furchtbarer Art; überhaupt aber hat das Komische nun den Boden ge- funden, wo seine tieferen Schätze liegen. Sie dringen ein mit der frei- gelassenen Eigenheit der Individualität, der innere Widerspruch ist aufge- than auch im guten Menschen durch das aufgegangene Bewußtsein der Unangemessenheit seiner Erscheinung und der ganzen Naturseite seines Geistes zu seinem idealen Selbst. Im religiösen Kreise selbst herrscht eine witzige Ironie: die Naturgesetze und irdischen Zwecke sind Schein, schlagen in ihr Gegentheil um; im weltlichen darf man nur an einen Parzival, den "Tumbe-Klaren" erinnern, dessen herrliches Gemüth über seine eigene Erscheinung stolpert. Die Form aber bleibt immer sinnlich, Fastnacht-, Hanswurstartig, auch wo die Komik den höchsten Gehalt er- greift, und zugleich hiemit ist auch ausgesprochen, daß die nun zugänglichen Quellen des Komischen keineswegs ganz erschöpft werden. Es fehlt die Ausbildung des Weltlichen und der Reflexion. Ebendieß ist nun auch der Grund, warum in dieser Phantasie noch kein Raum sich findet, das Schicksal als die dialektische Macht im Wirklichen zur Darstellung zu bringen. Die Griechen konnten dem Tragischen diese wahre Gestalt ge- ben, weil ihre Götterwelt Abbild einer ganzen und vollen, einer mün- digen, politischen Menschenwelt war und weil sie in ihrer Schicksals-Idee hinter die Götter selbst zurückgriffen, wo sie denn die Menschenwelt und das Schicksal als seine Macht in Eins zusammenfaßten. Im Mit- telalter dagegen wird von der Menschenwelt nur das Gemüthsleben her- ausgenommen und in die Götter gelegt, hinter diese zurückzugreifen in die immanente Idee der Weltordnung dazu fehlt noch die Helle des Geistes: daher machen die Götter das Loos des Menschen in ihrem Jenseits ab, er hat das Zusehen. Also ist keine Tragödie möglich, und weil es kein Schicksal gibt, auch keine Befreiung von ihm, keine Komödie.
§. 458.
Unter den in §. 404 aufgeführten Arten ist es die empfindende1 Phantasie, worauf das Mittelalter durch seine Grundstimmung angewiesen ist, doch nicht mit der Einschränkung wie die jüdische (§. 433, 3.), sondern so, daß sie zugleich in gewissen Sphären der bildenden heimisch diese im Geiste der empfindenden behandelt. Besonders im messenden Sehen wird sie die Sehn-2 sucht des Gefühls ausdrücken, für das tastende so gut als gar nicht, für das eigentliche Sehen dagegen vorzüglich bestimmt sein, als dichtende Phantasie3 aber wird sie, gemäß diesen Bedingungen wirkend, am wenigsten zu derjenigen Unterart berufen sein, welche das empfindende Innere zu freier Einheit mit dem Standpunkte der bildenden Auffassung fortführt.
furchtbarer Art; überhaupt aber hat das Komiſche nun den Boden ge- funden, wo ſeine tieferen Schätze liegen. Sie dringen ein mit der frei- gelaſſenen Eigenheit der Individualität, der innere Widerſpruch iſt aufge- than auch im guten Menſchen durch das aufgegangene Bewußtſein der Unangemeſſenheit ſeiner Erſcheinung und der ganzen Naturſeite ſeines Geiſtes zu ſeinem idealen Selbſt. Im religiöſen Kreiſe ſelbſt herrſcht eine witzige Ironie: die Naturgeſetze und irdiſchen Zwecke ſind Schein, ſchlagen in ihr Gegentheil um; im weltlichen darf man nur an einen Parzival, den „Tumbe-Klaren“ erinnern, deſſen herrliches Gemüth über ſeine eigene Erſcheinung ſtolpert. Die Form aber bleibt immer ſinnlich, Faſtnacht-, Hanswurſtartig, auch wo die Komik den höchſten Gehalt er- greift, und zugleich hiemit iſt auch ausgeſprochen, daß die nun zugänglichen Quellen des Komiſchen keineswegs ganz erſchöpft werden. Es fehlt die Ausbildung des Weltlichen und der Reflexion. Ebendieß iſt nun auch der Grund, warum in dieſer Phantaſie noch kein Raum ſich findet, das Schickſal als die dialektiſche Macht im Wirklichen zur Darſtellung zu bringen. Die Griechen konnten dem Tragiſchen dieſe wahre Geſtalt ge- ben, weil ihre Götterwelt Abbild einer ganzen und vollen, einer mün- digen, politiſchen Menſchenwelt war und weil ſie in ihrer Schickſals-Idee hinter die Götter ſelbſt zurückgriffen, wo ſie denn die Menſchenwelt und das Schickſal als ſeine Macht in Eins zuſammenfaßten. Im Mit- telalter dagegen wird von der Menſchenwelt nur das Gemüthsleben her- ausgenommen und in die Götter gelegt, hinter dieſe zurückzugreifen in die immanente Idee der Weltordnung dazu fehlt noch die Helle des Geiſtes: daher machen die Götter das Loos des Menſchen in ihrem Jenſeits ab, er hat das Zuſehen. Alſo iſt keine Tragödie möglich, und weil es kein Schickſal gibt, auch keine Befreiung von ihm, keine Komödie.
§. 458.
Unter den in §. 404 aufgeführten Arten iſt es die empfindende1 Phantaſie, worauf das Mittelalter durch ſeine Grundſtimmung angewieſen iſt, doch nicht mit der Einſchränkung wie die jüdiſche (§. 433, 3.), ſondern ſo, daß ſie zugleich in gewiſſen Sphären der bildenden heimiſch dieſe im Geiſte der empfindenden behandelt. Beſonders im meſſenden Sehen wird ſie die Sehn-2 ſucht des Gefühls ausdrücken, für das taſtende ſo gut als gar nicht, für das eigentliche Sehen dagegen vorzüglich beſtimmt ſein, als dichtende Phantaſie3 aber wird ſie, gemäß dieſen Bedingungen wirkend, am wenigſten zu derjenigen Unterart berufen ſein, welche das empfindende Innere zu freier Einheit mit dem Standpunkte der bildenden Auffaſſung fortführt.
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[487/0201]
furchtbarer Art; überhaupt aber hat das Komiſche nun den Boden ge-
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gelaſſenen Eigenheit der Individualität, der innere Widerſpruch iſt aufge-
than auch im guten Menſchen durch das aufgegangene Bewußtſein der
Unangemeſſenheit ſeiner Erſcheinung und der ganzen Naturſeite ſeines
Geiſtes zu ſeinem idealen Selbſt. Im religiöſen Kreiſe ſelbſt herrſcht
eine witzige Ironie: die Naturgeſetze und irdiſchen Zwecke ſind Schein,
ſchlagen in ihr Gegentheil um; im weltlichen darf man nur an einen
Parzival, den „Tumbe-Klaren“ erinnern, deſſen herrliches Gemüth über
ſeine eigene Erſcheinung ſtolpert. Die Form aber bleibt immer ſinnlich,
Faſtnacht-, Hanswurſtartig, auch wo die Komik den höchſten Gehalt er-
greift, und zugleich hiemit iſt auch ausgeſprochen, daß die nun zugänglichen
Quellen des Komiſchen keineswegs ganz erſchöpft werden. Es fehlt die
Ausbildung des Weltlichen und der Reflexion. Ebendieß iſt nun auch
der Grund, warum in dieſer Phantaſie noch kein Raum ſich findet, das
Schickſal als die dialektiſche Macht im Wirklichen zur Darſtellung zu
bringen. Die Griechen konnten dem Tragiſchen dieſe wahre Geſtalt ge-
ben, weil ihre Götterwelt Abbild einer ganzen und vollen, einer mün-
digen, politiſchen Menſchenwelt war und weil ſie in ihrer Schickſals-Idee
hinter die Götter ſelbſt zurückgriffen, wo ſie denn die Menſchenwelt
und das Schickſal als ſeine Macht in Eins zuſammenfaßten. Im Mit-
telalter dagegen wird von der Menſchenwelt nur das Gemüthsleben her-
ausgenommen und in die Götter gelegt, hinter dieſe zurückzugreifen in die
immanente Idee der Weltordnung dazu fehlt noch die Helle des Geiſtes:
daher machen die Götter das Loos des Menſchen in ihrem Jenſeits ab,
er hat das Zuſehen. Alſo iſt keine Tragödie möglich, und weil es kein
Schickſal gibt, auch keine Befreiung von ihm, keine Komödie.
§. 458.
Unter den in §. 404 aufgeführten Arten iſt es die empfindende
Phantaſie, worauf das Mittelalter durch ſeine Grundſtimmung angewieſen iſt,
doch nicht mit der Einſchränkung wie die jüdiſche (§. 433, 3.), ſondern ſo, daß
ſie zugleich in gewiſſen Sphären der bildenden heimiſch dieſe im Geiſte der
empfindenden behandelt. Beſonders im meſſenden Sehen wird ſie die Sehn-
ſucht des Gefühls ausdrücken, für das taſtende ſo gut als gar nicht, für das
eigentliche Sehen dagegen vorzüglich beſtimmt ſein, als dichtende Phantaſie
aber wird ſie, gemäß dieſen Bedingungen wirkend, am wenigſten zu derjenigen
Unterart berufen ſein, welche das empfindende Innere zu freier Einheit mit
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 487. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/201>, abgerufen am 17.02.2025.
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