thum des Gehalts bilde den Grad-Unterschied. Hiezu ist nur zu setzen, daß der Grad nicht nur auf den Gehalt gehen kann; der größere Dichter ist nicht nur gehaltvoller, sondern vermählt den Gehalt auch tiefer und umfassender auf der Form. Jenen Schritt eben sollen wir nun kennen lernen; aber nach der Seite des Gehalts müssen wir uns hier das Sub- ject feststellen, das ihn thun soll. Der Genius soll Alles vermenschlichen, Alles unendlich machen, in Alles eine Welt legen, daher muß er zuerst selbst eine Welt sein. Der Stoff mag sein, welcher er will, in die unbe- seelte Natur muß er so gut eine innere Unendlichkeit legen, als in eine menschlich sittliche Erscheinung. Jenes könnte höher scheinen, als dieses; darüber ist für jetzt nur so viel zu sagen: es gehört freilich ein reiches Herz dazu, das Sprachlose zu beseelen, in Erde, Wasser, Licht, Luft eine menschliche Stimmung zu legen, aber es kann auch die Tiefe und der entfaltete Reichthum da nicht hingelegt werden, den ein Object aus dem menschlichen Leben im Geiste des Phantasiebegabten antreffen muß. Wir können auf der jetzigen Stelle diese Tiefe, diesen Reichthum immer noch unbeschadet des Unterschieds der Objecte als eine im allgemeinern Sinne ethische Größe fassen; die Fähigkeit des Genius, sich in die verschiedensten Lebensformen zu versetzen, ihnen so in's Innere zu schauen, als hätte er sie selbst durchlebt, ist davon noch wohl zu unterscheiden und gehört bereits zum spezifischen Thun der Phantasie. Es handelt sich hier nur erst vom inneren Fond. Als einen ruhenden und fertigen Besitz dürfen wir diesen freilich auch hier nicht denken. In der Flüssigkeit und Wärme dieses Fond, in der reinen und allseitigen Theilnahme eines im Guten heimischen Gemüths haben wir den ersten Ansatz, die Vorbedingung der Selbstver- wandlung in die Objecte, diese Anlage des Dichters, daß "ihm das Universum leise in das Herz schlüpft und ungesehen darin ruht und der Dichtstunde wartet" (J. P. Fr. Richter a. a. O. §. 57).
2. Die negativen Bedingungen waren hier ebenfalls noch einmal (vergl. §. 389, 2.) zusammenzufassen und zu bestimmterer Vollständigkeit die Frage über religiöse Richtung mitaufzunehmen. Was nun zuerst das Sittliche betrifft, so liegen zweierlei Fragen vor. Die erste ist, ob der Phantasiebegabte spezifisch auf das Ethische gerichtet sein müsse oder dürfe? Er muß es nicht nur nicht, sondern darf es nicht. Dieß braucht nach §. 56 -- 60 keiner weitern Auseinandersetzung. Der spezifisch sittliche Charakter, d. h. derjenige, der zum Handeln, sei es pädagogisch, philan- thropisch, sozial überhaupt oder politisch, so disponirt ist, daß dieß seine ganze Lebensbestimmung bildet und ausprägt, bringt Alles unter den Gesichtspunkt des Sollens und kann daher nicht zur Schöpfung des reinen Scheins, der die Verwirklichung der Idee mit Einem Schlage vorausnimmt, berufen sein. Die andere Frage ist, wie weit die Forderung der Sitt-
thum des Gehalts bilde den Grad-Unterſchied. Hiezu iſt nur zu ſetzen, daß der Grad nicht nur auf den Gehalt gehen kann; der größere Dichter iſt nicht nur gehaltvoller, ſondern vermählt den Gehalt auch tiefer und umfaſſender auf der Form. Jenen Schritt eben ſollen wir nun kennen lernen; aber nach der Seite des Gehalts müſſen wir uns hier das Sub- ject feſtſtellen, das ihn thun ſoll. Der Genius ſoll Alles vermenſchlichen, Alles unendlich machen, in Alles eine Welt legen, daher muß er zuerſt ſelbſt eine Welt ſein. Der Stoff mag ſein, welcher er will, in die unbe- ſeelte Natur muß er ſo gut eine innere Unendlichkeit legen, als in eine menſchlich ſittliche Erſcheinung. Jenes könnte höher ſcheinen, als dieſes; darüber iſt für jetzt nur ſo viel zu ſagen: es gehört freilich ein reiches Herz dazu, das Sprachloſe zu beſeelen, in Erde, Waſſer, Licht, Luft eine menſchliche Stimmung zu legen, aber es kann auch die Tiefe und der entfaltete Reichthum da nicht hingelegt werden, den ein Object aus dem menſchlichen Leben im Geiſte des Phantaſiebegabten antreffen muß. Wir können auf der jetzigen Stelle dieſe Tiefe, dieſen Reichthum immer noch unbeſchadet des Unterſchieds der Objecte als eine im allgemeinern Sinne ethiſche Größe faſſen; die Fähigkeit des Genius, ſich in die verſchiedenſten Lebensformen zu verſetzen, ihnen ſo in’s Innere zu ſchauen, als hätte er ſie ſelbſt durchlebt, iſt davon noch wohl zu unterſcheiden und gehört bereits zum ſpezifiſchen Thun der Phantaſie. Es handelt ſich hier nur erſt vom inneren Fond. Als einen ruhenden und fertigen Beſitz dürfen wir dieſen freilich auch hier nicht denken. In der Flüſſigkeit und Wärme dieſes Fond, in der reinen und allſeitigen Theilnahme eines im Guten heimiſchen Gemüths haben wir den erſten Anſatz, die Vorbedingung der Selbſtver- wandlung in die Objecte, dieſe Anlage des Dichters, daß „ihm das Univerſum leiſe in das Herz ſchlüpft und ungeſehen darin ruht und der Dichtſtunde wartet“ (J. P. Fr. Richter a. a. O. §. 57).
2. Die negativen Bedingungen waren hier ebenfalls noch einmal (vergl. §. 389, 2.) zuſammenzufaſſen und zu beſtimmterer Vollſtändigkeit die Frage über religiöſe Richtung mitaufzunehmen. Was nun zuerſt das Sittliche betrifft, ſo liegen zweierlei Fragen vor. Die erſte iſt, ob der Phantaſiebegabte ſpezifiſch auf das Ethiſche gerichtet ſein müſſe oder dürfe? Er muß es nicht nur nicht, ſondern darf es nicht. Dieß braucht nach §. 56 — 60 keiner weitern Auseinanderſetzung. Der ſpezifiſch ſittliche Charakter, d. h. derjenige, der zum Handeln, ſei es pädagogiſch, philan- thropiſch, ſozial überhaupt oder politiſch, ſo diſponirt iſt, daß dieß ſeine ganze Lebensbeſtimmung bildet und ausprägt, bringt Alles unter den Geſichtspunkt des Sollens und kann daher nicht zur Schöpfung des reinen Scheins, der die Verwirklichung der Idee mit Einem Schlage vorausnimmt, berufen ſein. Die andere Frage iſt, wie weit die Forderung der Sitt-
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Alles unendlich machen, in Alles eine Welt legen, daher muß er zuerſt
ſelbſt eine Welt ſein. Der Stoff mag ſein, welcher er will, in die unbe-
ſeelte Natur muß er ſo gut eine innere Unendlichkeit legen, als in eine
menſchlich ſittliche Erſcheinung. Jenes könnte höher ſcheinen, als dieſes;
darüber iſt für jetzt nur ſo viel zu ſagen: es gehört freilich ein reiches
Herz dazu, das Sprachloſe zu beſeelen, in Erde, Waſſer, Licht, Luft eine
menſchliche Stimmung zu legen, aber es kann auch die Tiefe und der
entfaltete Reichthum da nicht hingelegt werden, den ein Object aus dem
menſchlichen Leben im Geiſte des Phantaſiebegabten antreffen muß. Wir
können auf der jetzigen Stelle dieſe Tiefe, dieſen Reichthum immer noch
unbeſchadet des Unterſchieds der Objecte als eine im allgemeinern Sinne
ethiſche Größe faſſen; die Fähigkeit des Genius, ſich in die verſchiedenſten
Lebensformen zu verſetzen, ihnen ſo in’s Innere zu ſchauen, als hätte er
ſie ſelbſt durchlebt, iſt davon noch wohl zu unterſcheiden und gehört bereits
zum ſpezifiſchen Thun der Phantaſie. Es handelt ſich hier nur erſt vom
inneren Fond. Als einen ruhenden und fertigen Beſitz dürfen wir dieſen
freilich auch hier nicht denken. In der Flüſſigkeit und Wärme dieſes
Fond, in der reinen und allſeitigen Theilnahme eines im Guten heimiſchen
Gemüths haben wir den erſten Anſatz, die Vorbedingung der Selbſtver-
wandlung in die Objecte, dieſe Anlage des Dichters, daß „ihm das
Univerſum leiſe in das Herz ſchlüpft und ungeſehen darin ruht und der
Dichtſtunde wartet“ (J. P. Fr. Richter a. a. O. §. 57).
2. Die negativen Bedingungen waren hier ebenfalls noch einmal
(vergl. §. 389, 2.) zuſammenzufaſſen und zu beſtimmterer Vollſtändigkeit
die Frage über religiöſe Richtung mitaufzunehmen. Was nun zuerſt
das Sittliche betrifft, ſo liegen zweierlei Fragen vor. Die erſte iſt, ob der
Phantaſiebegabte ſpezifiſch auf das Ethiſche gerichtet ſein müſſe oder dürfe?
Er muß es nicht nur nicht, ſondern darf es nicht. Dieß braucht nach
§. 56 — 60 keiner weitern Auseinanderſetzung. Der ſpezifiſch ſittliche
Charakter, d. h. derjenige, der zum Handeln, ſei es pädagogiſch, philan-
thropiſch, ſozial überhaupt oder politiſch, ſo diſponirt iſt, daß dieß ſeine
ganze Lebensbeſtimmung bildet und ausprägt, bringt Alles unter den
Geſichtspunkt des Sollens und kann daher nicht zur Schöpfung des reinen
Scheins, der die Verwirklichung der Idee mit Einem Schlage vorausnimmt,
berufen ſein. Die andere Frage iſt, wie weit die Forderung der Sitt-
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 336. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/50>, abgerufen am 16.02.2025.
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