Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.
die Subjectivität, die wahrhaft frei wird, indem sie nicht mehr ihr
die Subjectivität, die wahrhaft frei wird, indem ſie nicht mehr ihr <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0215" n="501"/> die Subjectivität, die wahrhaft frei wird, indem ſie nicht mehr ihr<lb/> Beiſichſein in einem Außerſichſein verliert, nicht mehr ihren eigenen Ge-<lb/> halt in die Wolken ſtellt, einfach die mündige. Sie zieht zurück, was ſie<lb/> an tranſcendente Geſtalten ausgeliehen hatte, ſie wird kritiſch. Alles<lb/> arbeitet zuſammen, Sage und Mythus zu zerſtören; Reformation, Natur-<lb/> wiſſenſchaft, Philoſophie, die Reiſen und Entdeckungen, die den Horizont<lb/> aufhellen, die Aſtronomie, die Buchdruckerkunſt, die blitzſchnell Kunde des<lb/> Geſchehenen und die Gedanken verbreitet. Wir ſahen, wie langſam dieſer<lb/> Prozeß, nachdem er dem Prinzip nach längſt entſchieden iſt, ſich auch wirklich<lb/> vollzieht, wir werden ebenſo ſehen, wie langſam die Phantaſie ſich von der<lb/> Nothwendigkeit ihres unendlichen Verluſts überzeugt. Dieſer Verluſt iſt ein<lb/> Verluſt ſowohl an Stoff, als an Erleichterung ihres Thuns. Die Reli-<lb/> gion, die Sage brachte ihr ja den urſprünglichen Stoff in einem idealen,<lb/> äſthetiſch ſchon halbfertigen Auszuge entgegen. Wir nannten dieß ſchon in<lb/> §. 418 einen Vorſchub, und gewiß welchen Vortheil hat die Kunſt, wenn<lb/> ſie Götter, wenn ſie große Sagen hat! Sie braucht gar nicht zu fragen,<lb/> was darzuſtellen ſei, in eine Allen geläufige Welt voll fruchtbarer Mo-<lb/> tive darf ſie nur hineingreifen, und mag ſie tauſendmal daſſelbe dar-<lb/> ſtellen, ſie kann immer neu ſein. Wir haben unter den geſchichtlichen<lb/> Bedingungen des Verluſtes dieſes unendlichen Vorſchubs die Reformation<lb/> genannt: dieſer große ſittliche Bruch mit dem Mittelalter drängt ſich nach<lb/> hoffnungsvollem Anfang in das Gebiet der Religion zurück, er iſt daher<lb/> (vergl. §. 367) keine conſequente Auflöſung des Mythiſchen. Zudem aber<lb/> bleiben die katholiſchen Völker und Provinzen ganz im Mythiſchen ſtehen,<lb/> wie ſehr die übrige, rationell veränderte Geſtalt des Lebens dieſe Form<lb/> des Bewußtſeins widerlegen mag. Daher iſt der Verluſt der mythiſchen<lb/> Welt nicht einfach ein ſolcher, welcher für die beſondere Phantaſie dadurch<lb/> entſtünde, daß die allgemeine Phantaſie völlig aufgehört hätte, ihr durch<lb/> Mythus und Sage vorzuarbeiten, ſondern jene kann nur nicht mehr<lb/> brauchen, was dieſe von zweiter Stoffwelt feſthält. Ein Vorarbeiten kann<lb/> es freilich nicht wohl mehr genannt werden; die allgemeine Phantaſie<lb/> hängt noch, aber ohne Friſche neuer Erfindung, ohne geſunde Intenſität,<lb/> an den überlieferten Mythen, die beſondere aber, die freie des wahrhaft<lb/> Begabten, hat dieſen Stoff längſt erſchöpft, er lebt für ſie nicht mehr,<lb/> ſie tritt aus dem Bunde mit dem Mythus und der Sage, der Mythus<lb/> gehört der Religion als ſolcher, die Sage herrſcht ebenfalls noch da, wo<lb/> das Bewußtſein noch durch den unfreien Schein der Religion gebunden<lb/> iſt, alſo kann man ſagen, die Phantaſie tritt aus dem Bunde mit der<lb/> Religion. Sie wird weltlich, denn weltlich nennen wir die freie Be-<lb/> wegung des Geiſtes in der Objectivität da, wo es daneben noch eine<lb/> unfreie, die geiſtliche gibt. Hiemit iſt nicht geſagt, daß die freie Phan-<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [501/0215]
die Subjectivität, die wahrhaft frei wird, indem ſie nicht mehr ihr
Beiſichſein in einem Außerſichſein verliert, nicht mehr ihren eigenen Ge-
halt in die Wolken ſtellt, einfach die mündige. Sie zieht zurück, was ſie
an tranſcendente Geſtalten ausgeliehen hatte, ſie wird kritiſch. Alles
arbeitet zuſammen, Sage und Mythus zu zerſtören; Reformation, Natur-
wiſſenſchaft, Philoſophie, die Reiſen und Entdeckungen, die den Horizont
aufhellen, die Aſtronomie, die Buchdruckerkunſt, die blitzſchnell Kunde des
Geſchehenen und die Gedanken verbreitet. Wir ſahen, wie langſam dieſer
Prozeß, nachdem er dem Prinzip nach längſt entſchieden iſt, ſich auch wirklich
vollzieht, wir werden ebenſo ſehen, wie langſam die Phantaſie ſich von der
Nothwendigkeit ihres unendlichen Verluſts überzeugt. Dieſer Verluſt iſt ein
Verluſt ſowohl an Stoff, als an Erleichterung ihres Thuns. Die Reli-
gion, die Sage brachte ihr ja den urſprünglichen Stoff in einem idealen,
äſthetiſch ſchon halbfertigen Auszuge entgegen. Wir nannten dieß ſchon in
§. 418 einen Vorſchub, und gewiß welchen Vortheil hat die Kunſt, wenn
ſie Götter, wenn ſie große Sagen hat! Sie braucht gar nicht zu fragen,
was darzuſtellen ſei, in eine Allen geläufige Welt voll fruchtbarer Mo-
tive darf ſie nur hineingreifen, und mag ſie tauſendmal daſſelbe dar-
ſtellen, ſie kann immer neu ſein. Wir haben unter den geſchichtlichen
Bedingungen des Verluſtes dieſes unendlichen Vorſchubs die Reformation
genannt: dieſer große ſittliche Bruch mit dem Mittelalter drängt ſich nach
hoffnungsvollem Anfang in das Gebiet der Religion zurück, er iſt daher
(vergl. §. 367) keine conſequente Auflöſung des Mythiſchen. Zudem aber
bleiben die katholiſchen Völker und Provinzen ganz im Mythiſchen ſtehen,
wie ſehr die übrige, rationell veränderte Geſtalt des Lebens dieſe Form
des Bewußtſeins widerlegen mag. Daher iſt der Verluſt der mythiſchen
Welt nicht einfach ein ſolcher, welcher für die beſondere Phantaſie dadurch
entſtünde, daß die allgemeine Phantaſie völlig aufgehört hätte, ihr durch
Mythus und Sage vorzuarbeiten, ſondern jene kann nur nicht mehr
brauchen, was dieſe von zweiter Stoffwelt feſthält. Ein Vorarbeiten kann
es freilich nicht wohl mehr genannt werden; die allgemeine Phantaſie
hängt noch, aber ohne Friſche neuer Erfindung, ohne geſunde Intenſität,
an den überlieferten Mythen, die beſondere aber, die freie des wahrhaft
Begabten, hat dieſen Stoff längſt erſchöpft, er lebt für ſie nicht mehr,
ſie tritt aus dem Bunde mit dem Mythus und der Sage, der Mythus
gehört der Religion als ſolcher, die Sage herrſcht ebenfalls noch da, wo
das Bewußtſein noch durch den unfreien Schein der Religion gebunden
iſt, alſo kann man ſagen, die Phantaſie tritt aus dem Bunde mit der
Religion. Sie wird weltlich, denn weltlich nennen wir die freie Be-
wegung des Geiſtes in der Objectivität da, wo es daneben noch eine
unfreie, die geiſtliche gibt. Hiemit iſt nicht geſagt, daß die freie Phan-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |