1. Die Kunstlehre, die ja nothwendig hier vorbereitet werden muß, darf uns vorläufig den deutlicheren Namen leihen: dieses Ideal ist mu- sikalisch. Dieß bedarf keiner weiteren Begründung; wo die Deutlich- keit der Gestalt sich stetig in das Erzittern der unendlichen Innerlichkeit und in das Fortzittern von Innerem zu Innerem, in dieses sensorium commune auflöst, da ist die empfindende Art der Phantasie als Tonan- gebender Standpunkt von selbst gesetzt. Schiller nun hat zuerst den Na- men des Sentimentalen so allgemein angewandt, daß er dieß ganze Ideal damit bezeichnete, während er das antike naiv nannte. Wir lassen aber denselben billig einer besonderen Stimmungs-Epoche des moder- nen Ideals; er enthält etwas Pathologisches, das ihn nicht zu der Be- zeichnung einer großen und selbständigen Periode des Ideals eignet; davon an seinem Orte, jedenfalls wird durch ihn eine Flucht aus der Natur und Grenze und zugleich eine Sehnsucht nach ihrem verlorenen Glücke bezeichnet, wozu das Mittelalter wohl einen Ansatz, aber keines- wegs alle Bedingungen in sich hatte. Das Mittelalter hat mit der Naive- tät gebrochen und steckt doch noch in ihr, seine Art, aus der Natur zu fliehen, ist (weil mythisch) selbst wieder naiv. Allein die ganze Entwick- lung bei Schiller hat eine Schiefheit sowohl in der Ausdehnung der Be- griffe, als in ihrer Bestimmung. Schiller nennt nicht nur die Alten, sondern auch Shakespeare und Göthe naiv und begründet dieß durch die Beilegung von Eigenschaften, welche eben nur das ächte Genie bezeichnen. Ebenso nennt er umgekehrt antike Dichter (Euripides, Horaz, Properz, Virgil) sentimental mit Beilegung von Eigenschaften, welche die Auflö- sung der ächten und ganzen Phantasie bezeichnen. Es bleibt daher un- klar, ob er einen historischen oder einen allezeit bestehenden Unterschied darstellen will, er sucht sich mit den bei aller Größe unläugbaren Män- geln seiner Phantasie eine Stelle neben Göthe zu retten und stellt daher die sentimentale Dichtung als eine eigene Gattung auf. Er bestimmt nun die Begriffe so: der sentimentale Dichter erhebt die Wirklichkeit zum Ideal, rührt durch Ideen, hat zwei Prinzipien, die Wirklichkeit als Grenze und das Unendliche als Idee; der naive ist sein Werk und sein Werk ist er, er ist objectiv, er rührt durch Naturdarstellung, er hat Ein Prinzip, die Natur. Dieß ist grundfalsch, alle ächte Phantasie hat und gibt Na- tur, Grenze, Bild und Idee ungetrennt in Einem, alle ächte Kunst ist Kunst der Begrenzung und des Unendlichen zugleich. Die griechische Phantasie hat und gibt diese Einheit, die romantische, die moderne nicht minder; denn die beiden letzteren haben (in verschiedener Weise freilich) zwar einen Bruch zwischen Geist und Natur darzustellen, ihr Stoff hat also, wenn man will, zwei Prinzipien, aber diesen Bruch, diese Zweiheit des Daseins selbst haben sie ganz ebenso wie der antike in der Begren-
1. Die Kunſtlehre, die ja nothwendig hier vorbereitet werden muß, darf uns vorläufig den deutlicheren Namen leihen: dieſes Ideal iſt mu- ſikaliſch. Dieß bedarf keiner weiteren Begründung; wo die Deutlich- keit der Geſtalt ſich ſtetig in das Erzittern der unendlichen Innerlichkeit und in das Fortzittern von Innerem zu Innerem, in dieſes sensorium commune auflöst, da iſt die empfindende Art der Phantaſie als Tonan- gebender Standpunkt von ſelbſt geſetzt. Schiller nun hat zuerſt den Na- men des Sentimentalen ſo allgemein angewandt, daß er dieß ganze Ideal damit bezeichnete, während er das antike naiv nannte. Wir laſſen aber denſelben billig einer beſonderen Stimmungs-Epoche des moder- nen Ideals; er enthält etwas Pathologiſches, das ihn nicht zu der Be- zeichnung einer großen und ſelbſtändigen Periode des Ideals eignet; davon an ſeinem Orte, jedenfalls wird durch ihn eine Flucht aus der Natur und Grenze und zugleich eine Sehnſucht nach ihrem verlorenen Glücke bezeichnet, wozu das Mittelalter wohl einen Anſatz, aber keines- wegs alle Bedingungen in ſich hatte. Das Mittelalter hat mit der Naive- tät gebrochen und ſteckt doch noch in ihr, ſeine Art, aus der Natur zu fliehen, iſt (weil mythiſch) ſelbſt wieder naiv. Allein die ganze Entwick- lung bei Schiller hat eine Schiefheit ſowohl in der Ausdehnung der Be- griffe, als in ihrer Beſtimmung. Schiller nennt nicht nur die Alten, ſondern auch Shakespeare und Göthe naiv und begründet dieß durch die Beilegung von Eigenſchaften, welche eben nur das ächte Genie bezeichnen. Ebenſo nennt er umgekehrt antike Dichter (Euripides, Horaz, Properz, Virgil) ſentimental mit Beilegung von Eigenſchaften, welche die Auflö- ſung der ächten und ganzen Phantaſie bezeichnen. Es bleibt daher un- klar, ob er einen hiſtoriſchen oder einen allezeit beſtehenden Unterſchied darſtellen will, er ſucht ſich mit den bei aller Größe unläugbaren Män- geln ſeiner Phantaſie eine Stelle neben Göthe zu retten und ſtellt daher die ſentimentale Dichtung als eine eigene Gattung auf. Er beſtimmt nun die Begriffe ſo: der ſentimentale Dichter erhebt die Wirklichkeit zum Ideal, rührt durch Ideen, hat zwei Prinzipien, die Wirklichkeit als Grenze und das Unendliche als Idee; der naive iſt ſein Werk und ſein Werk iſt er, er iſt objectiv, er rührt durch Naturdarſtellung, er hat Ein Prinzip, die Natur. Dieß iſt grundfalſch, alle ächte Phantaſie hat und gibt Na- tur, Grenze, Bild und Idee ungetrennt in Einem, alle ächte Kunſt iſt Kunſt der Begrenzung und des Unendlichen zugleich. Die griechiſche Phantaſie hat und gibt dieſe Einheit, die romantiſche, die moderne nicht minder; denn die beiden letzteren haben (in verſchiedener Weiſe freilich) zwar einen Bruch zwiſchen Geiſt und Natur darzuſtellen, ihr Stoff hat alſo, wenn man will, zwei Prinzipien, aber dieſen Bruch, dieſe Zweiheit des Daſeins ſelbſt haben ſie ganz ebenſo wie der antike in der Begren-
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1. Die Kunſtlehre, die ja nothwendig hier vorbereitet werden muß,
darf uns vorläufig den deutlicheren Namen leihen: dieſes Ideal iſt mu-
ſikaliſch. Dieß bedarf keiner weiteren Begründung; wo die Deutlich-
keit der Geſtalt ſich ſtetig in das Erzittern der unendlichen Innerlichkeit
und in das Fortzittern von Innerem zu Innerem, in dieſes sensorium
commune auflöst, da iſt die empfindende Art der Phantaſie als Tonan-
gebender Standpunkt von ſelbſt geſetzt. Schiller nun hat zuerſt den Na-
men des Sentimentalen ſo allgemein angewandt, daß er dieß ganze
Ideal damit bezeichnete, während er das antike naiv nannte. Wir laſſen
aber denſelben billig einer beſonderen Stimmungs-Epoche des moder-
nen Ideals; er enthält etwas Pathologiſches, das ihn nicht zu der Be-
zeichnung einer großen und ſelbſtändigen Periode des Ideals eignet;
davon an ſeinem Orte, jedenfalls wird durch ihn eine Flucht aus der
Natur und Grenze und zugleich eine Sehnſucht nach ihrem verlorenen
Glücke bezeichnet, wozu das Mittelalter wohl einen Anſatz, aber keines-
wegs alle Bedingungen in ſich hatte. Das Mittelalter hat mit der Naive-
tät gebrochen und ſteckt doch noch in ihr, ſeine Art, aus der Natur zu
fliehen, iſt (weil mythiſch) ſelbſt wieder naiv. Allein die ganze Entwick-
lung bei Schiller hat eine Schiefheit ſowohl in der Ausdehnung der Be-
griffe, als in ihrer Beſtimmung. Schiller nennt nicht nur die Alten,
ſondern auch Shakespeare und Göthe naiv und begründet dieß durch die
Beilegung von Eigenſchaften, welche eben nur das ächte Genie bezeichnen.
Ebenſo nennt er umgekehrt antike Dichter (Euripides, Horaz, Properz,
Virgil) ſentimental mit Beilegung von Eigenſchaften, welche die Auflö-
ſung der ächten und ganzen Phantaſie bezeichnen. Es bleibt daher un-
klar, ob er einen hiſtoriſchen oder einen allezeit beſtehenden Unterſchied
darſtellen will, er ſucht ſich mit den bei aller Größe unläugbaren Män-
geln ſeiner Phantaſie eine Stelle neben Göthe zu retten und ſtellt daher
die ſentimentale Dichtung als eine eigene Gattung auf. Er beſtimmt
nun die Begriffe ſo: der ſentimentale Dichter erhebt die Wirklichkeit zum
Ideal, rührt durch Ideen, hat zwei Prinzipien, die Wirklichkeit als Grenze
und das Unendliche als Idee; der naive iſt ſein Werk und ſein Werk iſt
er, er iſt objectiv, er rührt durch Naturdarſtellung, er hat Ein Prinzip,
die Natur. Dieß iſt grundfalſch, alle ächte Phantaſie hat und gibt Na-
tur, Grenze, Bild und Idee ungetrennt in Einem, alle ächte Kunſt iſt
Kunſt der Begrenzung und des Unendlichen zugleich. Die griechiſche
Phantaſie hat und gibt dieſe Einheit, die romantiſche, die moderne nicht
minder; denn die beiden letzteren haben (in verſchiedener Weiſe freilich)
zwar einen Bruch zwiſchen Geiſt und Natur darzuſtellen, ihr Stoff hat
alſo, wenn man will, zwei Prinzipien, aber dieſen Bruch, dieſe Zweiheit
des Daſeins ſelbſt haben ſie ganz ebenſo wie der antike in der Begren-
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 488. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/202>, abgerufen am 08.07.2024.
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