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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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Zufällig soll ein Naturschönes den Phantasiebegabten treffen und
entzünden. Göthe sagt, jedes wahre Gedicht sei Gelegenheitsgedicht. Die
Zufälligkeit, die wir bisher auf allen Punken festhalten mußten, geht hie-
mit auch in das subjective Gebiet als Ausgangspunkt der Bewegung ein.
Es folgt dieß nothwendig schon aus der eben aufgewiesenen Bedeutung
des Gegenstands. Geht der erste Anstoß nicht von diesem aus, so erhal-
ten wir immer einen Künstler, der einen Vorrath von Ideen fertig hat
und herumsucht, in welche Körper er sie willkührlich lege. Die Persönlich-
keit des Phantasiebegabten wird daher überhaupt etwas vom Charakter
der Zufälligkeit annehmen; ein sich Gehenlassen, Warten auf gute Stoffe,
periodische Unthätigkeit, dann gesteigerte Fruchtbarkeit werden ihn bezeichnen.
Dennoch schließt der Begriff des Zufälligen gewisse Formen der Absicht nicht
aus. Der Genius kann und muß nicht immer auf Stoffe warten, er
muß sie aufspüren, suchen. Maler machen Wanderungen, Reisen, Dichter
lesen Geschichtswerke, Novellen u. s. w.; absichtlich ist dabei nur die Durch-
suchung des Gebiets, der gute Stoff findet sich dennoch zufällig, überrascht,
erfaßt. Aehnlich verhält es sich mit der Bestellung. Die Phantasie, sagt
man, läßt sich nicht commandiren. Allein sobald wir voraussetzen, das
Bestellte sei ein guter Stoff, so ist die Bestellung nichts weiter als eine
Hinweisung auf denselben und ebenso ein Zufall, wie wenn der Künstler
den Stoff selbst gefunden hätte. Die erste Richtung seines Geistes auf
denselben ist ein Willensact, allein dann wird die Natur des Stoffes selbst
zu wirken beginnen und der unwillkührliche Fortgang, das einmal eröffnete
Spiel seines Innern, wird den willkührlichen Anfang aufheben. Man
muß ja hierin nicht zu haikel sein, Künstler sind gern weichlich, sie müssen
geschoben werden, es schadet ihnen gar nicht, wenn sie mitunter invita
Minerva
an's Werk müssen; verwerflich und vom Künstlerstolze billig ab-
gewiesen sind nur Bestellungen von Stoffen, welche ihnen nichts entgegen-
bringen, d h. keine Naturschönheit enthalten, elend war die Gelegenheits-
dichterei im früheren Sinne, das handwerksmäßige Verfertigen von Hoch-
zeits-Tauf-Leichen-Carmina um's Geld. Wenn wir nun so von dem
künstlerischen Schaffen die Absichtlichkeit, nur nicht allzuängstlich, ferne hal-
ten, so ist damit keineswegs gesagt, daß dieses ganze, auf Zufall gestell-
tes Thun nicht ein freies sei. Wir haben nur hier noch nicht zu unter-
suchen, in welchem Sinn der Künstler frei handle, in welchem nicht; aber
es versteht sich, daß, so wenig wir die eigene Idee des Künstlers aus-
schließen, wenn wir auf den Gegenstand dringen, der ihm seinen Ideen-
gehalt entgegenbringen soll, ebensowenig die Freiheit aufgehoben ist, wenn
wir Zufälligkeit der Anregung verlangen; ein Gegebenes, Gefundenes
umbilden beweist mehr Freiheit, als objectlos machen, was man mag.
Dennoch dürfen wir die naheliegende Einwendung nicht überhören: kann

Zufällig ſoll ein Naturſchönes den Phantaſiebegabten treffen und
entzünden. Göthe ſagt, jedes wahre Gedicht ſei Gelegenheitsgedicht. Die
Zufälligkeit, die wir bisher auf allen Punken feſthalten mußten, geht hie-
mit auch in das ſubjective Gebiet als Ausgangspunkt der Bewegung ein.
Es folgt dieß nothwendig ſchon aus der eben aufgewieſenen Bedeutung
des Gegenſtands. Geht der erſte Anſtoß nicht von dieſem aus, ſo erhal-
ten wir immer einen Künſtler, der einen Vorrath von Ideen fertig hat
und herumſucht, in welche Körper er ſie willkührlich lege. Die Perſönlich-
keit des Phantaſiebegabten wird daher überhaupt etwas vom Charakter
der Zufälligkeit annehmen; ein ſich Gehenlaſſen, Warten auf gute Stoffe,
periodiſche Unthätigkeit, dann geſteigerte Fruchtbarkeit werden ihn bezeichnen.
Dennoch ſchließt der Begriff des Zufälligen gewiſſe Formen der Abſicht nicht
aus. Der Genius kann und muß nicht immer auf Stoffe warten, er
muß ſie aufſpüren, ſuchen. Maler machen Wanderungen, Reiſen, Dichter
leſen Geſchichtswerke, Novellen u. ſ. w.; abſichtlich iſt dabei nur die Durch-
ſuchung des Gebiets, der gute Stoff findet ſich dennoch zufällig, überraſcht,
erfaßt. Aehnlich verhält es ſich mit der Beſtellung. Die Phantaſie, ſagt
man, läßt ſich nicht commandiren. Allein ſobald wir vorausſetzen, das
Beſtellte ſei ein guter Stoff, ſo iſt die Beſtellung nichts weiter als eine
Hinweiſung auf denſelben und ebenſo ein Zufall, wie wenn der Künſtler
den Stoff ſelbſt gefunden hätte. Die erſte Richtung ſeines Geiſtes auf
denſelben iſt ein Willensact, allein dann wird die Natur des Stoffes ſelbſt
zu wirken beginnen und der unwillkührliche Fortgang, das einmal eröffnete
Spiel ſeines Innern, wird den willkührlichen Anfang aufheben. Man
muß ja hierin nicht zu haikel ſein, Künſtler ſind gern weichlich, ſie müſſen
geſchoben werden, es ſchadet ihnen gar nicht, wenn ſie mitunter invita
Minerva
an’s Werk müſſen; verwerflich und vom Künſtlerſtolze billig ab-
gewieſen ſind nur Beſtellungen von Stoffen, welche ihnen nichts entgegen-
bringen, d h. keine Naturſchönheit enthalten, elend war die Gelegenheits-
dichterei im früheren Sinne, das handwerksmäßige Verfertigen von Hoch-
zeits-Tauf-Leichen-Carmina um’s Geld. Wenn wir nun ſo von dem
künſtleriſchen Schaffen die Abſichtlichkeit, nur nicht allzuängſtlich, ferne hal-
ten, ſo iſt damit keineswegs geſagt, daß dieſes ganze, auf Zufall geſtell-
tes Thun nicht ein freies ſei. Wir haben nur hier noch nicht zu unter-
ſuchen, in welchem Sinn der Künſtler frei handle, in welchem nicht; aber
es verſteht ſich, daß, ſo wenig wir die eigene Idee des Künſtlers aus-
ſchließen, wenn wir auf den Gegenſtand dringen, der ihm ſeinen Ideen-
gehalt entgegenbringen ſoll, ebenſowenig die Freiheit aufgehoben iſt, wenn
wir Zufälligkeit der Anregung verlangen; ein Gegebenes, Gefundenes
umbilden beweiſt mehr Freiheit, als objectlos machen, was man mag.
Dennoch dürfen wir die naheliegende Einwendung nicht überhören: kann

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[341/0055] Zufällig ſoll ein Naturſchönes den Phantaſiebegabten treffen und entzünden. Göthe ſagt, jedes wahre Gedicht ſei Gelegenheitsgedicht. Die Zufälligkeit, die wir bisher auf allen Punken feſthalten mußten, geht hie- mit auch in das ſubjective Gebiet als Ausgangspunkt der Bewegung ein. Es folgt dieß nothwendig ſchon aus der eben aufgewieſenen Bedeutung des Gegenſtands. Geht der erſte Anſtoß nicht von dieſem aus, ſo erhal- ten wir immer einen Künſtler, der einen Vorrath von Ideen fertig hat und herumſucht, in welche Körper er ſie willkührlich lege. Die Perſönlich- keit des Phantaſiebegabten wird daher überhaupt etwas vom Charakter der Zufälligkeit annehmen; ein ſich Gehenlaſſen, Warten auf gute Stoffe, periodiſche Unthätigkeit, dann geſteigerte Fruchtbarkeit werden ihn bezeichnen. Dennoch ſchließt der Begriff des Zufälligen gewiſſe Formen der Abſicht nicht aus. Der Genius kann und muß nicht immer auf Stoffe warten, er muß ſie aufſpüren, ſuchen. Maler machen Wanderungen, Reiſen, Dichter leſen Geſchichtswerke, Novellen u. ſ. w.; abſichtlich iſt dabei nur die Durch- ſuchung des Gebiets, der gute Stoff findet ſich dennoch zufällig, überraſcht, erfaßt. Aehnlich verhält es ſich mit der Beſtellung. Die Phantaſie, ſagt man, läßt ſich nicht commandiren. Allein ſobald wir vorausſetzen, das Beſtellte ſei ein guter Stoff, ſo iſt die Beſtellung nichts weiter als eine Hinweiſung auf denſelben und ebenſo ein Zufall, wie wenn der Künſtler den Stoff ſelbſt gefunden hätte. Die erſte Richtung ſeines Geiſtes auf denſelben iſt ein Willensact, allein dann wird die Natur des Stoffes ſelbſt zu wirken beginnen und der unwillkührliche Fortgang, das einmal eröffnete Spiel ſeines Innern, wird den willkührlichen Anfang aufheben. Man muß ja hierin nicht zu haikel ſein, Künſtler ſind gern weichlich, ſie müſſen geſchoben werden, es ſchadet ihnen gar nicht, wenn ſie mitunter invita Minerva an’s Werk müſſen; verwerflich und vom Künſtlerſtolze billig ab- gewieſen ſind nur Beſtellungen von Stoffen, welche ihnen nichts entgegen- bringen, d h. keine Naturſchönheit enthalten, elend war die Gelegenheits- dichterei im früheren Sinne, das handwerksmäßige Verfertigen von Hoch- zeits-Tauf-Leichen-Carmina um’s Geld. Wenn wir nun ſo von dem künſtleriſchen Schaffen die Abſichtlichkeit, nur nicht allzuängſtlich, ferne hal- ten, ſo iſt damit keineswegs geſagt, daß dieſes ganze, auf Zufall geſtell- tes Thun nicht ein freies ſei. Wir haben nur hier noch nicht zu unter- ſuchen, in welchem Sinn der Künſtler frei handle, in welchem nicht; aber es verſteht ſich, daß, ſo wenig wir die eigene Idee des Künſtlers aus- ſchließen, wenn wir auf den Gegenſtand dringen, der ihm ſeinen Ideen- gehalt entgegenbringen ſoll, ebenſowenig die Freiheit aufgehoben iſt, wenn wir Zufälligkeit der Anregung verlangen; ein Gegebenes, Gefundenes umbilden beweiſt mehr Freiheit, als objectlos machen, was man mag. Dennoch dürfen wir die naheliegende Einwendung nicht überhören: kann

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 341. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/55>, abgerufen am 24.11.2024.