Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.
biete ein für allemal nicht organisirt. Allerdings ergreift aber ihre Stim- §. 475. Hell blickend und ahnungsvoll, realistisch und mystisch, leidenschaftlich und Man sollte nicht glauben, daß dasselbe Volk, das die ritterlichen
biete ein für allemal nicht organiſirt. Allerdings ergreift aber ihre Stim- §. 475. Hell blickend und ahnungsvoll, realiſtiſch und myſtiſch, leidenſchaftlich und Man ſollte nicht glauben, daß daſſelbe Volk, das die ritterlichen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0225" n="511"/> biete ein für allemal nicht organiſirt. Allerdings ergreift aber ihre Stim-<lb/> mung auch das unheimliche Element (§. 471), das Dämoniſche, und wild<lb/> entflammt lodert es unter den bäuriſchen Formen eines Rembrandt. Jener<lb/> Schwung fehlte nicht der feuriger bewegten Phantaſie der Belgier, aber<lb/> dieſer katholiſch gebliebene Stamm trennt ſich zwar in ſeinem Formſinne<lb/> ebenfalls weit genug vom antiken taſtenden Sehen, bleibt jedoch in der<lb/> Allegorie hängen, verbirgt unter ihr die größeren geſchichtlichen Stoffe wie<lb/> das ſtrotzende Leben mächtiger Sinnlichkeit und Leidenſchaft und geräth<lb/> offenbar in den Widerſpruch einer modern ſubjectiv leidenſchaftlich ge-<lb/> ſtimmten Phantaſie mit einer dem Zeitalter fremden Stoffwelt, worin er<lb/> ſie niederlegt. Dieſer Widerſpruch fällt weg im Porträt, worin Belgier<lb/> und Holländer zeigen, wie nun die Perſönlichkeit als frei in ſich begrün-<lb/> dete Einheit glühend entzündeter oder ruhig zuſammengefaßter Kräfte der<lb/> Phantaſie vindicirt iſt.</hi> </p> </div><lb/> <div n="6"> <head>§. 475.</head><lb/> <p> <hi rendition="#fr">Hell blickend und ahnungsvoll, realiſtiſch und myſtiſch, leidenſchaftlich und<lb/> tranſcendent zugleich erreicht die <hi rendition="#g">ſpaniſche</hi> Phantaſie ihre Höhe nicht nur in<lb/> der bildenden Form, worin ſie, die Fortſchritte der belgiſchen ſich aneignend,<lb/> den chriſtlichen Mythus in menſchlich vertraute Umgebungen ſetzt, aber zugleich<lb/> zum Ausdruck überirdiſcher Entzückung verklärt, ſondern auch in der dritten<lb/> Form der dichtenden, worin ſie ihren dem Standpunkte des Mittelalters den-<lb/> noch verſchriebenen Geiſt dadurch ausſpricht, daß ſie die friſch ergriffene Wirk-<lb/> lichkeit theils wieder in gegebene ſittliche Normen unfrei einzwängt, theils<lb/> in ein myſtiſches Jenſeits aufhebt. Den Mangel verdeckt ſie unter orienta-<lb/> liſcher Bilderpracht.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">Man ſollte nicht glauben, daß daſſelbe Volk, das die ritterlichen<lb/> Illuſionen in ſo heitere Ironie aufgelöst hat, am religiöſen Mythus ſo<lb/> bigott, mit ſo ausſchließlichem, brünſtigem Katholiziſmus feſthalten konnte.<lb/> Zwar auch dieſe Verzückung der ſpaniſchen Malerei vermählt ſich mit<lb/> einem Zuge menſchlicher Wohnlichkeit und Vertraulichkeit, der gewiß ebenſo<lb/> der Berührung mit den Belgiern zuzuſchreiben iſt, wie die wunderbare<lb/> Ausbildung ihres maleriſchen Auges, ſchließlich jedoch offenbar auf dieſel-<lb/> ben germaniſchen Elemente in der Miſchung dieſes Volkscharakters hin-<lb/> weist, wie jene geſunde Trockenheit der Parodie des Ritterthums. Der<lb/> geſunde und grobe Verſtand, die Liebe zu vertraulich genreartigen Zügen<lb/> bildet zuſammen mit der myſtiſchen Inbrunſt einen ſeltſamen Dualiſmus<lb/> in dieſer Phantaſie; erinnert jene Eigenſchaft an deutſches Weſen, ſo dieſe<lb/> an orientaliſche Gluth. Man kann zweifeln, auf welche beider Seiten<lb/> man das antik Objective in der Phantaſie dieſes romaniſchen Volks ſchla-<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [511/0225]
biete ein für allemal nicht organiſirt. Allerdings ergreift aber ihre Stim-
mung auch das unheimliche Element (§. 471), das Dämoniſche, und wild
entflammt lodert es unter den bäuriſchen Formen eines Rembrandt. Jener
Schwung fehlte nicht der feuriger bewegten Phantaſie der Belgier, aber
dieſer katholiſch gebliebene Stamm trennt ſich zwar in ſeinem Formſinne
ebenfalls weit genug vom antiken taſtenden Sehen, bleibt jedoch in der
Allegorie hängen, verbirgt unter ihr die größeren geſchichtlichen Stoffe wie
das ſtrotzende Leben mächtiger Sinnlichkeit und Leidenſchaft und geräth
offenbar in den Widerſpruch einer modern ſubjectiv leidenſchaftlich ge-
ſtimmten Phantaſie mit einer dem Zeitalter fremden Stoffwelt, worin er
ſie niederlegt. Dieſer Widerſpruch fällt weg im Porträt, worin Belgier
und Holländer zeigen, wie nun die Perſönlichkeit als frei in ſich begrün-
dete Einheit glühend entzündeter oder ruhig zuſammengefaßter Kräfte der
Phantaſie vindicirt iſt.
§. 475.
Hell blickend und ahnungsvoll, realiſtiſch und myſtiſch, leidenſchaftlich und
tranſcendent zugleich erreicht die ſpaniſche Phantaſie ihre Höhe nicht nur in
der bildenden Form, worin ſie, die Fortſchritte der belgiſchen ſich aneignend,
den chriſtlichen Mythus in menſchlich vertraute Umgebungen ſetzt, aber zugleich
zum Ausdruck überirdiſcher Entzückung verklärt, ſondern auch in der dritten
Form der dichtenden, worin ſie ihren dem Standpunkte des Mittelalters den-
noch verſchriebenen Geiſt dadurch ausſpricht, daß ſie die friſch ergriffene Wirk-
lichkeit theils wieder in gegebene ſittliche Normen unfrei einzwängt, theils
in ein myſtiſches Jenſeits aufhebt. Den Mangel verdeckt ſie unter orienta-
liſcher Bilderpracht.
Man ſollte nicht glauben, daß daſſelbe Volk, das die ritterlichen
Illuſionen in ſo heitere Ironie aufgelöst hat, am religiöſen Mythus ſo
bigott, mit ſo ausſchließlichem, brünſtigem Katholiziſmus feſthalten konnte.
Zwar auch dieſe Verzückung der ſpaniſchen Malerei vermählt ſich mit
einem Zuge menſchlicher Wohnlichkeit und Vertraulichkeit, der gewiß ebenſo
der Berührung mit den Belgiern zuzuſchreiben iſt, wie die wunderbare
Ausbildung ihres maleriſchen Auges, ſchließlich jedoch offenbar auf dieſel-
ben germaniſchen Elemente in der Miſchung dieſes Volkscharakters hin-
weist, wie jene geſunde Trockenheit der Parodie des Ritterthums. Der
geſunde und grobe Verſtand, die Liebe zu vertraulich genreartigen Zügen
bildet zuſammen mit der myſtiſchen Inbrunſt einen ſeltſamen Dualiſmus
in dieſer Phantaſie; erinnert jene Eigenſchaft an deutſches Weſen, ſo dieſe
an orientaliſche Gluth. Man kann zweifeln, auf welche beider Seiten
man das antik Objective in der Phantaſie dieſes romaniſchen Volks ſchla-
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