Schöpfungen sozusagen eine Menge von Abschnitzeln zur Seite fiel, nicht nur von Entwürfen, die er wieder verwarf, sondern von verwandten Bil- dern, die in unbestimmter Mischung das Hauptbild umgaukelten und in einem dunkeln Verhältniß der Anziehung und Abstoßung mit ihm spielten; daß er dann endlich Ernst machen und diesem Spiel einen Abschluß geben mußte. So fühlte Göthe in Betrachtung seines Faust eine Geisterschaar von Jugenderinnerungen in sich auftauchen, aus denen er einst das Ganze schuf, deren unbestimmterer Schattenzug aber dieses noch in der Erinne- rung ahnungsvoll umschwebte. Worin nun jener Abschluß bestehe, dieß ist das Geheimniß der Phantasie.
2. Zuerst geben wir die zu §. 53 schon angedeutete Stelle von Kant (Krit. d. ästh. Urthlskr. §. 17): "Es ist anzumerken, daß auf eine uns ganz unbegreifliche Art die Einbildungskraft nicht allein die Zeichen für Begriffe gelegentlich, selbst von langer Zeit her, zurückrufen, sondern auch das Bild und die Gestalt des Gegenstands aus einer unaussprechlichen Zahl von Gegenständen verschiedener Arten oder auch einer und derselben Art zu reproduciren, ja auch, wenn das Gemüth es auf Vergleichungen anlegt, allem Vermuthen nach wirklich, wenn gleich nicht hinreichend zum Bewußtsein, ein Bild gleichsam auf das andere fallen lassen und durch die Congruenz der mehreren derselben Art ein Mittleres herauszubekommen wisse, welches allen zum gemeinschaftlichen Maße dient. Jemand hat tau- send erwachsene Mannspersonen gesehen. Will er nun über die vergleichungs- weise zu schätzende Normalgröße urtheilen, so läßt (meiner Meinung nach) die Einbildungskraft eine große Zahl der Bilder (vielleicht alle jene tausend) aufeinanderfallen, und, wenn es mir erlaubt ist, hiebei die Analogie der optischen Darstellung anzuwenden, in dem Raum, wo die meinen sich vereinigen, und innerhalb dem Umrisse, wo der Platz mit der am stärksten aufgetragenen Farbe illuminirt ist, da wird die mittlere Größe kenntlich, die sowohl der Höhe als Breite nach von den äußersten Grenzen der größten und kleinsten Staturen gleich weit entfernt ist; und dieß ist die Statur für einen schönen Mann. (Man könnte eben dasselbe mechanisch herausbekommen, wenn man alle tausend mäße, ihre Höhen unter sich und Breiten (und Dicken) für sich zusammen addirte und die Summe durch tausend dividirte. Allein die Einbildungskraft thut ebendieß durch einen dynamischen Effect, der aus der vielfältigen Auffassung solcher Gestalten auf das Organ des inneren Sinnes entspringt.) -- Diese Normal-Idee ist nicht aus von der Erfahrung hergenommenen Proportionen als bestimm- ten Regeln abgeleitet, sondern nach ihr werden allererst Regeln der Beurtheilung möglich. Sie ist das zwischen allen einzelnen, auf mancher- lei Weise verschiedenen, Anschauungen der Individuen schwebende Bild für die ganze Gattung, welches die Natur zum Urbild ihren Erzeugungen
Schöpfungen ſozuſagen eine Menge von Abſchnitzeln zur Seite fiel, nicht nur von Entwürfen, die er wieder verwarf, ſondern von verwandten Bil- dern, die in unbeſtimmter Miſchung das Hauptbild umgaukelten und in einem dunkeln Verhältniß der Anziehung und Abſtoßung mit ihm ſpielten; daß er dann endlich Ernſt machen und dieſem Spiel einen Abſchluß geben mußte. So fühlte Göthe in Betrachtung ſeines Fauſt eine Geiſterſchaar von Jugenderinnerungen in ſich auftauchen, aus denen er einſt das Ganze ſchuf, deren unbeſtimmterer Schattenzug aber dieſes noch in der Erinne- rung ahnungsvoll umſchwebte. Worin nun jener Abſchluß beſtehe, dieß iſt das Geheimniß der Phantaſie.
2. Zuerſt geben wir die zu §. 53 ſchon angedeutete Stelle von Kant (Krit. d. äſth. Urthlskr. §. 17): „Es iſt anzumerken, daß auf eine uns ganz unbegreifliche Art die Einbildungskraft nicht allein die Zeichen für Begriffe gelegentlich, ſelbſt von langer Zeit her, zurückrufen, ſondern auch das Bild und die Geſtalt des Gegenſtands aus einer unausſprechlichen Zahl von Gegenſtänden verſchiedener Arten oder auch einer und derſelben Art zu reproduciren, ja auch, wenn das Gemüth es auf Vergleichungen anlegt, allem Vermuthen nach wirklich, wenn gleich nicht hinreichend zum Bewußtſein, ein Bild gleichſam auf das andere fallen laſſen und durch die Congruenz der mehreren derſelben Art ein Mittleres herauszubekommen wiſſe, welches allen zum gemeinſchaftlichen Maße dient. Jemand hat tau- ſend erwachſene Mannsperſonen geſehen. Will er nun über die vergleichungs- weiſe zu ſchätzende Normalgröße urtheilen, ſo läßt (meiner Meinung nach) die Einbildungskraft eine große Zahl der Bilder (vielleicht alle jene tauſend) aufeinanderfallen, und, wenn es mir erlaubt iſt, hiebei die Analogie der optiſchen Darſtellung anzuwenden, in dem Raum, wo die meinen ſich vereinigen, und innerhalb dem Umriſſe, wo der Platz mit der am ſtärkſten aufgetragenen Farbe illuminirt iſt, da wird die mittlere Größe kenntlich, die ſowohl der Höhe als Breite nach von den äußerſten Grenzen der größten und kleinſten Staturen gleich weit entfernt iſt; und dieß iſt die Statur für einen ſchönen Mann. (Man könnte eben daſſelbe mechaniſch herausbekommen, wenn man alle tauſend mäße, ihre Höhen unter ſich und Breiten (und Dicken) für ſich zuſammen addirte und die Summe durch tauſend dividirte. Allein die Einbildungskraft thut ebendieß durch einen dynamiſchen Effect, der aus der vielfältigen Auffaſſung ſolcher Geſtalten auf das Organ des inneren Sinnes entſpringt.) — Dieſe Normal-Idee iſt nicht aus von der Erfahrung hergenommenen Proportionen als beſtimm- ten Regeln abgeleitet, ſondern nach ihr werden allererſt Regeln der Beurtheilung möglich. Sie iſt das zwiſchen allen einzelnen, auf mancher- lei Weiſe verſchiedenen, Anſchauungen der Individuen ſchwebende Bild für die ganze Gattung, welches die Natur zum Urbild ihren Erzeugungen
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Schöpfungen ſozuſagen eine Menge von Abſchnitzeln zur Seite fiel, nicht
nur von Entwürfen, die er wieder verwarf, ſondern von verwandten Bil-
dern, die in unbeſtimmter Miſchung das Hauptbild umgaukelten und in
einem dunkeln Verhältniß der Anziehung und Abſtoßung mit ihm ſpielten;
daß er dann endlich Ernſt machen und dieſem Spiel einen Abſchluß geben
mußte. So fühlte Göthe in Betrachtung ſeines Fauſt eine Geiſterſchaar
von Jugenderinnerungen in ſich auftauchen, aus denen er einſt das Ganze
ſchuf, deren unbeſtimmterer Schattenzug aber dieſes noch in der Erinne-
rung ahnungsvoll umſchwebte. Worin nun jener Abſchluß beſtehe, dieß
iſt das Geheimniß der Phantaſie.
2. Zuerſt geben wir die zu §. 53 ſchon angedeutete Stelle von
Kant (Krit. d. äſth. Urthlskr. §. 17): „Es iſt anzumerken, daß auf eine
uns ganz unbegreifliche Art die Einbildungskraft nicht allein die Zeichen
für Begriffe gelegentlich, ſelbſt von langer Zeit her, zurückrufen, ſondern
auch das Bild und die Geſtalt des Gegenſtands aus einer unausſprechlichen
Zahl von Gegenſtänden verſchiedener Arten oder auch einer und derſelben
Art zu reproduciren, ja auch, wenn das Gemüth es auf Vergleichungen
anlegt, allem Vermuthen nach wirklich, wenn gleich nicht hinreichend zum
Bewußtſein, ein Bild gleichſam auf das andere fallen laſſen und durch die
Congruenz der mehreren derſelben Art ein Mittleres herauszubekommen
wiſſe, welches allen zum gemeinſchaftlichen Maße dient. Jemand hat tau-
ſend erwachſene Mannsperſonen geſehen. Will er nun über die vergleichungs-
weiſe zu ſchätzende Normalgröße urtheilen, ſo läßt (meiner Meinung nach)
die Einbildungskraft eine große Zahl der Bilder (vielleicht alle jene tauſend)
aufeinanderfallen, und, wenn es mir erlaubt iſt, hiebei die Analogie der
optiſchen Darſtellung anzuwenden, in dem Raum, wo die meinen ſich
vereinigen, und innerhalb dem Umriſſe, wo der Platz mit der am ſtärkſten
aufgetragenen Farbe illuminirt iſt, da wird die mittlere Größe
kenntlich, die ſowohl der Höhe als Breite nach von den äußerſten Grenzen
der größten und kleinſten Staturen gleich weit entfernt iſt; und dieß iſt
die Statur für einen ſchönen Mann. (Man könnte eben daſſelbe mechaniſch
herausbekommen, wenn man alle tauſend mäße, ihre Höhen unter ſich und
Breiten (und Dicken) für ſich zuſammen addirte und die Summe durch
tauſend dividirte. Allein die Einbildungskraft thut ebendieß durch einen
dynamiſchen Effect, der aus der vielfältigen Auffaſſung ſolcher Geſtalten
auf das Organ des inneren Sinnes entſpringt.) — Dieſe Normal-Idee
iſt nicht aus von der Erfahrung hergenommenen Proportionen als beſtimm-
ten Regeln abgeleitet, ſondern nach ihr werden allererſt Regeln der
Beurtheilung möglich. Sie iſt das zwiſchen allen einzelnen, auf mancher-
lei Weiſe verſchiedenen, Anſchauungen der Individuen ſchwebende Bild
für die ganze Gattung, welches die Natur zum Urbild ihren Erzeugungen
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 348. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/62>, abgerufen am 08.07.2024.
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