Die Tilgung kann bei den Völkern der neueren Geschichte nur durch erworbene Bil- dung vollzogen werden und diese Bildung ist im Gebiete der Phantasie bedingt durch wahre Aneignung des objectiven Ideals des Alterthums; das moderne ist daher auch als Einheit des antiken und romantischen zu fassen.
Wir müßten die ganze Lehre vom Schönen wiederholen, wenn wir meinten, erst beweisen zu müssen, daß wahre Idealität gerade erst dann möglich sei, wenn die Idee als gegenwärtig im naturgemäßen Weltver- lauf ohne alle Wunder und dazwischen geschobene transcendente Gestalt dargestellt wird. Zum weiteren Inhalt des §. ist zu bemerken, daß er keine bloße Wiederholung dessen ist, was in §. 363 und 367 über die mit der Welt versöhnende Wirkung der humanistischen Studien gesagt wurde. Es handelte sich hier vom Menschen als Stoff des Schönen, von den objectiven Tugenden, von der harmonischeren Erscheinung, wozu ihn der Umgang mit den Alten bildet; die Phantasie aber gewinnt nicht nur den so umgebildeten Menschen zum Stoffe, sondern sie hat für ihre eigene Formthätigkeit von den Alten zu lernen. Nun trifft sie hier freilich ein mythisches Ideal, aber sie soll das Mythische daran weglassen und die Harmonie zwischen Inhalt und Form im ästhetischen Verfahren sich davon aneignen. Daher spricht der §. von wahrer Aneignung. Aber auch diese Harmonie kann sie sich nicht schlechtweg aneignen; denn jener dua- listische Bruch im Naturell der germanischen und der durch Vermischung mit römischen und latinisirten Völkern entstandenen romanischen Völker, die Grundlagen der christlichen Bildung fordern ein für allemal eine Be- wegung durch die Negation des Unmittelbaren, die den Alten fremd war. Allein von diesem geforderten Ueberschuß des Ausdrucks über sein sinn- liches Gefäß ist wohl zu unterscheiden die ascetische Fixirung der Negation noch in der Versöhnung selbst und die Rohheit, die Barbarei, welche, in jenem Naturell an sich begründet, durch diese falsche Form der Nega- tivität festgehalten und sogar zum Verdienst erhoben wird. Davon soll die Phantasie sich in der Schule der Alten befreien; die bruchlose Ein- fachheit kann sie nicht von ihnen entlehnen, aber die Natur und mit ihr die Schönheit der Erscheinung durch die Negation ihrer ersten und unmit- telbaren Geltung fortzuführen zu positiver Wiedereinsetzung, daß es sich mit ihr verhalte wie mit einem Menschen, der sich bekämpft und bezwun- gen hat und nun wieder zur Anmuth, Leichtigkeit, Unbefangenheit zurück- kehrt, -- diese Wiederherstellung hat sie zu lernen bei denen, die freilich keine nöthig hatten, weil die Natur und die Form bei ihnen zum vor- aus in ihrem Rechte war. Wie wichtig zu diesem Zwecke der Austausch der romanischen und germanischen Völker ist, indem jene die Rückkehr zu den Alten vermitteln, werden wir sehen.
Die Tilgung kann bei den Völkern der neueren Geſchichte nur durch erworbene Bil- dung vollzogen werden und dieſe Bildung iſt im Gebiete der Phantaſie bedingt durch wahre Aneignung des objectiven Ideals des Alterthums; das moderne iſt daher auch als Einheit des antiken und romantiſchen zu faſſen.
Wir müßten die ganze Lehre vom Schönen wiederholen, wenn wir meinten, erſt beweiſen zu müſſen, daß wahre Idealität gerade erſt dann möglich ſei, wenn die Idee als gegenwärtig im naturgemäßen Weltver- lauf ohne alle Wunder und dazwiſchen geſchobene tranſcendente Geſtalt dargeſtellt wird. Zum weiteren Inhalt des §. iſt zu bemerken, daß er keine bloße Wiederholung deſſen iſt, was in §. 363 und 367 über die mit der Welt verſöhnende Wirkung der humaniſtiſchen Studien geſagt wurde. Es handelte ſich hier vom Menſchen als Stoff des Schönen, von den objectiven Tugenden, von der harmoniſcheren Erſcheinung, wozu ihn der Umgang mit den Alten bildet; die Phantaſie aber gewinnt nicht nur den ſo umgebildeten Menſchen zum Stoffe, ſondern ſie hat für ihre eigene Formthätigkeit von den Alten zu lernen. Nun trifft ſie hier freilich ein mythiſches Ideal, aber ſie ſoll das Mythiſche daran weglaſſen und die Harmonie zwiſchen Inhalt und Form im äſthetiſchen Verfahren ſich davon aneignen. Daher ſpricht der §. von wahrer Aneignung. Aber auch dieſe Harmonie kann ſie ſich nicht ſchlechtweg aneignen; denn jener dua- liſtiſche Bruch im Naturell der germaniſchen und der durch Vermiſchung mit römiſchen und latiniſirten Völkern entſtandenen romaniſchen Völker, die Grundlagen der chriſtlichen Bildung fordern ein für allemal eine Be- wegung durch die Negation des Unmittelbaren, die den Alten fremd war. Allein von dieſem geforderten Ueberſchuß des Ausdrucks über ſein ſinn- liches Gefäß iſt wohl zu unterſcheiden die aſcetiſche Fixirung der Negation noch in der Verſöhnung ſelbſt und die Rohheit, die Barbarei, welche, in jenem Naturell an ſich begründet, durch dieſe falſche Form der Nega- tivität feſtgehalten und ſogar zum Verdienſt erhoben wird. Davon ſoll die Phantaſie ſich in der Schule der Alten befreien; die bruchloſe Ein- fachheit kann ſie nicht von ihnen entlehnen, aber die Natur und mit ihr die Schönheit der Erſcheinung durch die Negation ihrer erſten und unmit- telbaren Geltung fortzuführen zu poſitiver Wiedereinſetzung, daß es ſich mit ihr verhalte wie mit einem Menſchen, der ſich bekämpft und bezwun- gen hat und nun wieder zur Anmuth, Leichtigkeit, Unbefangenheit zurück- kehrt, — dieſe Wiederherſtellung hat ſie zu lernen bei denen, die freilich keine nöthig hatten, weil die Natur und die Form bei ihnen zum vor- aus in ihrem Rechte war. Wie wichtig zu dieſem Zwecke der Austauſch der romaniſchen und germaniſchen Völker iſt, indem jene die Rückkehr zu den Alten vermitteln, werden wir ſehen.
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Die Tilgung kann bei den Völkern der neueren Geſchichte nur durch erworbene Bil-
dung vollzogen werden und dieſe Bildung iſt im Gebiete der Phantaſie bedingt
durch wahre Aneignung des objectiven Ideals des Alterthums; das moderne
iſt daher auch als Einheit des antiken und romantiſchen zu faſſen.
Wir müßten die ganze Lehre vom Schönen wiederholen, wenn wir
meinten, erſt beweiſen zu müſſen, daß wahre Idealität gerade erſt dann
möglich ſei, wenn die Idee als gegenwärtig im naturgemäßen Weltver-
lauf ohne alle Wunder und dazwiſchen geſchobene tranſcendente Geſtalt
dargeſtellt wird. Zum weiteren Inhalt des §. iſt zu bemerken, daß er
keine bloße Wiederholung deſſen iſt, was in §. 363 und 367 über die mit
der Welt verſöhnende Wirkung der humaniſtiſchen Studien geſagt wurde.
Es handelte ſich hier vom Menſchen als Stoff des Schönen, von den
objectiven Tugenden, von der harmoniſcheren Erſcheinung, wozu ihn der
Umgang mit den Alten bildet; die Phantaſie aber gewinnt nicht nur den
ſo umgebildeten Menſchen zum Stoffe, ſondern ſie hat für ihre eigene
Formthätigkeit von den Alten zu lernen. Nun trifft ſie hier freilich ein
mythiſches Ideal, aber ſie ſoll das Mythiſche daran weglaſſen und die
Harmonie zwiſchen Inhalt und Form im äſthetiſchen Verfahren ſich davon
aneignen. Daher ſpricht der §. von wahrer Aneignung. Aber auch
dieſe Harmonie kann ſie ſich nicht ſchlechtweg aneignen; denn jener dua-
liſtiſche Bruch im Naturell der germaniſchen und der durch Vermiſchung
mit römiſchen und latiniſirten Völkern entſtandenen romaniſchen Völker,
die Grundlagen der chriſtlichen Bildung fordern ein für allemal eine Be-
wegung durch die Negation des Unmittelbaren, die den Alten fremd war.
Allein von dieſem geforderten Ueberſchuß des Ausdrucks über ſein ſinn-
liches Gefäß iſt wohl zu unterſcheiden die aſcetiſche Fixirung der Negation
noch in der Verſöhnung ſelbſt und die Rohheit, die Barbarei, welche,
in jenem Naturell an ſich begründet, durch dieſe falſche Form der Nega-
tivität feſtgehalten und ſogar zum Verdienſt erhoben wird. Davon ſoll
die Phantaſie ſich in der Schule der Alten befreien; die bruchloſe Ein-
fachheit kann ſie nicht von ihnen entlehnen, aber die Natur und mit ihr
die Schönheit der Erſcheinung durch die Negation ihrer erſten und unmit-
telbaren Geltung fortzuführen zu poſitiver Wiedereinſetzung, daß es ſich
mit ihr verhalte wie mit einem Menſchen, der ſich bekämpft und bezwun-
gen hat und nun wieder zur Anmuth, Leichtigkeit, Unbefangenheit zurück-
kehrt, — dieſe Wiederherſtellung hat ſie zu lernen bei denen, die freilich
keine nöthig hatten, weil die Natur und die Form bei ihnen zum vor-
aus in ihrem Rechte war. Wie wichtig zu dieſem Zwecke der Austauſch
der romaniſchen und germaniſchen Völker iſt, indem jene die Rückkehr
zu den Alten vermitteln, werden wir ſehen.
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 503. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/217>, abgerufen am 08.07.2024.
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