Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.
schaft. Diese Flächen, Berge, Bäume wissen nichts von einander, es kann
ſchaft. Dieſe Flächen, Berge, Bäume wiſſen nichts von einander, es kann <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0019" n="305"/> ſchaft. Dieſe Flächen, Berge, Bäume wiſſen nichts von einander, es kann<lb/> ihnen nicht einfallen, ſich zu einem wohlgefälligen Ganzen vereinigen zu<lb/> wollen: in dieſer Verſchiebung, dieſen ſich zuſammenbauenden Umrißen<lb/> und Farben ſehen wir ſie nur, weil wir hier und nicht wo anders ſtehen.<lb/> Aber auch ſo werden wir da einen Buſch, dort einen Hügel finden, der<lb/> dieſe Zuſammenſtellung ſtört, dort wird eine Erhöhung, ein Schatten feh-<lb/> len und wir werden uns geſtehen müſſen, daß ein inneres Auge heimlich<lb/> thätig war, umzuſtellen, zu ergänzen, nachzuhelfen. Ebenſo in einer<lb/> Handlung mehrerer belebter Weſen. Eine Scene iſt vielleicht voll Be-<lb/> deutung und Ausdruck, allein die Gruppen, die weſentlich zuſammen ge-<lb/> hören, ſind über trennende Räume zerſtreut; daſſelbe innere Auge über-<lb/> ſpringt dieſe, ſtellt zuſammen, was zuſammen-, ſtößt aus, was nicht<lb/> hineingehört. Andere ſchöne Gegenſtände ſind einzeln; da verzichten wir<lb/> auf Schönheit der Umgebung, wir laſſen ſie ſchon im Anſchauen weg,<lb/> wir vollziehen einen Act, wodurch wir ſie von jener abheben, wie von<lb/> einer Wand, einem Hintergrund, und zwar zunächſt ohne Bewußtſein und Ab-<lb/> ſicht; tritt ein ſchönes Weib in eine Geſellſchaft, ſo fallen aller Augen<lb/> mit Erſtaunen auf ſie, man ſieht jetzt alle übrigen Perſonen und Gegen-<lb/> ſtände nicht oder nur als ihre Folie. Allein nun müſſen wir den einzelnen<lb/> Gegenſtand näher anſehen und zwar ſowohl im letzteren Falle, wo er<lb/> allein Object der Schönheit iſt, als auch im erſteren, wo wir mehrere<lb/> zuſammen als ſchön anſchauen. Da wird ſich denn an der Oberfläche<lb/> des einzelnen Gegenſtandes dieſelbe Erfahrung wiederholen, wie dort,<lb/> wo mehrere vereinigt den Gegenſtand bilden: zwiſchen ſchönen Theilen<lb/> werden ſich unſchöne finden und zwar an jedem, auch dem ſcheinbar ſchön-<lb/> ſten Gegenſtande. Glücklicher Weiſe iſt unſer Auge kein Mikroſkop, ſchon<lb/> das gemeine Sehen idealiſirt, ſonſt würden die Blattläuſe am Baum,<lb/> der Schmutz und die Infuſorien im reinſten Waſſer, die Unreinheiten der<lb/> zarteſten menſchlichen Haut uns jeden Reiz zerſtören. Wir ſehen nur bei<lb/> einem gewiſſen <hi rendition="#g">Grad von Entfernung</hi>. Die Ferne aber iſt es eben,<lb/> welche ſchon an ſich idealiſirt; nicht nur das Unreine der Oberfläche ver-<lb/> ſchwindet durch ſie, ſondern überhaupt die Einzelnheiten der Zuſammen-<lb/> ſetzung des Körpers, wodurch er in die irdiſche Schwere fällt, die gemeine<lb/> Deutlichkeit, welche die Sandkörner zählt; ſo übernimmt ſchon die Operation<lb/> des Anſchauens an ſich einen Theil jener Ablöſung und Erhebung in die<lb/> reine Form (§. 54. 55). Wie die Raumferne, ſo wirkt die Zeitferne;<lb/> Geſchichte und Gedächtniß überliefern uns nicht alle Einzelnheiten eines<lb/> großen Vorganges oder Mannes; wir erfahren nicht alle ſchleppenden<lb/> Vermittlungen und nicht alle Schwächen, kleinen Nebenmotive der großen<lb/> Erſcheinung, nicht was Alles vorausgehen muß bei einer großen Schlacht,<lb/> die Waffen- und Munitionsbeſtellung u. ſ. w., nicht, wie groß<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [305/0019]
ſchaft. Dieſe Flächen, Berge, Bäume wiſſen nichts von einander, es kann
ihnen nicht einfallen, ſich zu einem wohlgefälligen Ganzen vereinigen zu
wollen: in dieſer Verſchiebung, dieſen ſich zuſammenbauenden Umrißen
und Farben ſehen wir ſie nur, weil wir hier und nicht wo anders ſtehen.
Aber auch ſo werden wir da einen Buſch, dort einen Hügel finden, der
dieſe Zuſammenſtellung ſtört, dort wird eine Erhöhung, ein Schatten feh-
len und wir werden uns geſtehen müſſen, daß ein inneres Auge heimlich
thätig war, umzuſtellen, zu ergänzen, nachzuhelfen. Ebenſo in einer
Handlung mehrerer belebter Weſen. Eine Scene iſt vielleicht voll Be-
deutung und Ausdruck, allein die Gruppen, die weſentlich zuſammen ge-
hören, ſind über trennende Räume zerſtreut; daſſelbe innere Auge über-
ſpringt dieſe, ſtellt zuſammen, was zuſammen-, ſtößt aus, was nicht
hineingehört. Andere ſchöne Gegenſtände ſind einzeln; da verzichten wir
auf Schönheit der Umgebung, wir laſſen ſie ſchon im Anſchauen weg,
wir vollziehen einen Act, wodurch wir ſie von jener abheben, wie von
einer Wand, einem Hintergrund, und zwar zunächſt ohne Bewußtſein und Ab-
ſicht; tritt ein ſchönes Weib in eine Geſellſchaft, ſo fallen aller Augen
mit Erſtaunen auf ſie, man ſieht jetzt alle übrigen Perſonen und Gegen-
ſtände nicht oder nur als ihre Folie. Allein nun müſſen wir den einzelnen
Gegenſtand näher anſehen und zwar ſowohl im letzteren Falle, wo er
allein Object der Schönheit iſt, als auch im erſteren, wo wir mehrere
zuſammen als ſchön anſchauen. Da wird ſich denn an der Oberfläche
des einzelnen Gegenſtandes dieſelbe Erfahrung wiederholen, wie dort,
wo mehrere vereinigt den Gegenſtand bilden: zwiſchen ſchönen Theilen
werden ſich unſchöne finden und zwar an jedem, auch dem ſcheinbar ſchön-
ſten Gegenſtande. Glücklicher Weiſe iſt unſer Auge kein Mikroſkop, ſchon
das gemeine Sehen idealiſirt, ſonſt würden die Blattläuſe am Baum,
der Schmutz und die Infuſorien im reinſten Waſſer, die Unreinheiten der
zarteſten menſchlichen Haut uns jeden Reiz zerſtören. Wir ſehen nur bei
einem gewiſſen Grad von Entfernung. Die Ferne aber iſt es eben,
welche ſchon an ſich idealiſirt; nicht nur das Unreine der Oberfläche ver-
ſchwindet durch ſie, ſondern überhaupt die Einzelnheiten der Zuſammen-
ſetzung des Körpers, wodurch er in die irdiſche Schwere fällt, die gemeine
Deutlichkeit, welche die Sandkörner zählt; ſo übernimmt ſchon die Operation
des Anſchauens an ſich einen Theil jener Ablöſung und Erhebung in die
reine Form (§. 54. 55). Wie die Raumferne, ſo wirkt die Zeitferne;
Geſchichte und Gedächtniß überliefern uns nicht alle Einzelnheiten eines
großen Vorganges oder Mannes; wir erfahren nicht alle ſchleppenden
Vermittlungen und nicht alle Schwächen, kleinen Nebenmotive der großen
Erſcheinung, nicht was Alles vorausgehen muß bei einer großen Schlacht,
die Waffen- und Munitionsbeſtellung u. ſ. w., nicht, wie groß
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