Tod gesehen, mit Interesse angeschaut, der wird gewiß auch keinen Beruf zu ihrer Darstellung haben. Der Genius muß also das Glück eines reichen und weiten Lebens genießen; verweigert ihm sein Schicksal dieß Glück, so wird er dennoch durchbrechen und in die Welt eilen. Einige Noth, einiger Drang kann nicht schaden, aber er soll nicht im Engen verkümmern, sondern auf offener See sich mit den Wellen schlagen.
Auch das Gedächtniß mußte in diesem Zusammenhang noch auf die Seite der erst aufnehmenden Anschauung gezogen werden. Zunächst wird Stärke desselben vorausgesetzt, damit überhaupt viel gesammelt werde. Die Menge des Gesammelten nämlich unterstützt die Reibung und Rütt- lung des Vorraths, welche eine Vorbedingung seiner höhern Sichtung ist. Es muß Auswahl unter vielen einzelnen Zügen und Formen sein, um die reinste zu finden; nur mit voller Schaufel kann man worfeln. Freilich, wo diese Auswahl sodann nicht vom genialen Instincte, sondern von der halben Reflexion unternommen wird, entsteht Aggregat, Mosaik von zu- sammengelesenen Zügen, die durch Naturwahrheit überraschen, aber kein Ganzes bilden; wir reden aber noch nicht von dem Gestaltungsprozesse des Gesammelten selbst. Vorläufig müssen wir nur sagen, daß das Ge- dächtniß des Phantasiebegabten vorzugsweise das sogenannte glückliche ist. Es bewahrt das Gesammelte auf, nicht um es im gemeinen Zu- sammenhange gegebenen Stoffes, sondern um es nach der Anziehung des Formgesetzes, nach neuen Gesetzen der Wahlverwandtschaft wieder hervor- treten zu lassen. Dabei denke man nicht etwa nur an die vergleichende Thätigkeit des Witzes, wiewohl es bei diesem vorzüglich klar wird, wie viel die Phantasie gesammelt haben muß, um ihre Verbindungen vorzuneh- men; mancher Witzige würde ungleich mehr Witz hervorbringen, wenn er mehr Stoff gesammelt hätte. Man denke vielmehr an organische Ver- bindungen, wie z. B. dem Begabten, wenn er ein gewisses Temperament darzustellen hat, aus der Menge des Beobachteten am rechten Ort die rechten, bezeichnenden Züge einfallen.
b. Die Einbildungskraft.
§. 387.
1
Der hellere und reinere Glanz des lebendig Angeschauten ist noch nicht Schönheit, denn die Anschauung erfaßt in den Formen der Dinge zwar unge- trennt auch die Idee, aber in der allgemeinen Trübung des störenden Zufalls,
Tod geſehen, mit Intereſſe angeſchaut, der wird gewiß auch keinen Beruf zu ihrer Darſtellung haben. Der Genius muß alſo das Glück eines reichen und weiten Lebens genießen; verweigert ihm ſein Schickſal dieß Glück, ſo wird er dennoch durchbrechen und in die Welt eilen. Einige Noth, einiger Drang kann nicht ſchaden, aber er ſoll nicht im Engen verkümmern, ſondern auf offener See ſich mit den Wellen ſchlagen.
Auch das Gedächtniß mußte in dieſem Zuſammenhang noch auf die Seite der erſt aufnehmenden Anſchauung gezogen werden. Zunächſt wird Stärke deſſelben vorausgeſetzt, damit überhaupt viel geſammelt werde. Die Menge des Geſammelten nämlich unterſtützt die Reibung und Rütt- lung des Vorraths, welche eine Vorbedingung ſeiner höhern Sichtung iſt. Es muß Auswahl unter vielen einzelnen Zügen und Formen ſein, um die reinſte zu finden; nur mit voller Schaufel kann man worfeln. Freilich, wo dieſe Auswahl ſodann nicht vom genialen Inſtincte, ſondern von der halben Reflexion unternommen wird, entſteht Aggregat, Moſaik von zu- ſammengeleſenen Zügen, die durch Naturwahrheit überraſchen, aber kein Ganzes bilden; wir reden aber noch nicht von dem Geſtaltungsprozeſſe des Geſammelten ſelbſt. Vorläufig müſſen wir nur ſagen, daß das Ge- dächtniß des Phantaſiebegabten vorzugsweiſe das ſogenannte glückliche iſt. Es bewahrt das Geſammelte auf, nicht um es im gemeinen Zu- ſammenhange gegebenen Stoffes, ſondern um es nach der Anziehung des Formgeſetzes, nach neuen Geſetzen der Wahlverwandtſchaft wieder hervor- treten zu laſſen. Dabei denke man nicht etwa nur an die vergleichende Thätigkeit des Witzes, wiewohl es bei dieſem vorzüglich klar wird, wie viel die Phantaſie geſammelt haben muß, um ihre Verbindungen vorzuneh- men; mancher Witzige würde ungleich mehr Witz hervorbringen, wenn er mehr Stoff geſammelt hätte. Man denke vielmehr an organiſche Ver- bindungen, wie z. B. dem Begabten, wenn er ein gewiſſes Temperament darzuſtellen hat, aus der Menge des Beobachteten am rechten Ort die rechten, bezeichnenden Züge einfallen.
β. Die Einbildungskraft.
§. 387.
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Der hellere und reinere Glanz des lebendig Angeſchauten iſt noch nicht Schönheit, denn die Anſchauung erfaßt in den Formen der Dinge zwar unge- trennt auch die Idee, aber in der allgemeinen Trübung des ſtörenden Zufalls,
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ſo wird er dennoch durchbrechen und in die Welt eilen. Einige Noth,
einiger Drang kann nicht ſchaden, aber er ſoll nicht im Engen verkümmern,
ſondern auf offener See ſich mit den Wellen ſchlagen.
Auch das Gedächtniß mußte in dieſem Zuſammenhang noch auf die
Seite der erſt aufnehmenden Anſchauung gezogen werden. Zunächſt wird
Stärke deſſelben vorausgeſetzt, damit überhaupt viel geſammelt werde.
Die Menge des Geſammelten nämlich unterſtützt die Reibung und Rütt-
lung des Vorraths, welche eine Vorbedingung ſeiner höhern Sichtung iſt.
Es muß Auswahl unter vielen einzelnen Zügen und Formen ſein, um die
reinſte zu finden; nur mit voller Schaufel kann man worfeln. Freilich,
wo dieſe Auswahl ſodann nicht vom genialen Inſtincte, ſondern von der
halben Reflexion unternommen wird, entſteht Aggregat, Moſaik von zu-
ſammengeleſenen Zügen, die durch Naturwahrheit überraſchen, aber kein
Ganzes bilden; wir reden aber noch nicht von dem Geſtaltungsprozeſſe
des Geſammelten ſelbſt. Vorläufig müſſen wir nur ſagen, daß das Ge-
dächtniß des Phantaſiebegabten vorzugsweiſe das ſogenannte glückliche
iſt. Es bewahrt das Geſammelte auf, nicht um es im gemeinen Zu-
ſammenhange gegebenen Stoffes, ſondern um es nach der Anziehung des
Formgeſetzes, nach neuen Geſetzen der Wahlverwandtſchaft wieder hervor-
treten zu laſſen. Dabei denke man nicht etwa nur an die vergleichende
Thätigkeit des Witzes, wiewohl es bei dieſem vorzüglich klar wird, wie
viel die Phantaſie geſammelt haben muß, um ihre Verbindungen vorzuneh-
men; mancher Witzige würde ungleich mehr Witz hervorbringen, wenn er
mehr Stoff geſammelt hätte. Man denke vielmehr an organiſche Ver-
bindungen, wie z. B. dem Begabten, wenn er ein gewiſſes Temperament
darzuſtellen hat, aus der Menge des Beobachteten am rechten Ort die
rechten, bezeichnenden Züge einfallen.
β.
Die Einbildungskraft.
§. 387.
Der hellere und reinere Glanz des lebendig Angeſchauten iſt noch nicht
Schönheit, denn die Anſchauung erfaßt in den Formen der Dinge zwar unge-
trennt auch die Idee, aber in der allgemeinen Trübung des ſtörenden Zufalls,
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 320. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/34>, abgerufen am 08.07.2024.
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