie als Umgestal-
tung des in das Subject eingegangenen Stoffes erst werden. So er-
ledigt sich nun im Prinzip Alles durch den Begriff, daß der naturschöne
Gegenstand Stoff wird. Es folgt daraus sogleich, daß der Gegenstand
zwar seine ganze zum Individuum gewordene Gattungsnatur behalten,
daß er aber ebensosehr auf allen Punkten geläutert und gehoben werden
muß. Er bleibt ebensosehr, was er ist, als er ganz ein anderer wird;
das Subject erfüllt ihn mit seiner ganzen Tiefe und diese wurzelt ganz
in der Zeitbildung des Subjects, aber dieser Gegenstand ist in diese
Tiefe eingegangen und es kann gar nicht gefragt werden, ob es auch er-
laubt sei, ihn gegen seine Natur zu behandeln. Ebensowenig, als ich,
wenn mich der Frühling begeistert, die Stimmung des Winters in ihn kann
legen wollen, ebensowenig kann ich, wenn mich ein griechischer Stoff be-
geistert, die Stimmung des Subjects, wie sie wesentlich durch den Bruch mit
der objectiven Lebensform bedingt ist, in ihn legen wollen, sondern nur
in allem dem, was als allgemein Menschliches trotz dem Unterschied der
Zeiten die Herzen noch heute so bewegt, wie die der Griechen, kann ich
ihn zu unmittelbarer Sympathie mit unserer Zeit erhöhen, nur so weit
kann ich ihn in die zartere Sitte, die tiefere Resonanz der Empfindung,
die strengere Moral meines Jahrhunderts herüberheben, als möglich ist,
ohne den Grundton zu verletzen. Ich bin Kind meiner Zeit, aber jetzt
lasse ich nur die Saiten des Zeitbewußtseins spielen, welche in einer gei-
stigen Linie mit dem antiken Leben zusammenhängen. So ist im englischen
Charakter Vieles, was dem Antiken direct widerspricht, der barockste Ei-
gensinn der originellen Individualität u. s. w., aber auch viel dem römi-
schen Charakter Verwandtes, die praktische Schärfe, die unbarmherzige
Politik, die pralle Größe, die energische Herrscherkraft; als nun Shakes-
peare von römischen Stoffen begeistert wurde, legte er dieß, nicht aber
jenes in sie, und seine Römer blieben Römer, während sie "ganz Eng-
länder wurden." Einen weiten Sprung über die Zeiten nahm ebender-
selbe Dichter, als er die gebrochene germanische Innerlichkeit, die skeptische
Subjectivität der neuen Zeit in den altergrauen Stoff von dem Prinzen
Hamlet legte; aber dieser Stoff gab ihm doch germanische Natur, Ahnungs-
tiefe und List unter scheinbarem Blödsinn, an die Hand und da waren die
Fäden der Anknüpfung gegeben. Uebrigens läßt ein dunkler Sagenstoff na-
türlich mehr Eintragung zu, als ein heller geschichtlicher. Göthe hat den großen

Unſer Gang beſtätigt ſich auch hier als der rechte, der dieſe Anti-
nomie löſt; wir ſchickten die Naturſchönheit voraus, ſtiegen erſt von da
zur Phantaſie auf, ſtellten den Zufall des Ergriffenwerdens von einem
naturſchönen Objecte auf den Uebergang, fiengen daher nicht mit dem
Begriffe der Autonomie der Phantaſie an, ſchloſſen das Wählen, an
welchem Rötſcher noch hält, aus und ließen die Autonomie als Umgeſtal-
tung des in das Subject eingegangenen Stoffes erſt werden. So er-
ledigt ſich nun im Prinzip Alles durch den Begriff, daß der naturſchöne
Gegenſtand Stoff wird. Es folgt daraus ſogleich, daß der Gegenſtand
zwar ſeine ganze zum Individuum gewordene Gattungsnatur behalten,
daß er aber ebenſoſehr auf allen Punkten geläutert und gehoben werden
muß. Er bleibt ebenſoſehr, was er iſt, als er ganz ein anderer wird;
das Subject erfüllt ihn mit ſeiner ganzen Tiefe und dieſe wurzelt ganz
in der Zeitbildung des Subjects, aber dieſer Gegenſtand iſt in dieſe
Tiefe eingegangen und es kann gar nicht gefragt werden, ob es auch er-
laubt ſei, ihn gegen ſeine Natur zu behandeln. Ebenſowenig, als ich,
wenn mich der Frühling begeiſtert, die Stimmung des Winters in ihn kann
legen wollen, ebenſowenig kann ich, wenn mich ein griechiſcher Stoff be-
geiſtert, die Stimmung des Subjects, wie ſie weſentlich durch den Bruch mit
der objectiven Lebensform bedingt iſt, in ihn legen wollen, ſondern nur
in allem dem, was als allgemein Menſchliches trotz dem Unterſchied der
Zeiten die Herzen noch heute ſo bewegt, wie die der Griechen, kann ich
ihn zu unmittelbarer Sympathie mit unſerer Zeit erhöhen, nur ſo weit
kann ich ihn in die zartere Sitte, die tiefere Reſonanz der Empfindung,
die ſtrengere Moral meines Jahrhunderts herüberheben, als möglich iſt,
ohne den Grundton zu verletzen. Ich bin Kind meiner Zeit, aber jetzt
laſſe ich nur die Saiten des Zeitbewußtſeins ſpielen, welche in einer gei-
ſtigen Linie mit dem antiken Leben zuſammenhängen. So iſt im engliſchen
Charakter Vieles, was dem Antiken direct widerſpricht, der barockſte Ei-
genſinn der originellen Individualität u. ſ. w., aber auch viel dem römi-
ſchen Charakter Verwandtes, die praktiſche Schärfe, die unbarmherzige
Politik, die pralle Größe, die energiſche Herrſcherkraft; als nun Shakes-
peare von römiſchen Stoffen begeiſtert wurde, legte er dieß, nicht aber
jenes in ſie, und ſeine Römer blieben Römer, während ſie „ganz Eng-
länder wurden.“ Einen weiten Sprung über die Zeiten nahm ebender-
ſelbe Dichter, als er die gebrochene germaniſche Innerlichkeit, die ſkeptiſche
Subjectivität der neuen Zeit in den altergrauen Stoff von dem Prinzen
Hamlet legte; aber dieſer Stoff gab ihm doch germaniſche Natur, Ahnungs-
tiefe und Liſt unter ſcheinbarem Blödſinn, an die Hand und da waren die
Fäden der Anknüpfung gegeben. Uebrigens läßt ein dunkler Sagenſtoff na-
türlich mehr Eintragung zu, als ein heller geſchichtlicher. Göthe hat den großen

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[366/0080] Unſer Gang beſtätigt ſich auch hier als der rechte, der dieſe Anti- nomie löſt; wir ſchickten die Naturſchönheit voraus, ſtiegen erſt von da zur Phantaſie auf, ſtellten den Zufall des Ergriffenwerdens von einem naturſchönen Objecte auf den Uebergang, fiengen daher nicht mit dem Begriffe der Autonomie der Phantaſie an, ſchloſſen das Wählen, an welchem Rötſcher noch hält, aus und ließen die Autonomie als Umgeſtal- tung des in das Subject eingegangenen Stoffes erſt werden. So er- ledigt ſich nun im Prinzip Alles durch den Begriff, daß der naturſchöne Gegenſtand Stoff wird. Es folgt daraus ſogleich, daß der Gegenſtand zwar ſeine ganze zum Individuum gewordene Gattungsnatur behalten, daß er aber ebenſoſehr auf allen Punkten geläutert und gehoben werden muß. Er bleibt ebenſoſehr, was er iſt, als er ganz ein anderer wird; das Subject erfüllt ihn mit ſeiner ganzen Tiefe und dieſe wurzelt ganz in der Zeitbildung des Subjects, aber dieſer Gegenſtand iſt in dieſe Tiefe eingegangen und es kann gar nicht gefragt werden, ob es auch er- laubt ſei, ihn gegen ſeine Natur zu behandeln. Ebenſowenig, als ich, wenn mich der Frühling begeiſtert, die Stimmung des Winters in ihn kann legen wollen, ebenſowenig kann ich, wenn mich ein griechiſcher Stoff be- geiſtert, die Stimmung des Subjects, wie ſie weſentlich durch den Bruch mit der objectiven Lebensform bedingt iſt, in ihn legen wollen, ſondern nur in allem dem, was als allgemein Menſchliches trotz dem Unterſchied der Zeiten die Herzen noch heute ſo bewegt, wie die der Griechen, kann ich ihn zu unmittelbarer Sympathie mit unſerer Zeit erhöhen, nur ſo weit kann ich ihn in die zartere Sitte, die tiefere Reſonanz der Empfindung, die ſtrengere Moral meines Jahrhunderts herüberheben, als möglich iſt, ohne den Grundton zu verletzen. Ich bin Kind meiner Zeit, aber jetzt laſſe ich nur die Saiten des Zeitbewußtſeins ſpielen, welche in einer gei- ſtigen Linie mit dem antiken Leben zuſammenhängen. So iſt im engliſchen Charakter Vieles, was dem Antiken direct widerſpricht, der barockſte Ei- genſinn der originellen Individualität u. ſ. w., aber auch viel dem römi- ſchen Charakter Verwandtes, die praktiſche Schärfe, die unbarmherzige Politik, die pralle Größe, die energiſche Herrſcherkraft; als nun Shakes- peare von römiſchen Stoffen begeiſtert wurde, legte er dieß, nicht aber jenes in ſie, und ſeine Römer blieben Römer, während ſie „ganz Eng- länder wurden.“ Einen weiten Sprung über die Zeiten nahm ebender- ſelbe Dichter, als er die gebrochene germaniſche Innerlichkeit, die ſkeptiſche Subjectivität der neuen Zeit in den altergrauen Stoff von dem Prinzen Hamlet legte; aber dieſer Stoff gab ihm doch germaniſche Natur, Ahnungs- tiefe und Liſt unter ſcheinbarem Blödſinn, an die Hand und da waren die Fäden der Anknüpfung gegeben. Uebrigens läßt ein dunkler Sagenſtoff na- türlich mehr Eintragung zu, als ein heller geſchichtlicher. Göthe hat den großen

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 366. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/80>, abgerufen am 22.11.2024.