Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

Bild:
<< vorherige Seite

die Einheit der Idee versammelt und das Ganze an seinen Grenzen scharf ab-
schneidet. Je reicher und erfüllter die Idee, desto mehr stellt sich im Ideals
diese Massenorganistrende Wirkung der Phantasie in's Licht.

Eigentlich ist, was wir hier aufführen, nichts Anderes, als eben der
zusammenziehende Act §. 396. Indem er das Positive im Gebilde in's
Unendliche verstärkt, so zieht er die Formen, worin sich dieses dar-
stellt, heraus wie aus einer Einklemmung. So sind im menschlichen Kör-
per immer einige Glieder nicht frei herausgewickelt, stecken und kleben
ineinander; was der Italiener desinvoltura nennt, ist sehr selten, voll-
kommen nie vorhanden. Indem jener Act das Störende ausscheidet, rückt
er die Formen zugleich ebenso energisch zusammen. Dieß findet selbst
bei dem geringsten Gegenstande Statt, und wäre es nur eine Erdbildung,
eine Pflanze, denn jedes Seiende ist Einheit in Vielheit; die ganze Be-
deutung dieses Gliederns aber tritt in dem Grade erst in volles Licht, in
welchem der Gegenstand ein so erfüllter und großer ist, daß die Momente
außerhalb dieses Zusammenhangs selbstständige Ganze wären, am meisten
also in einer menschlichen Handlung, welche durch Zusammenwirken vieler
Personen sich bildet, die selbst wieder zu Gruppen, welche untergeordnete
Ganze im Ganzen darstellen, sich zusammenordnen. Dieß Binden und
Auseinanderhalten, dieß Kerben, Punkte Setzen, Einschneiden und ebenso
fließend Vereinigen ist zugleich wesentlich ein strenges Abschließen der
Grenze. Zwar greift schon die Anschauung (§. 385) ihren Gegenstand
aus der Masse heraus, allein sie nimmt doch eine unbestimmte Menge
gemeiner Erscheinungen, obwohl ohne Betonung, in die Wahrnehmung
mit auf. Die Phantasie wirft diese weg, schneidet, dem Handwerker
gleich, der heraushängende Reste eines Stoffes mit scharfem Messer löst,
die Umgrenzungen klar ab und der Rahmen ihres Gemäldes zeigt die
sichere Linie, wo das Bedeutende aufhört und das, was in diesem Zu-
sammenhang nichts ist, anfängt. So verläuft sich eine Begebenheit in der
Geschichte unbestimmt. Die Phantasie schüttelt alle anklebende Erde streng
ab und hebt das Wesentliche aus dem Geschlinge umgebender Wurzeln.
Dieß Alles erhält jedoch seine ganze Bedeutung in der Kunst, wo die
Phantasiethätigkeit, indem sie praktisch wird, erst auf die eigentlichen
Schwierigkeiten stößt. Will man sich davon ein rechtes Bild machen,
so lese man Göthe's treffliche Zergliederung von Leonardo da Vinci's
Abendmahl; das erschöpfendste Beispiel aber gibt das Drama. Zu jenen
Worten des Dichters, die wir zu §. 40 anführten, zu jenem treffenden
Bilde von des Fadens ewiger Länge, den die Natur gleichgültig drehend
auf die Spindel zwingt, dürfen wir nun die weiteren setzen:


die Einheit der Idee verſammelt und das Ganze an ſeinen Grenzen ſcharf ab-
ſchneidet. Je reicher und erfüllter die Idee, deſto mehr ſtellt ſich im Ideals
dieſe Maſſenorganiſtrende Wirkung der Phantaſie in’s Licht.

Eigentlich iſt, was wir hier aufführen, nichts Anderes, als eben der
zuſammenziehende Act §. 396. Indem er das Poſitive im Gebilde in’s
Unendliche verſtärkt, ſo zieht er die Formen, worin ſich dieſes dar-
ſtellt, heraus wie aus einer Einklemmung. So ſind im menſchlichen Kör-
per immer einige Glieder nicht frei herausgewickelt, ſtecken und kleben
ineinander; was der Italiener desinvoltura nennt, iſt ſehr ſelten, voll-
kommen nie vorhanden. Indem jener Act das Störende ausſcheidet, rückt
er die Formen zugleich ebenſo energiſch zuſammen. Dieß findet ſelbſt
bei dem geringſten Gegenſtande Statt, und wäre es nur eine Erdbildung,
eine Pflanze, denn jedes Seiende iſt Einheit in Vielheit; die ganze Be-
deutung dieſes Gliederns aber tritt in dem Grade erſt in volles Licht, in
welchem der Gegenſtand ein ſo erfüllter und großer iſt, daß die Momente
außerhalb dieſes Zuſammenhangs ſelbſtſtändige Ganze wären, am meiſten
alſo in einer menſchlichen Handlung, welche durch Zuſammenwirken vieler
Perſonen ſich bildet, die ſelbſt wieder zu Gruppen, welche untergeordnete
Ganze im Ganzen darſtellen, ſich zuſammenordnen. Dieß Binden und
Auseinanderhalten, dieß Kerben, Punkte Setzen, Einſchneiden und ebenſo
fließend Vereinigen iſt zugleich weſentlich ein ſtrenges Abſchließen der
Grenze. Zwar greift ſchon die Anſchauung (§. 385) ihren Gegenſtand
aus der Maſſe heraus, allein ſie nimmt doch eine unbeſtimmte Menge
gemeiner Erſcheinungen, obwohl ohne Betonung, in die Wahrnehmung
mit auf. Die Phantaſie wirft dieſe weg, ſchneidet, dem Handwerker
gleich, der heraushängende Reſte eines Stoffes mit ſcharfem Meſſer löst,
die Umgrenzungen klar ab und der Rahmen ihres Gemäldes zeigt die
ſichere Linie, wo das Bedeutende aufhört und das, was in dieſem Zu-
ſammenhang nichts iſt, anfängt. So verläuft ſich eine Begebenheit in der
Geſchichte unbeſtimmt. Die Phantaſie ſchüttelt alle anklebende Erde ſtreng
ab und hebt das Weſentliche aus dem Geſchlinge umgebender Wurzeln.
Dieß Alles erhält jedoch ſeine ganze Bedeutung in der Kunſt, wo die
Phantaſiethätigkeit, indem ſie praktiſch wird, erſt auf die eigentlichen
Schwierigkeiten ſtößt. Will man ſich davon ein rechtes Bild machen,
ſo leſe man Göthe’s treffliche Zergliederung von Leonardo da Vinci’s
Abendmahl; das erſchöpfendſte Beiſpiel aber gibt das Drama. Zu jenen
Worten des Dichters, die wir zu §. 40 anführten, zu jenem treffenden
Bilde von des Fadens ewiger Länge, den die Natur gleichgültig drehend
auf die Spindel zwingt, dürfen wir nun die weiteren ſetzen:


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p> <hi rendition="#fr"><pb facs="#f0076" n="362"/>
die Einheit der Idee ver&#x017F;ammelt und das Ganze an &#x017F;einen Grenzen &#x017F;charf ab-<lb/>
&#x017F;chneidet. Je reicher und erfüllter die Idee, de&#x017F;to mehr &#x017F;tellt &#x017F;ich im Ideals<lb/>
die&#x017F;e Ma&#x017F;&#x017F;enorgani&#x017F;trende Wirkung der Phanta&#x017F;ie in&#x2019;s Licht.</hi> </p><lb/>
                  <p> <hi rendition="#et">Eigentlich i&#x017F;t, was wir hier aufführen, nichts Anderes, als eben der<lb/>
zu&#x017F;ammenziehende Act §. 396. Indem er das Po&#x017F;itive im Gebilde in&#x2019;s<lb/>
Unendliche ver&#x017F;tärkt, &#x017F;o zieht er die Formen, worin &#x017F;ich die&#x017F;es dar-<lb/>
&#x017F;tellt, heraus wie aus einer Einklemmung. So &#x017F;ind im men&#x017F;chlichen Kör-<lb/>
per immer einige Glieder nicht frei herausgewickelt, &#x017F;tecken und kleben<lb/>
ineinander; was der Italiener <hi rendition="#aq">desinvoltura</hi> nennt, i&#x017F;t &#x017F;ehr &#x017F;elten, voll-<lb/>
kommen nie vorhanden. Indem jener Act das Störende aus&#x017F;cheidet, rückt<lb/>
er die Formen zugleich eben&#x017F;o energi&#x017F;ch zu&#x017F;ammen. Dieß findet &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
bei dem gering&#x017F;ten Gegen&#x017F;tande Statt, und wäre es nur eine Erdbildung,<lb/>
eine Pflanze, denn jedes Seiende i&#x017F;t Einheit in Vielheit; die ganze Be-<lb/>
deutung die&#x017F;es Gliederns aber tritt in dem Grade er&#x017F;t in volles Licht, in<lb/>
welchem der Gegen&#x017F;tand ein &#x017F;o erfüllter und großer i&#x017F;t, daß die Momente<lb/>
außerhalb die&#x017F;es Zu&#x017F;ammenhangs &#x017F;elb&#x017F;t&#x017F;tändige Ganze wären, am mei&#x017F;ten<lb/>
al&#x017F;o in einer men&#x017F;chlichen Handlung, welche durch Zu&#x017F;ammenwirken vieler<lb/>
Per&#x017F;onen &#x017F;ich bildet, die &#x017F;elb&#x017F;t wieder zu Gruppen, welche untergeordnete<lb/>
Ganze im Ganzen dar&#x017F;tellen, &#x017F;ich zu&#x017F;ammenordnen. Dieß Binden und<lb/>
Auseinanderhalten, dieß Kerben, Punkte Setzen, Ein&#x017F;chneiden und eben&#x017F;o<lb/>
fließend Vereinigen i&#x017F;t zugleich we&#x017F;entlich ein &#x017F;trenges Ab&#x017F;chließen der<lb/>
Grenze. Zwar greift &#x017F;chon die An&#x017F;chauung (§. 385) ihren Gegen&#x017F;tand<lb/>
aus der Ma&#x017F;&#x017F;e heraus, allein &#x017F;ie nimmt doch eine unbe&#x017F;timmte Menge<lb/>
gemeiner Er&#x017F;cheinungen, obwohl ohne Betonung, in die Wahrnehmung<lb/>
mit auf. Die Phanta&#x017F;ie wirft die&#x017F;e weg, &#x017F;chneidet, dem Handwerker<lb/>
gleich, der heraushängende Re&#x017F;te eines Stoffes mit &#x017F;charfem Me&#x017F;&#x017F;er löst,<lb/>
die Umgrenzungen klar ab und der Rahmen ihres Gemäldes zeigt die<lb/>
&#x017F;ichere Linie, wo das Bedeutende aufhört und das, was in die&#x017F;em Zu-<lb/>
&#x017F;ammenhang nichts i&#x017F;t, anfängt. So verläuft &#x017F;ich eine Begebenheit in der<lb/>
Ge&#x017F;chichte unbe&#x017F;timmt. Die Phanta&#x017F;ie &#x017F;chüttelt alle anklebende Erde &#x017F;treng<lb/>
ab und hebt das We&#x017F;entliche aus dem Ge&#x017F;chlinge umgebender Wurzeln.<lb/>
Dieß Alles erhält jedoch &#x017F;eine ganze Bedeutung in der Kun&#x017F;t, wo die<lb/>
Phanta&#x017F;iethätigkeit, indem &#x017F;ie prakti&#x017F;ch wird, er&#x017F;t auf die eigentlichen<lb/>
Schwierigkeiten &#x017F;tößt. Will man &#x017F;ich davon ein rechtes Bild machen,<lb/>
&#x017F;o le&#x017F;e man Göthe&#x2019;s treffliche Zergliederung von Leonardo da Vinci&#x2019;s<lb/>
Abendmahl; das er&#x017F;chöpfend&#x017F;te Bei&#x017F;piel aber gibt das Drama. Zu jenen<lb/>
Worten des Dichters, die wir zu §. 40 anführten, zu jenem treffenden<lb/>
Bilde von des Fadens ewiger Länge, den die Natur gleichgültig drehend<lb/>
auf die Spindel zwingt, dürfen wir nun die weiteren &#x017F;etzen:</hi> </p><lb/>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[362/0076] die Einheit der Idee verſammelt und das Ganze an ſeinen Grenzen ſcharf ab- ſchneidet. Je reicher und erfüllter die Idee, deſto mehr ſtellt ſich im Ideals dieſe Maſſenorganiſtrende Wirkung der Phantaſie in’s Licht. Eigentlich iſt, was wir hier aufführen, nichts Anderes, als eben der zuſammenziehende Act §. 396. Indem er das Poſitive im Gebilde in’s Unendliche verſtärkt, ſo zieht er die Formen, worin ſich dieſes dar- ſtellt, heraus wie aus einer Einklemmung. So ſind im menſchlichen Kör- per immer einige Glieder nicht frei herausgewickelt, ſtecken und kleben ineinander; was der Italiener desinvoltura nennt, iſt ſehr ſelten, voll- kommen nie vorhanden. Indem jener Act das Störende ausſcheidet, rückt er die Formen zugleich ebenſo energiſch zuſammen. Dieß findet ſelbſt bei dem geringſten Gegenſtande Statt, und wäre es nur eine Erdbildung, eine Pflanze, denn jedes Seiende iſt Einheit in Vielheit; die ganze Be- deutung dieſes Gliederns aber tritt in dem Grade erſt in volles Licht, in welchem der Gegenſtand ein ſo erfüllter und großer iſt, daß die Momente außerhalb dieſes Zuſammenhangs ſelbſtſtändige Ganze wären, am meiſten alſo in einer menſchlichen Handlung, welche durch Zuſammenwirken vieler Perſonen ſich bildet, die ſelbſt wieder zu Gruppen, welche untergeordnete Ganze im Ganzen darſtellen, ſich zuſammenordnen. Dieß Binden und Auseinanderhalten, dieß Kerben, Punkte Setzen, Einſchneiden und ebenſo fließend Vereinigen iſt zugleich weſentlich ein ſtrenges Abſchließen der Grenze. Zwar greift ſchon die Anſchauung (§. 385) ihren Gegenſtand aus der Maſſe heraus, allein ſie nimmt doch eine unbeſtimmte Menge gemeiner Erſcheinungen, obwohl ohne Betonung, in die Wahrnehmung mit auf. Die Phantaſie wirft dieſe weg, ſchneidet, dem Handwerker gleich, der heraushängende Reſte eines Stoffes mit ſcharfem Meſſer löst, die Umgrenzungen klar ab und der Rahmen ihres Gemäldes zeigt die ſichere Linie, wo das Bedeutende aufhört und das, was in dieſem Zu- ſammenhang nichts iſt, anfängt. So verläuft ſich eine Begebenheit in der Geſchichte unbeſtimmt. Die Phantaſie ſchüttelt alle anklebende Erde ſtreng ab und hebt das Weſentliche aus dem Geſchlinge umgebender Wurzeln. Dieß Alles erhält jedoch ſeine ganze Bedeutung in der Kunſt, wo die Phantaſiethätigkeit, indem ſie praktiſch wird, erſt auf die eigentlichen Schwierigkeiten ſtößt. Will man ſich davon ein rechtes Bild machen, ſo leſe man Göthe’s treffliche Zergliederung von Leonardo da Vinci’s Abendmahl; das erſchöpfendſte Beiſpiel aber gibt das Drama. Zu jenen Worten des Dichters, die wir zu §. 40 anführten, zu jenem treffenden Bilde von des Fadens ewiger Länge, den die Natur gleichgültig drehend auf die Spindel zwingt, dürfen wir nun die weiteren ſetzen:

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/76
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 362. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/76>, abgerufen am 22.11.2024.