Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.1. Die Kunstlehre, die ja nothwendig hier vorbereitet werden muß, 1. Die Kunſtlehre, die ja nothwendig hier vorbereitet werden muß, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <pb facs="#f0202" n="488"/> <p> <hi rendition="#et">1. Die Kunſtlehre, die ja nothwendig hier vorbereitet werden muß,<lb/> darf uns vorläufig den deutlicheren Namen leihen: dieſes Ideal iſt <hi rendition="#g">mu-<lb/> ſikaliſch</hi>. Dieß bedarf keiner weiteren Begründung; wo die Deutlich-<lb/> keit der Geſtalt ſich ſtetig in das Erzittern der unendlichen Innerlichkeit<lb/> und in das Fortzittern von Innerem zu Innerem, in dieſes <hi rendition="#aq">sensorium<lb/> commune</hi> auflöst, da iſt die empfindende Art der Phantaſie als Tonan-<lb/> gebender Standpunkt von ſelbſt geſetzt. Schiller nun hat zuerſt den Na-<lb/> men des <hi rendition="#g">Sentimentalen</hi> ſo allgemein angewandt, daß er dieß ganze<lb/> Ideal damit bezeichnete, während er das antike naiv nannte. Wir laſſen<lb/> aber denſelben billig einer beſonderen Stimmungs-Epoche des moder-<lb/> nen Ideals; er enthält etwas Pathologiſches, das ihn nicht zu der Be-<lb/> zeichnung einer großen und ſelbſtändigen Periode des Ideals eignet;<lb/> davon an ſeinem Orte, jedenfalls wird durch ihn eine Flucht aus der<lb/> Natur und Grenze und zugleich eine Sehnſucht nach ihrem verlorenen<lb/> Glücke bezeichnet, wozu das Mittelalter wohl einen Anſatz, aber keines-<lb/> wegs alle Bedingungen in ſich hatte. Das Mittelalter hat mit der Naive-<lb/> tät gebrochen und ſteckt doch noch in ihr, ſeine Art, aus der Natur zu<lb/> fliehen, iſt (weil mythiſch) ſelbſt wieder naiv. Allein die ganze Entwick-<lb/> lung bei Schiller hat eine Schiefheit ſowohl in der Ausdehnung der Be-<lb/> griffe, als in ihrer Beſtimmung. Schiller nennt nicht nur die Alten,<lb/> ſondern auch Shakespeare und Göthe naiv und begründet dieß durch die<lb/> Beilegung von Eigenſchaften, welche eben nur das ächte Genie bezeichnen.<lb/> Ebenſo nennt er umgekehrt antike Dichter (Euripides, Horaz, Properz,<lb/> Virgil) ſentimental mit Beilegung von Eigenſchaften, welche die Auflö-<lb/> ſung der ächten und ganzen Phantaſie bezeichnen. Es bleibt daher un-<lb/> klar, ob er einen hiſtoriſchen oder einen allezeit beſtehenden Unterſchied<lb/> darſtellen will, er ſucht <hi rendition="#g">ſich</hi> mit den bei aller Größe unläugbaren Män-<lb/> geln ſeiner Phantaſie eine Stelle neben Göthe zu retten und ſtellt daher<lb/> die ſentimentale Dichtung als eine eigene Gattung auf. Er beſtimmt<lb/> nun die Begriffe ſo: der ſentimentale Dichter erhebt die Wirklichkeit zum<lb/> Ideal, rührt durch Ideen, hat zwei Prinzipien, die Wirklichkeit als Grenze<lb/> und das Unendliche als Idee; der naive iſt ſein Werk und ſein Werk iſt<lb/> er, er iſt objectiv, er rührt durch Naturdarſtellung, er hat Ein Prinzip,<lb/> die Natur. Dieß iſt grundfalſch, alle ächte Phantaſie hat und gibt Na-<lb/> tur, Grenze, Bild und Idee ungetrennt in Einem, alle ächte Kunſt iſt<lb/> Kunſt der Begrenzung und des Unendlichen zugleich. Die griechiſche<lb/> Phantaſie hat und gibt dieſe Einheit, die romantiſche, die moderne nicht<lb/> minder; denn die beiden letzteren haben (in verſchiedener Weiſe freilich)<lb/> zwar einen Bruch zwiſchen Geiſt und Natur darzuſtellen, ihr Stoff hat<lb/> alſo, wenn man will, zwei Prinzipien, aber dieſen Bruch, dieſe Zweiheit<lb/> des Daſeins ſelbſt haben ſie ganz ebenſo wie der antike in der Begren-<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [488/0202]
1. Die Kunſtlehre, die ja nothwendig hier vorbereitet werden muß,
darf uns vorläufig den deutlicheren Namen leihen: dieſes Ideal iſt mu-
ſikaliſch. Dieß bedarf keiner weiteren Begründung; wo die Deutlich-
keit der Geſtalt ſich ſtetig in das Erzittern der unendlichen Innerlichkeit
und in das Fortzittern von Innerem zu Innerem, in dieſes sensorium
commune auflöst, da iſt die empfindende Art der Phantaſie als Tonan-
gebender Standpunkt von ſelbſt geſetzt. Schiller nun hat zuerſt den Na-
men des Sentimentalen ſo allgemein angewandt, daß er dieß ganze
Ideal damit bezeichnete, während er das antike naiv nannte. Wir laſſen
aber denſelben billig einer beſonderen Stimmungs-Epoche des moder-
nen Ideals; er enthält etwas Pathologiſches, das ihn nicht zu der Be-
zeichnung einer großen und ſelbſtändigen Periode des Ideals eignet;
davon an ſeinem Orte, jedenfalls wird durch ihn eine Flucht aus der
Natur und Grenze und zugleich eine Sehnſucht nach ihrem verlorenen
Glücke bezeichnet, wozu das Mittelalter wohl einen Anſatz, aber keines-
wegs alle Bedingungen in ſich hatte. Das Mittelalter hat mit der Naive-
tät gebrochen und ſteckt doch noch in ihr, ſeine Art, aus der Natur zu
fliehen, iſt (weil mythiſch) ſelbſt wieder naiv. Allein die ganze Entwick-
lung bei Schiller hat eine Schiefheit ſowohl in der Ausdehnung der Be-
griffe, als in ihrer Beſtimmung. Schiller nennt nicht nur die Alten,
ſondern auch Shakespeare und Göthe naiv und begründet dieß durch die
Beilegung von Eigenſchaften, welche eben nur das ächte Genie bezeichnen.
Ebenſo nennt er umgekehrt antike Dichter (Euripides, Horaz, Properz,
Virgil) ſentimental mit Beilegung von Eigenſchaften, welche die Auflö-
ſung der ächten und ganzen Phantaſie bezeichnen. Es bleibt daher un-
klar, ob er einen hiſtoriſchen oder einen allezeit beſtehenden Unterſchied
darſtellen will, er ſucht ſich mit den bei aller Größe unläugbaren Män-
geln ſeiner Phantaſie eine Stelle neben Göthe zu retten und ſtellt daher
die ſentimentale Dichtung als eine eigene Gattung auf. Er beſtimmt
nun die Begriffe ſo: der ſentimentale Dichter erhebt die Wirklichkeit zum
Ideal, rührt durch Ideen, hat zwei Prinzipien, die Wirklichkeit als Grenze
und das Unendliche als Idee; der naive iſt ſein Werk und ſein Werk iſt
er, er iſt objectiv, er rührt durch Naturdarſtellung, er hat Ein Prinzip,
die Natur. Dieß iſt grundfalſch, alle ächte Phantaſie hat und gibt Na-
tur, Grenze, Bild und Idee ungetrennt in Einem, alle ächte Kunſt iſt
Kunſt der Begrenzung und des Unendlichen zugleich. Die griechiſche
Phantaſie hat und gibt dieſe Einheit, die romantiſche, die moderne nicht
minder; denn die beiden letzteren haben (in verſchiedener Weiſe freilich)
zwar einen Bruch zwiſchen Geiſt und Natur darzuſtellen, ihr Stoff hat
alſo, wenn man will, zwei Prinzipien, aber dieſen Bruch, dieſe Zweiheit
des Daſeins ſelbſt haben ſie ganz ebenſo wie der antike in der Begren-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |