und daher in die Theilnahme an dem absoluten Werthe der Persönlichkeit zieht. In diesem Sinne ist allerdings die Aristokratie der Gestalt (§. 62) aufgehoben und durch ungleich weitere Aufnahme der vom Gattungstypus abweichenden Züge dringt eine porträtartige, mikroskopische Auffassung ein. Es folgt daraus, daß weniger die ganze Gestalt, als die vorzüglich sprechenden Theile derselben von dieser physiognomischen Behandlungsweise als Sitz der Schönheit her- vorgestellt werden.
Der Geist der Selbstüberwindung verzehrt das Behagen des Fleisches, den Eigenwillen, läßt aber im ausgebrannten Leibe die scharfen Züge der unendlichen Eigenheit, das Knochengerüste der Individualität stehen, und wie in der Gestalt, so im Innern. Sie sind jetzt berechtigt, weil "Alle erlöst, theuer erkauft sind", weil ganz der Einzelne sich als Gefäß des Unendlichen wissen darf; sie zählen positiv mit, ja ihre Adstriction ist eben die con- centrirte Persönlichkeit selbst. Sofern nun unter jener Aristokratie der Gestalt der streng gemessene Gattungstypus der griechischen Phantasie verstanden wird, der die individuellen Züge nur soweit zuläßt, als sie die zarte Schwelle, jenseits welcher die scharf in sich zusammengefaßte Emanzipation liegt, nicht überschreitet, so ist dieselbe verschwunden. In anderem Sinne aber dauert sie, wie wir sehen werden, fort. Die Gestalt mag nun trocken, hart, eckig, selbst armselig sein: Hände und Angesicht, am meisten das Auge widerlegen sie durch die Unendlichkeit des Ausdrucks, in welchem das Eigenste und das Allgemeinste, der kleine Mensch und der Himmel (aber auch die Hölle) zu Einer Wirkung aufgehen. Das Physiognomische tritt jetzt erst in seiner ganzen Bedeutung ein, wie über- haupt alle die Momente, welche in der Darstellung des Individuums als Stoff §. 331--340 aufgeführt wurden, soweit sie nämlich der tiefer in sich zusammengefaßten Welt der Individualität, aber noch nicht dem welt- lich frei gebildeten und zur Mündigkeit erwachsenen Charakter angehören; denn diesen kennt das eigentliche Mittelalter noch nicht.
§. 455.
Wenn nun dadurch ein allzuweiter Umfang störender Abweichungen in1 das Schöne einzudringen scheint, so hebt sich dieß vor Allem eben dadurch auf, daß dieß Phantasiegebilde die Anschauung nöthigt, in steter Bewegung von jenen auf das unendlich werthvolle Innere überzugehen, indem die Umrisse in den Ausdruck der Innerlichkeit verschwimmen und verzittern; aber auch dadurch,2 daß in diesem Ideale nicht mehr die einzelne Gestalt schön sein muß (vergl. §. 437), sondern die Unebenheiten dieser in der Gesammtwirkung, welche in einem ästhetischen Ganzen Viele vereinigt, sich ergänzen.
und daher in die Theilnahme an dem abſoluten Werthe der Perſönlichkeit zieht. In dieſem Sinne iſt allerdings die Ariſtokratie der Geſtalt (§. 62) aufgehoben und durch ungleich weitere Aufnahme der vom Gattungstypus abweichenden Züge dringt eine porträtartige, mikroſkopiſche Auffaſſung ein. Es folgt daraus, daß weniger die ganze Geſtalt, als die vorzüglich ſprechenden Theile derſelben von dieſer phyſiognomiſchen Behandlungsweiſe als Sitz der Schönheit her- vorgeſtellt werden.
Der Geiſt der Selbſtüberwindung verzehrt das Behagen des Fleiſches, den Eigenwillen, läßt aber im ausgebrannten Leibe die ſcharfen Züge der unendlichen Eigenheit, das Knochengerüſte der Individualität ſtehen, und wie in der Geſtalt, ſo im Innern. Sie ſind jetzt berechtigt, weil „Alle erlöst, theuer erkauft ſind“, weil ganz der Einzelne ſich als Gefäß des Unendlichen wiſſen darf; ſie zählen poſitiv mit, ja ihre Adſtriction iſt eben die con- centrirte Perſönlichkeit ſelbſt. Sofern nun unter jener Ariſtokratie der Geſtalt der ſtreng gemeſſene Gattungstypus der griechiſchen Phantaſie verſtanden wird, der die individuellen Züge nur ſoweit zuläßt, als ſie die zarte Schwelle, jenſeits welcher die ſcharf in ſich zuſammengefaßte Emanzipation liegt, nicht überſchreitet, ſo iſt dieſelbe verſchwunden. In anderem Sinne aber dauert ſie, wie wir ſehen werden, fort. Die Geſtalt mag nun trocken, hart, eckig, ſelbſt armſelig ſein: Hände und Angeſicht, am meiſten das Auge widerlegen ſie durch die Unendlichkeit des Ausdrucks, in welchem das Eigenſte und das Allgemeinſte, der kleine Menſch und der Himmel (aber auch die Hölle) zu Einer Wirkung aufgehen. Das Phyſiognomiſche tritt jetzt erſt in ſeiner ganzen Bedeutung ein, wie über- haupt alle die Momente, welche in der Darſtellung des Individuums als Stoff §. 331—340 aufgeführt wurden, ſoweit ſie nämlich der tiefer in ſich zuſammengefaßten Welt der Individualität, aber noch nicht dem welt- lich frei gebildeten und zur Mündigkeit erwachſenen Charakter angehören; denn dieſen kennt das eigentliche Mittelalter noch nicht.
§. 455.
Wenn nun dadurch ein allzuweiter Umfang ſtörender Abweichungen in1 das Schöne einzudringen ſcheint, ſo hebt ſich dieß vor Allem eben dadurch auf, daß dieß Phantaſiegebilde die Anſchauung nöthigt, in ſteter Bewegung von jenen auf das unendlich werthvolle Innere überzugehen, indem die Umriſſe in den Ausdruck der Innerlichkeit verſchwimmen und verzittern; aber auch dadurch,2 daß in dieſem Ideale nicht mehr die einzelne Geſtalt ſchön ſein muß (vergl. §. 437), ſondern die Unebenheiten dieſer in der Geſammtwirkung, welche in einem äſthetiſchen Ganzen Viele vereinigt, ſich ergänzen.
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und daher in die Theilnahme an dem abſoluten Werthe der Perſönlichkeit zieht.
In dieſem Sinne iſt allerdings die Ariſtokratie der Geſtalt (§. 62) aufgehoben
und durch ungleich weitere Aufnahme der vom Gattungstypus abweichenden
Züge dringt eine porträtartige, mikroſkopiſche Auffaſſung ein. Es folgt daraus,
daß weniger die ganze Geſtalt, als die vorzüglich ſprechenden Theile derſelben
von dieſer phyſiognomiſchen Behandlungsweiſe als Sitz der Schönheit her-
vorgeſtellt werden.
Der Geiſt der Selbſtüberwindung verzehrt das Behagen des Fleiſches,
den Eigenwillen, läßt aber im ausgebrannten Leibe die ſcharfen Züge der
unendlichen Eigenheit, das Knochengerüſte der Individualität ſtehen, und
wie in der Geſtalt, ſo im Innern. Sie ſind jetzt berechtigt, weil „Alle erlöst,
theuer erkauft ſind“, weil ganz der Einzelne ſich als Gefäß des Unendlichen
wiſſen darf; ſie zählen poſitiv mit, ja ihre Adſtriction iſt eben die con-
centrirte Perſönlichkeit ſelbſt. Sofern nun unter jener Ariſtokratie der
Geſtalt der ſtreng gemeſſene Gattungstypus der griechiſchen Phantaſie
verſtanden wird, der die individuellen Züge nur ſoweit zuläßt, als ſie
die zarte Schwelle, jenſeits welcher die ſcharf in ſich zuſammengefaßte
Emanzipation liegt, nicht überſchreitet, ſo iſt dieſelbe verſchwunden. In
anderem Sinne aber dauert ſie, wie wir ſehen werden, fort. Die Geſtalt
mag nun trocken, hart, eckig, ſelbſt armſelig ſein: Hände und Angeſicht,
am meiſten das Auge widerlegen ſie durch die Unendlichkeit des Ausdrucks,
in welchem das Eigenſte und das Allgemeinſte, der kleine Menſch und
der Himmel (aber auch die Hölle) zu Einer Wirkung aufgehen. Das
Phyſiognomiſche tritt jetzt erſt in ſeiner ganzen Bedeutung ein, wie über-
haupt alle die Momente, welche in der Darſtellung des Individuums als
Stoff §. 331—340 aufgeführt wurden, ſoweit ſie nämlich der tiefer in
ſich zuſammengefaßten Welt der Individualität, aber noch nicht dem welt-
lich frei gebildeten und zur Mündigkeit erwachſenen Charakter angehören;
denn dieſen kennt das eigentliche Mittelalter noch nicht.
§. 455.
Wenn nun dadurch ein allzuweiter Umfang ſtörender Abweichungen in
das Schöne einzudringen ſcheint, ſo hebt ſich dieß vor Allem eben dadurch auf,
daß dieß Phantaſiegebilde die Anſchauung nöthigt, in ſteter Bewegung von jenen
auf das unendlich werthvolle Innere überzugehen, indem die Umriſſe in den
Ausdruck der Innerlichkeit verſchwimmen und verzittern; aber auch dadurch,
daß in dieſem Ideale nicht mehr die einzelne Geſtalt ſchön ſein muß
(vergl. §. 437), ſondern die Unebenheiten dieſer in der Geſammtwirkung, welche
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 483. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/197>, abgerufen am 08.07.2024.
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