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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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natürlich während des Traumes nicht erfahren; im Wachen zwar kann
sich der Geist auf sie zurückwenden, allein sie liegen seiner wachen Welt
zu fern, um sie anders, als spielend, in die Betrachtung zu nehmen. Die
Frage nach einem möglichen prophetischen Gehalte des Traums, Traum-
deutung und gar einem Handeln infolge derselben, liegt uns hier ohnedieß
völlig abwegs. Von dem Phantasie-Begabten kann man aus diesen
Gründen nur soviel sagen, daß er lebhaft träumen und daß sich dadurch
diejenige Thätigkeit, durch die er die Schönheit erzeugt, eine weitere Masse
von Bildern voranschicken werde, die durch ihre sich reibende Fülle und
Vielheit der wahren Umbildung, welche sie erfahren soll, vorausarbeitet.
Eine besondere Thätigkeit derjenigen Nervengegend, welche bei der Ruhe
des Gehirns die Träume vermittelt, der Ganglien, ist daher allerdings bei
Phantasiebegabten Naturen anzunehmen. Der nüchterne Lessing träumte
fast gar nicht. Schon Plato und Aristoteles sind geneigt, im Leben des
Unterleibs die locale Vermittlung der Phantasie zu suchen; Plato verlegt
den Sitz des dichterischen, prophetischen Wahnsinns in die Leber (Timäus);
Aristoteles (Problem. 30, 1 ff.) leitet das Genie aus einer besondern Wärme
der schwarzen Galle ab und behauptet, alle genialen Männer seien Me-
lancholiker (vergl. Ed. Müller Gesch. d. Theorie und Kunst bei den
Alten B. 2. S. 32.) Soviel ist gewiß, daß die phantasievollen Naturen
launisch, reizbar, Kinder der Stimmung sind, und man wird den nächsten
physiologischen Grund immerhin in einer erregbaren Disposition der Or-
gane suchen müssen, die auch die Verdauung besorgen; sie neigen zur
Hypochondrie, sind schreckhaft und Alterationen pflegen ihnen schnell den
Magen zu affiziren. Schreckhaft sind sie allerdings, weil ihnen die Ein-
bildungskraft rasch das Drohende verdoppelt, der Phantasielose wird immer
muthiger sein, denn es ist schon gesagt, daß wir das Bild mehr, als die
Sache, fürchten; die schnelle, ganz unmittelbare Entzündbarkeit der Ein-
bildung muß aber eben durch die besondere Stimmbarkeit des Nervenlebens
vermittelt sein. Meine man nicht, dieß heiße den Genius zu tief unten
suchen, denn wir sind jetzt noch in dem Gebiete, wo die Freiheit und Be-
sonnenheit abgeht; wir müssen wieder zu dem aufsteigen, was als höhere
Thätigkeit durch das Gehirn vermittelt ist.

Uebrigens versteht sich von selbst, daß die allgemeine Phantasie dem Ge-
biete des Traumes noch lebhaft sich öffnet, daß der Traum als Natur-
Act der Seele allgemein menschlich, nur reicher in den Begabten ist.

§. 391.

Subjectiv überhaupt ist zwar die Existenz des Schönen als Phantasie,
aber schon innerhalb des Subjectiven soll volle Objectivität entstehen, denn

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natürlich während des Traumes nicht erfahren; im Wachen zwar kann
ſich der Geiſt auf ſie zurückwenden, allein ſie liegen ſeiner wachen Welt
zu fern, um ſie anders, als ſpielend, in die Betrachtung zu nehmen. Die
Frage nach einem möglichen prophetiſchen Gehalte des Traums, Traum-
deutung und gar einem Handeln infolge derſelben, liegt uns hier ohnedieß
völlig abwegs. Von dem Phantaſie-Begabten kann man aus dieſen
Gründen nur ſoviel ſagen, daß er lebhaft träumen und daß ſich dadurch
diejenige Thätigkeit, durch die er die Schönheit erzeugt, eine weitere Maſſe
von Bildern voranſchicken werde, die durch ihre ſich reibende Fülle und
Vielheit der wahren Umbildung, welche ſie erfahren ſoll, vorausarbeitet.
Eine beſondere Thätigkeit derjenigen Nervengegend, welche bei der Ruhe
des Gehirns die Träume vermittelt, der Ganglien, iſt daher allerdings bei
Phantaſiebegabten Naturen anzunehmen. Der nüchterne Leſſing träumte
faſt gar nicht. Schon Plato und Ariſtoteles ſind geneigt, im Leben des
Unterleibs die locale Vermittlung der Phantaſie zu ſuchen; Plato verlegt
den Sitz des dichteriſchen, prophetiſchen Wahnſinns in die Leber (Timäus);
Ariſtoteles (Problem. 30, 1 ff.) leitet das Genie aus einer beſondern Wärme
der ſchwarzen Galle ab und behauptet, alle genialen Männer ſeien Me-
lancholiker (vergl. Ed. Müller Geſch. d. Theorie und Kunſt bei den
Alten B. 2. S. 32.) Soviel iſt gewiß, daß die phantaſievollen Naturen
launiſch, reizbar, Kinder der Stimmung ſind, und man wird den nächſten
phyſiologiſchen Grund immerhin in einer erregbaren Diſpoſition der Or-
gane ſuchen müſſen, die auch die Verdauung beſorgen; ſie neigen zur
Hypochondrie, ſind ſchreckhaft und Alterationen pflegen ihnen ſchnell den
Magen zu affiziren. Schreckhaft ſind ſie allerdings, weil ihnen die Ein-
bildungskraft raſch das Drohende verdoppelt, der Phantaſieloſe wird immer
muthiger ſein, denn es iſt ſchon geſagt, daß wir das Bild mehr, als die
Sache, fürchten; die ſchnelle, ganz unmittelbare Entzündbarkeit der Ein-
bildung muß aber eben durch die beſondere Stimmbarkeit des Nervenlebens
vermittelt ſein. Meine man nicht, dieß heiße den Genius zu tief unten
ſuchen, denn wir ſind jetzt noch in dem Gebiete, wo die Freiheit und Be-
ſonnenheit abgeht; wir müſſen wieder zu dem aufſteigen, was als höhere
Thätigkeit durch das Gehirn vermittelt iſt.

Uebrigens verſteht ſich von ſelbſt, daß die allgemeine Phantaſie dem Ge-
biete des Traumes noch lebhaft ſich öffnet, daß der Traum als Natur-
Act der Seele allgemein menſchlich, nur reicher in den Begabten iſt.

§. 391.

Subjectiv überhaupt iſt zwar die Exiſtenz des Schönen als Phantaſie,
aber ſchon innerhalb des Subjectiven ſoll volle Objectivität entſtehen, denn

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[333/0047] natürlich während des Traumes nicht erfahren; im Wachen zwar kann ſich der Geiſt auf ſie zurückwenden, allein ſie liegen ſeiner wachen Welt zu fern, um ſie anders, als ſpielend, in die Betrachtung zu nehmen. Die Frage nach einem möglichen prophetiſchen Gehalte des Traums, Traum- deutung und gar einem Handeln infolge derſelben, liegt uns hier ohnedieß völlig abwegs. Von dem Phantaſie-Begabten kann man aus dieſen Gründen nur ſoviel ſagen, daß er lebhaft träumen und daß ſich dadurch diejenige Thätigkeit, durch die er die Schönheit erzeugt, eine weitere Maſſe von Bildern voranſchicken werde, die durch ihre ſich reibende Fülle und Vielheit der wahren Umbildung, welche ſie erfahren ſoll, vorausarbeitet. Eine beſondere Thätigkeit derjenigen Nervengegend, welche bei der Ruhe des Gehirns die Träume vermittelt, der Ganglien, iſt daher allerdings bei Phantaſiebegabten Naturen anzunehmen. Der nüchterne Leſſing träumte faſt gar nicht. Schon Plato und Ariſtoteles ſind geneigt, im Leben des Unterleibs die locale Vermittlung der Phantaſie zu ſuchen; Plato verlegt den Sitz des dichteriſchen, prophetiſchen Wahnſinns in die Leber (Timäus); Ariſtoteles (Problem. 30, 1 ff.) leitet das Genie aus einer beſondern Wärme der ſchwarzen Galle ab und behauptet, alle genialen Männer ſeien Me- lancholiker (vergl. Ed. Müller Geſch. d. Theorie und Kunſt bei den Alten B. 2. S. 32.) Soviel iſt gewiß, daß die phantaſievollen Naturen launiſch, reizbar, Kinder der Stimmung ſind, und man wird den nächſten phyſiologiſchen Grund immerhin in einer erregbaren Diſpoſition der Or- gane ſuchen müſſen, die auch die Verdauung beſorgen; ſie neigen zur Hypochondrie, ſind ſchreckhaft und Alterationen pflegen ihnen ſchnell den Magen zu affiziren. Schreckhaft ſind ſie allerdings, weil ihnen die Ein- bildungskraft raſch das Drohende verdoppelt, der Phantaſieloſe wird immer muthiger ſein, denn es iſt ſchon geſagt, daß wir das Bild mehr, als die Sache, fürchten; die ſchnelle, ganz unmittelbare Entzündbarkeit der Ein- bildung muß aber eben durch die beſondere Stimmbarkeit des Nervenlebens vermittelt ſein. Meine man nicht, dieß heiße den Genius zu tief unten ſuchen, denn wir ſind jetzt noch in dem Gebiete, wo die Freiheit und Be- ſonnenheit abgeht; wir müſſen wieder zu dem aufſteigen, was als höhere Thätigkeit durch das Gehirn vermittelt iſt. Uebrigens verſteht ſich von ſelbſt, daß die allgemeine Phantaſie dem Ge- biete des Traumes noch lebhaft ſich öffnet, daß der Traum als Natur- Act der Seele allgemein menſchlich, nur reicher in den Begabten iſt. §. 391. Subjectiv überhaupt iſt zwar die Exiſtenz des Schönen als Phantaſie, aber ſchon innerhalb des Subjectiven ſoll volle Objectivität entſtehen, denn 22*

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 333. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/47>, abgerufen am 24.11.2024.