Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.
sofern diese dem Dichter nicht durch praktische Umwälzung eines stagni- Es gab also freilich noch viel zu thun, aber es war noch nicht die
ſofern dieſe dem Dichter nicht durch praktiſche Umwälzung eines ſtagni- Es gab alſo freilich noch viel zu thun, aber es war noch nicht die <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0232" n="518"/> ſofern dieſe dem Dichter nicht durch praktiſche Umwälzung eines ſtagni-<lb/> renden Lebens concretere Stoffe zeigte, ſondern, wie dieß ja in Deutſchland<lb/> der Fall war, nur den innern Menſchen bildete und zwar mit wenigen<lb/> abſtracten Begriffen, deren ſchließlicher Werth nicht in ihrem Gehalt, ſon-<lb/> dern nur in der Freiheit des ſo vereinfachenden Denkens, alſo, wenn man<lb/> will, gerade in ihrer Gehaltloſigkeit lag. In Frankreich wurde die Auf-<lb/> klärung praktiſch als Revolution, dieſer Geiſt weht freilich in Schiller,<lb/> ſelbſt in J. Paul, aber die Revolution ſelbſt rechnete ja auch noch mit<lb/> der Münze weniger, ſehr abſtracter Begriffe. Mit dieſer Vereinfachung<lb/> des Geiſtes durch die Aufklärung ſtimmte nun die neue Claſſicität, auch<lb/> die reinere deutſche, allerdings darin zuſammen, daß das Alterthum, auf<lb/> das man zurückging, dem Prinzip der Individualität, eben jener bunteren<lb/> Farbenbrechung faſt keinen Raum ließ. Die Aufklärung war durchaus anti-<lb/> kiſirend; ſie war es ſelbſt in dem engeren Sinne, daß ſie eigentlich antike<lb/> Stoffe, Formen, Mythen vorzog und zum Theil ſtark in’s Allegoriſche fiel.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">Es gab alſo freilich noch viel zu thun, aber es war noch nicht die<lb/> Zeit, es recht zu thun. Die romantiſche Schule brachte es zu magiſcher<lb/> Farbenpracht, aber es war nur die Gluth eines Abendroths. Sie hätte<lb/> dem Stoff nach ſagen müſſen: führet die Aufklärung weiter zu concretem<lb/> Gedankengehalt, gebt dieſen Gehalt als erfüllteres Pathos euren Geſtalten,<lb/> leiht ihnen vielſeitig verwickeltere, eigener in ſich zuſammengefaßte Indivi-<lb/> dualität, verſetzt ſie in die Geſchichte, gebt ihnen den Schauplatz, wo ſie<lb/> ſich zum Charakter ſchmieden, gebt ihnen insbeſondere den Schauplatz der<lb/> Geſchichte der neuern Völker, beutet vorzüglich die hiſtoriſchen Kämpfe des<lb/> Mittelalters und ſeines Uebergangs in die neuere Zeit aus und ihr bekommt<lb/> Colorit, Schatten, Localfarbe. Sie hätte der Form nach ſagen ſollen: gebt<lb/> die Speculation auf, ſeht zu, wie ihr den Inſtinct wieder findet, vereint<lb/> Begeiſterung und Beſonnenheit. Was that ſie ſtatt deſſen? Sie ſchob alle<lb/> Schuld auf die Aufklärung überhaupt, ſtatt auf die unvollendete Aufklä-<lb/> rung, fieng, bedenklich genug, mit der Satyre auf ſie, mit der Negati-<lb/> vität der Oppoſition an und predigte nun, das Mittelalter und ſeine „mond-<lb/> beglänzte Zaubernacht“ ſolle nicht etwa Stoff, ſondern ſeine Täuſchungen<lb/> müſſen die eigene Welt, das Glaubensbekenntniß des Dichters werden; nicht<lb/> die innern Wunder des wundergläubigen Gemüths, ſondern ſeine ganze<lb/> Welt von Mythen, Sagen, Pfaffen, Rittern müſſe Dogma in der<lb/> Welt der Phantaſie, ja ſelbſt in der wirklichen werden; der Aberglaube<lb/> wurde Pflicht, die Phantaſmen Syſtem. Was das Mittelalter wahr-<lb/> haft Großes hat, ſeine Helden, ſeine Bürger, ſeine weltgeſchichtlichen<lb/> Kämpfe, kurz der Charakter: gerade dieß wurde nicht benützt. Sie pre-<lb/> digte als wahre Art der Formthätigkeit die Begeiſterung ohne Beſonnen-<lb/> heit, den Wahnſinn, den Opiumsrauſch, den <hi rendition="#g">Traum</hi>, ſeine üppigen<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [518/0232]
ſofern dieſe dem Dichter nicht durch praktiſche Umwälzung eines ſtagni-
renden Lebens concretere Stoffe zeigte, ſondern, wie dieß ja in Deutſchland
der Fall war, nur den innern Menſchen bildete und zwar mit wenigen
abſtracten Begriffen, deren ſchließlicher Werth nicht in ihrem Gehalt, ſon-
dern nur in der Freiheit des ſo vereinfachenden Denkens, alſo, wenn man
will, gerade in ihrer Gehaltloſigkeit lag. In Frankreich wurde die Auf-
klärung praktiſch als Revolution, dieſer Geiſt weht freilich in Schiller,
ſelbſt in J. Paul, aber die Revolution ſelbſt rechnete ja auch noch mit
der Münze weniger, ſehr abſtracter Begriffe. Mit dieſer Vereinfachung
des Geiſtes durch die Aufklärung ſtimmte nun die neue Claſſicität, auch
die reinere deutſche, allerdings darin zuſammen, daß das Alterthum, auf
das man zurückging, dem Prinzip der Individualität, eben jener bunteren
Farbenbrechung faſt keinen Raum ließ. Die Aufklärung war durchaus anti-
kiſirend; ſie war es ſelbſt in dem engeren Sinne, daß ſie eigentlich antike
Stoffe, Formen, Mythen vorzog und zum Theil ſtark in’s Allegoriſche fiel.
Es gab alſo freilich noch viel zu thun, aber es war noch nicht die
Zeit, es recht zu thun. Die romantiſche Schule brachte es zu magiſcher
Farbenpracht, aber es war nur die Gluth eines Abendroths. Sie hätte
dem Stoff nach ſagen müſſen: führet die Aufklärung weiter zu concretem
Gedankengehalt, gebt dieſen Gehalt als erfüllteres Pathos euren Geſtalten,
leiht ihnen vielſeitig verwickeltere, eigener in ſich zuſammengefaßte Indivi-
dualität, verſetzt ſie in die Geſchichte, gebt ihnen den Schauplatz, wo ſie
ſich zum Charakter ſchmieden, gebt ihnen insbeſondere den Schauplatz der
Geſchichte der neuern Völker, beutet vorzüglich die hiſtoriſchen Kämpfe des
Mittelalters und ſeines Uebergangs in die neuere Zeit aus und ihr bekommt
Colorit, Schatten, Localfarbe. Sie hätte der Form nach ſagen ſollen: gebt
die Speculation auf, ſeht zu, wie ihr den Inſtinct wieder findet, vereint
Begeiſterung und Beſonnenheit. Was that ſie ſtatt deſſen? Sie ſchob alle
Schuld auf die Aufklärung überhaupt, ſtatt auf die unvollendete Aufklä-
rung, fieng, bedenklich genug, mit der Satyre auf ſie, mit der Negati-
vität der Oppoſition an und predigte nun, das Mittelalter und ſeine „mond-
beglänzte Zaubernacht“ ſolle nicht etwa Stoff, ſondern ſeine Täuſchungen
müſſen die eigene Welt, das Glaubensbekenntniß des Dichters werden; nicht
die innern Wunder des wundergläubigen Gemüths, ſondern ſeine ganze
Welt von Mythen, Sagen, Pfaffen, Rittern müſſe Dogma in der
Welt der Phantaſie, ja ſelbſt in der wirklichen werden; der Aberglaube
wurde Pflicht, die Phantaſmen Syſtem. Was das Mittelalter wahr-
haft Großes hat, ſeine Helden, ſeine Bürger, ſeine weltgeſchichtlichen
Kämpfe, kurz der Charakter: gerade dieß wurde nicht benützt. Sie pre-
digte als wahre Art der Formthätigkeit die Begeiſterung ohne Beſonnen-
heit, den Wahnſinn, den Opiumsrauſch, den Traum, ſeine üppigen
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