mit dem Auge gegriffen sein will. Durch diese Bestimmtheit der Phantasie,2 vereinigt mit der in §. 438 ausgesprochenen, erhält erst das Gesetz, daß in diesem Ideal die einzelne Gestalt schön sein soll (§. 437), seine völlige Be- gründung. Eine so freie Phantasie wird sich nun zwar auch in den andern3 in §. 404 aufgestellten Arten bewegen, doch so, daß jene Weise die bestim- mende bleibt, was man vorzugsweise objectiven, realistischen Charakter nennt.
1. In der Kunstlehre werden wir den einfachen rechten Namen für diese Auffassungsweise erhalten: sie ist plastisch. Allein es ist kein Spiel, daß wir ihn im vorliegenden Abschnitt an den Hauptpunkten noch vermeiden und den inneren Grund des vorzüglichen Berufs der Alten zur Plastik mit anderen Worten aussprechen. Das geistig Innere im griechi- schen Ideal geht ganz in die Gestalt heraus; es werden daher alle Theile derselben sprechen, nicht nur Angesicht, Auge, Hand, sondern ebenso Hals, Brust, Schulter u. s. w.; es dringt als Maaß in die organischen Formen, die zugleich das Maaß in freien Schwingungen des Runden mit der Un- meßbarkeit alles organischen Lebens umspielen. Wir haben hierin eine Harmonie dessen, was in der orientalischen Phantasie dualistisch kämpfte, des Gemessenen und Ungemessenen. Zu messen sind diese Verhältnisse nicht, außer wenn das Ideal durch Kunst in hartem Stoffe fertig dasteht, sie entstehen nicht durch Messung. Aber ebensowenig entzieht sich der Ausdruck des Innern dem Festen, um als flüchtiger Licht- und Farben- Schein eine hinter den klar begrenzten Formen verborgene Unendlichkeit ma- gisch zu beleuchten; also ist es auch das eigentliche Sehen nicht, worauf diese Phantasie gestellt sein kann. Es bleibt das tastende Sehen, das greifende Auge; denn das so verfahrende Organ faßt Festes, das doch keinem geo- metrischen Calcul unterliegt, Formen, Verhältnisse, rund, warm, fließend, von Muskeln, Hautleben umspielt, faßt die Regel im Spiel, das Spiel in der Regel.
2. Nun haben wir alle Bedingungen beisammen, welche die Noth- wendigkeit begründen, daß in diesem Ideal die einzelne Gestalt schön sei. Aus §. 438 geht hervor, daß hier kein Ueberschuß innerlichen Ausdrucks ist, der für mangelhafte Formen Ersatz böte, und aus dem gegenwärtigen §., daß die Art, zu sehen, worauf diese Phantasie ruht, sich auf die Momente der Erscheinung, worin dieser Ueberschuß sich kund gibt, auf die ahnungsvollen Wirkungen in Licht, Dunkel, Farbe nicht einläßt. Da- zu kommt noch ein weiterer Punkt, der sich ergibt, wenn wir diesen §. mit dem ersten, in §. 437 angegebenen Grunde zusammenfassen. Dort hieß es, der Gott stehe außer der Linie der einzelnen Individualitäten in ihrer Viel- heit; die bildende Phantasie nun, die auf dem tastenden Sehen ruht, ist eben auch diejenige, welche nicht eine Masse vieler Gestalten umspannen kann, wie es
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mit dem Auge gegriffen ſein will. Durch dieſe Beſtimmtheit der Phantaſie,2 vereinigt mit der in §. 438 ausgeſprochenen, erhält erſt das Geſetz, daß in dieſem Ideal die einzelne Geſtalt ſchön ſein ſoll (§. 437), ſeine völlige Be- gründung. Eine ſo freie Phantaſie wird ſich nun zwar auch in den andern3 in §. 404 aufgeſtellten Arten bewegen, doch ſo, daß jene Weiſe die beſtim- mende bleibt, was man vorzugsweiſe objectiven, realiſtiſchen Charakter nennt.
1. In der Kunſtlehre werden wir den einfachen rechten Namen für dieſe Auffaſſungsweiſe erhalten: ſie iſt plaſtiſch. Allein es iſt kein Spiel, daß wir ihn im vorliegenden Abſchnitt an den Hauptpunkten noch vermeiden und den inneren Grund des vorzüglichen Berufs der Alten zur Plaſtik mit anderen Worten ausſprechen. Das geiſtig Innere im griechi- ſchen Ideal geht ganz in die Geſtalt heraus; es werden daher alle Theile derſelben ſprechen, nicht nur Angeſicht, Auge, Hand, ſondern ebenſo Hals, Bruſt, Schulter u. ſ. w.; es dringt als Maaß in die organiſchen Formen, die zugleich das Maaß in freien Schwingungen des Runden mit der Un- meßbarkeit alles organiſchen Lebens umſpielen. Wir haben hierin eine Harmonie deſſen, was in der orientaliſchen Phantaſie dualiſtiſch kämpfte, des Gemeſſenen und Ungemeſſenen. Zu meſſen ſind dieſe Verhältniſſe nicht, außer wenn das Ideal durch Kunſt in hartem Stoffe fertig daſteht, ſie entſtehen nicht durch Meſſung. Aber ebenſowenig entzieht ſich der Ausdruck des Innern dem Feſten, um als flüchtiger Licht- und Farben- Schein eine hinter den klar begrenzten Formen verborgene Unendlichkeit ma- giſch zu beleuchten; alſo iſt es auch das eigentliche Sehen nicht, worauf dieſe Phantaſie geſtellt ſein kann. Es bleibt das taſtende Sehen, das greifende Auge; denn das ſo verfahrende Organ faßt Feſtes, das doch keinem geo- metriſchen Calcul unterliegt, Formen, Verhältniſſe, rund, warm, fließend, von Muſkeln, Hautleben umſpielt, faßt die Regel im Spiel, das Spiel in der Regel.
2. Nun haben wir alle Bedingungen beiſammen, welche die Noth- wendigkeit begründen, daß in dieſem Ideal die einzelne Geſtalt ſchön ſei. Aus §. 438 geht hervor, daß hier kein Ueberſchuß innerlichen Ausdrucks iſt, der für mangelhafte Formen Erſatz böte, und aus dem gegenwärtigen §., daß die Art, zu ſehen, worauf dieſe Phantaſie ruht, ſich auf die Momente der Erſcheinung, worin dieſer Ueberſchuß ſich kund gibt, auf die ahnungsvollen Wirkungen in Licht, Dunkel, Farbe nicht einläßt. Da- zu kommt noch ein weiterer Punkt, der ſich ergibt, wenn wir dieſen §. mit dem erſten, in §. 437 angegebenen Grunde zuſammenfaſſen. Dort hieß es, der Gott ſtehe außer der Linie der einzelnen Individualitäten in ihrer Viel- heit; die bildende Phantaſie nun, die auf dem taſtenden Sehen ruht, iſt eben auch diejenige, welche nicht eine Maſſe vieler Geſtalten umſpannen kann, wie es
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mit dem Auge gegriffen ſein will. Durch dieſe Beſtimmtheit der Phantaſie,
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dieſem Ideal die einzelne Geſtalt ſchön ſein ſoll (§. 437), ſeine völlige Be-
gründung. Eine ſo freie Phantaſie wird ſich nun zwar auch in den andern
in §. 404 aufgeſtellten Arten bewegen, doch ſo, daß jene Weiſe die beſtim-
mende bleibt, was man vorzugsweiſe objectiven, realiſtiſchen Charakter nennt.
1. In der Kunſtlehre werden wir den einfachen rechten Namen für
dieſe Auffaſſungsweiſe erhalten: ſie iſt plaſtiſch. Allein es iſt kein
Spiel, daß wir ihn im vorliegenden Abſchnitt an den Hauptpunkten noch
vermeiden und den inneren Grund des vorzüglichen Berufs der Alten zur
Plaſtik mit anderen Worten ausſprechen. Das geiſtig Innere im griechi-
ſchen Ideal geht ganz in die Geſtalt heraus; es werden daher alle Theile
derſelben ſprechen, nicht nur Angeſicht, Auge, Hand, ſondern ebenſo Hals,
Bruſt, Schulter u. ſ. w.; es dringt als Maaß in die organiſchen Formen,
die zugleich das Maaß in freien Schwingungen des Runden mit der Un-
meßbarkeit alles organiſchen Lebens umſpielen. Wir haben hierin eine
Harmonie deſſen, was in der orientaliſchen Phantaſie dualiſtiſch kämpfte,
des Gemeſſenen und Ungemeſſenen. Zu meſſen ſind dieſe Verhältniſſe
nicht, außer wenn das Ideal durch Kunſt in hartem Stoffe fertig daſteht,
ſie entſtehen nicht durch Meſſung. Aber ebenſowenig entzieht ſich der
Ausdruck des Innern dem Feſten, um als flüchtiger Licht- und Farben-
Schein eine hinter den klar begrenzten Formen verborgene Unendlichkeit ma-
giſch zu beleuchten; alſo iſt es auch das eigentliche Sehen nicht, worauf dieſe
Phantaſie geſtellt ſein kann. Es bleibt das taſtende Sehen, das greifende
Auge; denn das ſo verfahrende Organ faßt Feſtes, das doch keinem geo-
metriſchen Calcul unterliegt, Formen, Verhältniſſe, rund, warm, fließend,
von Muſkeln, Hautleben umſpielt, faßt die Regel im Spiel, das Spiel
in der Regel.
2. Nun haben wir alle Bedingungen beiſammen, welche die Noth-
wendigkeit begründen, daß in dieſem Ideal die einzelne Geſtalt ſchön ſei.
Aus §. 438 geht hervor, daß hier kein Ueberſchuß innerlichen Ausdrucks
iſt, der für mangelhafte Formen Erſatz böte, und aus dem gegenwärtigen
§., daß die Art, zu ſehen, worauf dieſe Phantaſie ruht, ſich auf die
Momente der Erſcheinung, worin dieſer Ueberſchuß ſich kund gibt, auf
die ahnungsvollen Wirkungen in Licht, Dunkel, Farbe nicht einläßt. Da-
zu kommt noch ein weiterer Punkt, der ſich ergibt, wenn wir dieſen §.
mit dem erſten, in §. 437 angegebenen Grunde zuſammenfaſſen. Dort hieß
es, der Gott ſtehe außer der Linie der einzelnen Individualitäten in ihrer Viel-
heit; die bildende Phantaſie nun, die auf dem taſtenden Sehen ruht, iſt eben
auch diejenige, welche nicht eine Maſſe vieler Geſtalten umſpannen kann, wie es
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 461. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/175>, abgerufen am 16.02.2025.
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