Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.
zum Bewußtsein und ist daher nun erst wahrhaft da; aber nur im In- §. 478. Soll diese Stimmung zur wahren Formthätigkeit gelangen, so muß sie Englische Melancholie hatte freilich schon zur Entstehung des Sen-
zum Bewußtſein und iſt daher nun erſt wahrhaft da; aber nur im In- §. 478. Soll dieſe Stimmung zur wahren Formthätigkeit gelangen, ſo muß ſie Engliſche Melancholie hatte freilich ſchon zur Entſtehung des Sen- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0228" n="514"/> zum Bewußtſein und iſt daher nun erſt wahrhaft da; aber nur im In-<lb/> nern. Die freie Subjectivität iſt errungen, der abſolute Adel des Sub-<lb/> jects wird gewußt und ausgeſprochen, aber er ſchämt ſich der Welt, des<lb/> Staates, der Geſchichte, ſcheut ſich, ſich einzulaſſen, als beſchmutze er ſich.<lb/> Das Herz wird ein ſchaalloſes Ei, iſt wie wundes Fleiſch, kann keine<lb/> Erfahrung ertragen, flieht vom Mann zum Weibe, von den Menſchen<lb/> zu der Natur, von der Gegenwart in die Vergangenheit der Kinderjahre,<lb/> in die Zukunft des Grabes und Wiederſehens; an Trauerweiden verehrt<lb/> es den Tod, der Mond iſt ſein Geſtirn, es erfriert in ſeinen blaſſen Strah-<lb/> len auf dem Grabe der Geliebten. Es iſt wieder eine Jenſeitigkeit da,<lb/> aber eine gemachte innere, daher eine leere, ein deiſtiſcher Gott, eine kahle<lb/> Unſterblichkeit; nach ihr wird hingeſeufzt, die Thränen werden Alltagskoſt,<lb/> an ſie wird in Bardenpathos hinaufdeclamirt, die Ausrufungszeichen werden<lb/> wohlfeil. Dieſe Stimmung kann als dichtende wirklich faſt nur in Inter-<lb/> jectionen reden, nur an die Dinge hinſingen, Gedichte auf und an die<lb/> Freundſchaft u. ſ. w. machen, ſie iſt geſtaltlos (§. 406, <hi rendition="#sub">3.</hi>). In Werther’s<lb/> Leiden wird ſie <hi rendition="#g">Stoff</hi>, da iſt das Verhältniß ſchon verändert. Ihre<lb/> wahre Form iſt die Muſik, ſie weckt den großen, die fortſchreitenden ita-<lb/> lieniſchen Tonkünſtler und die Süßigkeit ihres Wohllauts weit überholenden<lb/> Schwung einer mächtigen, neuen, wunderbaren Tonwelt.</hi> </p> </div><lb/> <div n="6"> <head>§. 478.</head><lb/> <p> <hi rendition="#fr">Soll dieſe Stimmung zur wahren Formthätigkeit gelangen, ſo muß ſie<lb/> hinter die falſche Natur und Objectivität der franzöſiſchen Regel auf die wahre<lb/> zurückgehen. Sie greift aber zunächſt nach der gewöhnlichen und ſchwungloſen,<lb/> wie ſie in den modernen Staatsformen geworden, zugleich jedoch fordert ſie das<lb/> allgemeine Recht der Sinnlichkeit zurück, das befreite Subject entfeſſelt ſich als<lb/> Naturkraft, die Kühnheit der engliſchen Phantaſie (§. 472) wirkt mehr noch<lb/> durch das, was in ihr formlos war, als durch ihre Größe ein, mit der fal-<lb/> ſchen Regel wird die wahre umgeſtürzt und Genie zum Fooſungswort.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">Engliſche Melancholie hatte freilich ſchon zur Entſtehung des Sen-<lb/> timentalen ihren Beitrag gegeben; wir werden aber dieſe Seite des Ein-<lb/> fluſſes erſt ausdrücklich hervorheben, wenn vom Umſchlagen dieſer Stim-<lb/> mung in Humor die Rede iſt. Die Natürlichkeit zunächſt als Aufnahme<lb/> der gewöhnlichen Lebensformen der Gegenwart, die bürgerlich ſtylloſe<lb/> Natürlichkeit wurde von Leſſing nicht ohne Vorgang ebenfalls engliſcher An-<lb/> ſichten und einer in Frankreich ſelbſt vereinzelt laut gewordenen Oppoſition<lb/> gegen die falſche Claſſicität eingeführt, doch zuerſt in Deutſchland zu herr-<lb/> ſchender Geltung erhoben. Die liebe Natur wird aber, zum Theil bereits<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [514/0228]
zum Bewußtſein und iſt daher nun erſt wahrhaft da; aber nur im In-
nern. Die freie Subjectivität iſt errungen, der abſolute Adel des Sub-
jects wird gewußt und ausgeſprochen, aber er ſchämt ſich der Welt, des
Staates, der Geſchichte, ſcheut ſich, ſich einzulaſſen, als beſchmutze er ſich.
Das Herz wird ein ſchaalloſes Ei, iſt wie wundes Fleiſch, kann keine
Erfahrung ertragen, flieht vom Mann zum Weibe, von den Menſchen
zu der Natur, von der Gegenwart in die Vergangenheit der Kinderjahre,
in die Zukunft des Grabes und Wiederſehens; an Trauerweiden verehrt
es den Tod, der Mond iſt ſein Geſtirn, es erfriert in ſeinen blaſſen Strah-
len auf dem Grabe der Geliebten. Es iſt wieder eine Jenſeitigkeit da,
aber eine gemachte innere, daher eine leere, ein deiſtiſcher Gott, eine kahle
Unſterblichkeit; nach ihr wird hingeſeufzt, die Thränen werden Alltagskoſt,
an ſie wird in Bardenpathos hinaufdeclamirt, die Ausrufungszeichen werden
wohlfeil. Dieſe Stimmung kann als dichtende wirklich faſt nur in Inter-
jectionen reden, nur an die Dinge hinſingen, Gedichte auf und an die
Freundſchaft u. ſ. w. machen, ſie iſt geſtaltlos (§. 406, 3.). In Werther’s
Leiden wird ſie Stoff, da iſt das Verhältniß ſchon verändert. Ihre
wahre Form iſt die Muſik, ſie weckt den großen, die fortſchreitenden ita-
lieniſchen Tonkünſtler und die Süßigkeit ihres Wohllauts weit überholenden
Schwung einer mächtigen, neuen, wunderbaren Tonwelt.
§. 478.
Soll dieſe Stimmung zur wahren Formthätigkeit gelangen, ſo muß ſie
hinter die falſche Natur und Objectivität der franzöſiſchen Regel auf die wahre
zurückgehen. Sie greift aber zunächſt nach der gewöhnlichen und ſchwungloſen,
wie ſie in den modernen Staatsformen geworden, zugleich jedoch fordert ſie das
allgemeine Recht der Sinnlichkeit zurück, das befreite Subject entfeſſelt ſich als
Naturkraft, die Kühnheit der engliſchen Phantaſie (§. 472) wirkt mehr noch
durch das, was in ihr formlos war, als durch ihre Größe ein, mit der fal-
ſchen Regel wird die wahre umgeſtürzt und Genie zum Fooſungswort.
Engliſche Melancholie hatte freilich ſchon zur Entſtehung des Sen-
timentalen ihren Beitrag gegeben; wir werden aber dieſe Seite des Ein-
fluſſes erſt ausdrücklich hervorheben, wenn vom Umſchlagen dieſer Stim-
mung in Humor die Rede iſt. Die Natürlichkeit zunächſt als Aufnahme
der gewöhnlichen Lebensformen der Gegenwart, die bürgerlich ſtylloſe
Natürlichkeit wurde von Leſſing nicht ohne Vorgang ebenfalls engliſcher An-
ſichten und einer in Frankreich ſelbſt vereinzelt laut gewordenen Oppoſition
gegen die falſche Claſſicität eingeführt, doch zuerſt in Deutſchland zu herr-
ſchender Geltung erhoben. Die liebe Natur wird aber, zum Theil bereits
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |