mit Appellation an die Alten (Götter, Helden und Wieland), auch als Recht der Sinnlichkeit allgemein reclamirt. Shakesspeare wird wohl um seiner Größe willen bewundert, aber seine eigentliche Bedeutung hat er als Flügelmann der Opposition gegen das französische Reglement; der Cynismus, die Grobheit, die Willkühr, die Launenhaftigkeit und Bizar- rerie der entfesselten genialen Naturgewalt beruft sich auf ihn. Eine weitere Darstellung der Sturm- und Drang-Periode, dieser Flegeljahre des modernen Ideals, schenkt uns die verbreitete Kenntniß dieser uns schon so nahen Form.
§. 479.
Die stürmische Kraft bildet sich durch Rückkehr an die wahre Quelle, das antike Ideal der reinen Objectivität, und hinter diese an die ächte Natur. Zur Einfalt und zum Formgefühl geläutert ergreift die Phantasie auf der einen Seite den Stoff des subjectiven Seelenlebens, der Entwicklung der Persönlich- keit und ihrer Kämpfe in der engeren Sphäre des Privatlebens und arbeitet ihn in der bildend und empfindend dichtenden Art zur reinen Form aus, auf der andern, von der wahren Größe des englischen Genius begeistert, den Kampf der Freiheit im politischen Leben, den sie feurig und gewaltig, jedoch nicht ohne einen Rest abstracten Denkens (§. 406, 4.) und idealistischer Subjectivität in der vorzugsweise modernen dritten Form der dichtenden Phantasie niederlegt.
Göthe hat subjective Stoffe rein objectiv, Schiller objective Stoffe zu subjectiv behandelt: dieß ist die rechte Formel für ihr Verhältniß. Wenn nun Göthe keinen Geschichtssinn hatte, wenn Schiller ihn zwar hatte, aber seine großen Stoffe durch eine Zweiheit in seiner Natur, welche die rein organische Thätigkeit der Phantasie vielfach hemmte, theils zu philosophisch, theils zu abstract idealistisch mit durchgängigem Vordrin- gen seiner begeisterten Subjectivität behandelte, so erkennt man die große Aufgabe, welche diese Classiker des modernen Ideals noch zu lösen übrig lassen.
§. 480.
Inzwischen findet die Sentimentalität ihren eigenen Weg, sich von sich zu befreien, indem sie in das Komische umschlägt. Auch hierin ist die englische Phantasie der deutschen vorangegangen; ihre Einflüsse wecken den Humor, der nun erst mit Bewußtsein in seine Tiefen steigt und die feinsten Widersprüche des Subjects erfaßt, aber weder die Lebenskämpfe auf dem Schauplatz der Oeffent- lichkeit in seine versöhnende Bewegung hineinzieht (vergl. §. 220. 221), noch
mit Appellation an die Alten (Götter, Helden und Wieland), auch als Recht der Sinnlichkeit allgemein reclamirt. Shakesſpeare wird wohl um ſeiner Größe willen bewundert, aber ſeine eigentliche Bedeutung hat er als Flügelmann der Oppoſition gegen das franzöſiſche Reglement; der Cyniſmus, die Grobheit, die Willkühr, die Launenhaftigkeit und Bizar- rerie der entfeſſelten genialen Naturgewalt beruft ſich auf ihn. Eine weitere Darſtellung der Sturm- und Drang-Periode, dieſer Flegeljahre des modernen Ideals, ſchenkt uns die verbreitete Kenntniß dieſer uns ſchon ſo nahen Form.
§. 479.
Die ſtürmiſche Kraft bildet ſich durch Rückkehr an die wahre Quelle, das antike Ideal der reinen Objectivität, und hinter dieſe an die ächte Natur. Zur Einfalt und zum Formgefühl geläutert ergreift die Phantaſie auf der einen Seite den Stoff des ſubjectiven Seelenlebens, der Entwicklung der Perſönlich- keit und ihrer Kämpfe in der engeren Sphäre des Privatlebens und arbeitet ihn in der bildend und empfindend dichtenden Art zur reinen Form aus, auf der andern, von der wahren Größe des engliſchen Genius begeiſtert, den Kampf der Freiheit im politiſchen Leben, den ſie feurig und gewaltig, jedoch nicht ohne einen Reſt abſtracten Denkens (§. 406, 4.) und idealiſtiſcher Subjectivität in der vorzugsweiſe modernen dritten Form der dichtenden Phantaſie niederlegt.
Göthe hat ſubjective Stoffe rein objectiv, Schiller objective Stoffe zu ſubjectiv behandelt: dieß iſt die rechte Formel für ihr Verhältniß. Wenn nun Göthe keinen Geſchichtsſinn hatte, wenn Schiller ihn zwar hatte, aber ſeine großen Stoffe durch eine Zweiheit in ſeiner Natur, welche die rein organiſche Thätigkeit der Phantaſie vielfach hemmte, theils zu philoſophiſch, theils zu abſtract idealiſtiſch mit durchgängigem Vordrin- gen ſeiner begeiſterten Subjectivität behandelte, ſo erkennt man die große Aufgabe, welche dieſe Claſſiker des modernen Ideals noch zu löſen übrig laſſen.
§. 480.
Inzwiſchen findet die Sentimentalität ihren eigenen Weg, ſich von ſich zu befreien, indem ſie in das Komiſche umſchlägt. Auch hierin iſt die engliſche Phantaſie der deutſchen vorangegangen; ihre Einflüſſe wecken den Humor, der nun erſt mit Bewußtſein in ſeine Tiefen ſteigt und die feinſten Widerſprüche des Subjects erfaßt, aber weder die Lebenskämpfe auf dem Schauplatz der Oeffent- lichkeit in ſeine verſöhnende Bewegung hineinzieht (vergl. §. 220. 221), noch
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als Flügelmann der Oppoſition gegen das franzöſiſche Reglement; der
Cyniſmus, die Grobheit, die Willkühr, die Launenhaftigkeit und Bizar-
rerie der entfeſſelten genialen Naturgewalt beruft ſich auf ihn. Eine
weitere Darſtellung der Sturm- und Drang-Periode, dieſer Flegeljahre
des modernen Ideals, ſchenkt uns die verbreitete Kenntniß dieſer uns
ſchon ſo nahen Form.
§. 479.
Die ſtürmiſche Kraft bildet ſich durch Rückkehr an die wahre Quelle,
das antike Ideal der reinen Objectivität, und hinter dieſe an die ächte Natur.
Zur Einfalt und zum Formgefühl geläutert ergreift die Phantaſie auf der einen
Seite den Stoff des ſubjectiven Seelenlebens, der Entwicklung der Perſönlich-
keit und ihrer Kämpfe in der engeren Sphäre des Privatlebens und arbeitet
ihn in der bildend und empfindend dichtenden Art zur reinen Form aus, auf
der andern, von der wahren Größe des engliſchen Genius begeiſtert, den Kampf
der Freiheit im politiſchen Leben, den ſie feurig und gewaltig, jedoch nicht ohne
einen Reſt abſtracten Denkens (§. 406, 4.) und idealiſtiſcher Subjectivität in der
vorzugsweiſe modernen dritten Form der dichtenden Phantaſie niederlegt.
Göthe hat ſubjective Stoffe rein objectiv, Schiller objective Stoffe
zu ſubjectiv behandelt: dieß iſt die rechte Formel für ihr Verhältniß.
Wenn nun Göthe keinen Geſchichtsſinn hatte, wenn Schiller ihn zwar
hatte, aber ſeine großen Stoffe durch eine Zweiheit in ſeiner Natur,
welche die rein organiſche Thätigkeit der Phantaſie vielfach hemmte, theils
zu philoſophiſch, theils zu abſtract idealiſtiſch mit durchgängigem Vordrin-
gen ſeiner begeiſterten Subjectivität behandelte, ſo erkennt man die große
Aufgabe, welche dieſe Claſſiker des modernen Ideals noch zu löſen
übrig laſſen.
§. 480.
Inzwiſchen findet die Sentimentalität ihren eigenen Weg, ſich von ſich zu
befreien, indem ſie in das Komiſche umſchlägt. Auch hierin iſt die engliſche
Phantaſie der deutſchen vorangegangen; ihre Einflüſſe wecken den Humor, der
nun erſt mit Bewußtſein in ſeine Tiefen ſteigt und die feinſten Widerſprüche des
Subjects erfaßt, aber weder die Lebenskämpfe auf dem Schauplatz der Oeffent-
lichkeit in ſeine verſöhnende Bewegung hineinzieht (vergl. §. 220. 221), noch
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 515. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/229>, abgerufen am 08.07.2024.
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