überwindenden und zu ihrer Wahrheit befreienden Geistes aufgegangen ist, so hat es den Vortheil beider Religionsformen vereinigt und den Mangel beider abgeworfen. Dieser Eine Geist in Allem ist absolute ethische Einheit, er sitzt aber nicht in den Wolken als Vergelter dessen, was er doch selbst bewirkt, sondern ist unverlierbar mit uns und in uns und noch viel inniger gegenwärtig, als die griechischen Götter. Der wahre geistige Kern des Judenthums ist in dieser reinen Anschauung ergänzt mit dem wahren geistigen Kern des Polytheismus: Heiligkeit des Einen Gottes mit der freundlichen Nähe der vielen Götter. Diese Ergänzung miß- glückt aber in der Religion des Mittelalters, weil sie den mythischen Stoff in die Vereinigung mit hinüberträgt. Sie beläßt den jüdischen Gott, den ein vorgestellter Leib von der Welt trennt, und verbessert die falsche Grund- lage nur dadurch, daß sie ihm die Affection der Liebe gegen die Welt beilegt, ihn zu einem gütigen und verzeihenden Vater macht. Ihm bleibt aber der Hofstaat der Seraphim, Cherubim und wie sonst diese verbleich- ten, mediatisirten Götter und Genien orientalischer Religionen noch heißen mögen, und ebenso dem himmlischen Reich gegenüber Ahriman als Teu- fel mit seinen bösen Geistern. Der Teufel ist besiegt und hat dennoch Macht, der Dualismus eines guten und bösen Gottes überwunden und doch fest- gehalten. Daher ist auch jene Liebe Gottes nicht stetig, nicht flüssig, sie braucht besonderer Acte, wechselt mit Kampf und Zorn und dem Men- schen ist Grauen und Unheimlichkeit nicht von der Seele genommen, er ist, der Liebe Gottes gewiß, bei sich und doch der bösen Macht Preis gegeben, nicht bei sich. Er trägt nun das Schicksal frei in sich selbst, die Götter sind eingestürzt in sein Inneres, und doch schwebt über ihm Schicksal und Götter-Rath und beschließt über ihn, hat beschlossen, wird beschließen das, was ja nur er selbst in sich beschließen kann. Der Wür- fel, der in seinem Innern liegt, wird über den Wolken und im Schlunde der Erde geworfen.
§. 448.
Eigentlich wäre durch das reine Prinzip der neuen Religion die ursprüng- liche Stoffwelt für die Phantasie gewonnen und die einfache Aufgabe der letz- teren dieß, die innere Bewegung des Menschen zur Unendlichkeit und Freiheit des Geistes durch Negation seines bloßen Naturseins und Eigenwillens in ent- sprechender Erscheinung darzustellen. So aber kann das abermals vorgestellte Jenseits nur durch die Wunder der Sage in die Wirklichkeit einbrechen und diese eröffnet sich im Zusammenfluß mit alten, polytheistischen Mythen mit der Vorstellung vom Leben und Opfertod eines Gottessohns, dessen zusammengefaßte Wirkungen als dritte Person in die Gottheit, dessen menschliche Mutter als Göttinn neben dieselbe gesetzt werden.
überwindenden und zu ihrer Wahrheit befreienden Geiſtes aufgegangen iſt, ſo hat es den Vortheil beider Religionsformen vereinigt und den Mangel beider abgeworfen. Dieſer Eine Geiſt in Allem iſt abſolute ethiſche Einheit, er ſitzt aber nicht in den Wolken als Vergelter deſſen, was er doch ſelbſt bewirkt, ſondern iſt unverlierbar mit uns und in uns und noch viel inniger gegenwärtig, als die griechiſchen Götter. Der wahre geiſtige Kern des Judenthums iſt in dieſer reinen Anſchauung ergänzt mit dem wahren geiſtigen Kern des Polytheiſmus: Heiligkeit des Einen Gottes mit der freundlichen Nähe der vielen Götter. Dieſe Ergänzung miß- glückt aber in der Religion des Mittelalters, weil ſie den mythiſchen Stoff in die Vereinigung mit hinüberträgt. Sie beläßt den jüdiſchen Gott, den ein vorgeſtellter Leib von der Welt trennt, und verbeſſert die falſche Grund- lage nur dadurch, daß ſie ihm die Affection der Liebe gegen die Welt beilegt, ihn zu einem gütigen und verzeihenden Vater macht. Ihm bleibt aber der Hofſtaat der Seraphim, Cherubim und wie ſonſt dieſe verbleich- ten, mediatiſirten Götter und Genien orientaliſcher Religionen noch heißen mögen, und ebenſo dem himmliſchen Reich gegenüber Ahriman als Teu- fel mit ſeinen böſen Geiſtern. Der Teufel iſt beſiegt und hat dennoch Macht, der Dualiſmus eines guten und böſen Gottes überwunden und doch feſt- gehalten. Daher iſt auch jene Liebe Gottes nicht ſtetig, nicht flüſſig, ſie braucht beſonderer Acte, wechſelt mit Kampf und Zorn und dem Men- ſchen iſt Grauen und Unheimlichkeit nicht von der Seele genommen, er iſt, der Liebe Gottes gewiß, bei ſich und doch der böſen Macht Preis gegeben, nicht bei ſich. Er trägt nun das Schickſal frei in ſich ſelbſt, die Götter ſind eingeſtürzt in ſein Inneres, und doch ſchwebt über ihm Schickſal und Götter-Rath und beſchließt über ihn, hat beſchloſſen, wird beſchließen das, was ja nur er ſelbſt in ſich beſchließen kann. Der Wür- fel, der in ſeinem Innern liegt, wird über den Wolken und im Schlunde der Erde geworfen.
§. 448.
Eigentlich wäre durch das reine Prinzip der neuen Religion die urſprüng- liche Stoffwelt für die Phantaſie gewonnen und die einfache Aufgabe der letz- teren dieß, die innere Bewegung des Menſchen zur Unendlichkeit und Freiheit des Geiſtes durch Negation ſeines bloßen Naturſeins und Eigenwillens in ent- ſprechender Erſcheinung darzuſtellen. So aber kann das abermals vorgeſtellte Jenſeits nur durch die Wunder der Sage in die Wirklichkeit einbrechen und dieſe eröffnet ſich im Zuſammenfluß mit alten, polytheiſtiſchen Mythen mit der Vorſtellung vom Leben und Opfertod eines Gottesſohns, deſſen zuſammengefaßte Wirkungen als dritte Perſon in die Gottheit, deſſen menſchliche Mutter als Göttinn neben dieſelbe geſetzt werden.
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überwindenden und zu ihrer Wahrheit befreienden Geiſtes aufgegangen
iſt, ſo hat es den Vortheil beider Religionsformen vereinigt und den
Mangel beider abgeworfen. Dieſer Eine Geiſt in Allem iſt abſolute
ethiſche Einheit, er ſitzt aber nicht in den Wolken als Vergelter deſſen,
was er doch ſelbſt bewirkt, ſondern iſt unverlierbar mit uns und in uns
und noch viel inniger gegenwärtig, als die griechiſchen Götter. Der wahre
geiſtige Kern des Judenthums iſt in dieſer reinen Anſchauung ergänzt
mit dem wahren geiſtigen Kern des Polytheiſmus: Heiligkeit des Einen
Gottes mit der freundlichen Nähe der vielen Götter. Dieſe Ergänzung miß-
glückt aber in der Religion des Mittelalters, weil ſie den mythiſchen Stoff
in die Vereinigung mit hinüberträgt. Sie beläßt den jüdiſchen Gott, den
ein vorgeſtellter Leib von der Welt trennt, und verbeſſert die falſche Grund-
lage nur dadurch, daß ſie ihm die Affection der Liebe gegen die Welt
beilegt, ihn zu einem gütigen und verzeihenden Vater macht. Ihm bleibt
aber der Hofſtaat der Seraphim, Cherubim und wie ſonſt dieſe verbleich-
ten, mediatiſirten Götter und Genien orientaliſcher Religionen noch heißen
mögen, und ebenſo dem himmliſchen Reich gegenüber Ahriman als Teu-
fel mit ſeinen böſen Geiſtern. Der Teufel iſt beſiegt und hat dennoch Macht,
der Dualiſmus eines guten und böſen Gottes überwunden und doch feſt-
gehalten. Daher iſt auch jene Liebe Gottes nicht ſtetig, nicht flüſſig, ſie
braucht beſonderer Acte, wechſelt mit Kampf und Zorn und dem Men-
ſchen iſt Grauen und Unheimlichkeit nicht von der Seele genommen, er
iſt, der Liebe Gottes gewiß, bei ſich und doch der böſen Macht Preis
gegeben, nicht bei ſich. Er trägt nun das Schickſal frei in ſich ſelbſt, die
Götter ſind eingeſtürzt in ſein Inneres, und doch ſchwebt über ihm
Schickſal und Götter-Rath und beſchließt über ihn, hat beſchloſſen, wird
beſchließen das, was ja nur er ſelbſt in ſich beſchließen kann. Der Wür-
fel, der in ſeinem Innern liegt, wird über den Wolken und im Schlunde
der Erde geworfen.
§. 448.
Eigentlich wäre durch das reine Prinzip der neuen Religion die urſprüng-
liche Stoffwelt für die Phantaſie gewonnen und die einfache Aufgabe der letz-
teren dieß, die innere Bewegung des Menſchen zur Unendlichkeit und Freiheit
des Geiſtes durch Negation ſeines bloßen Naturſeins und Eigenwillens in ent-
ſprechender Erſcheinung darzuſtellen. So aber kann das abermals vorgeſtellte
Jenſeits nur durch die Wunder der Sage in die Wirklichkeit einbrechen und
dieſe eröffnet ſich im Zuſammenfluß mit alten, polytheiſtiſchen Mythen mit der
Vorſtellung vom Leben und Opfertod eines Gottesſohns, deſſen zuſammengefaßte
Wirkungen als dritte Perſon in die Gottheit, deſſen menſchliche Mutter als
Göttinn neben dieſelbe geſetzt werden.
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 474. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/188>, abgerufen am 22.02.2025.
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