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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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murmel der Quellen wird in den Musen mit der Macht des Gesangs zu-
sammengeschaut; halb Menschen- halb Thier-Leib schwimmen die verlocken-
den Sirenen im Meere. Düster thronen Hades und Persephone in der
Unterwelt mit den Todtenrichtern, dem Fährmann, den bestraften Titanen,
den Genien des Schlafes und Todes. Zu diesem dunkeln Reiche der Phan-
tasie gehören die Zauberwesen, Hekate, die versteinernde Gorgo. Aus
der zurückgestellten Finsterniß der Urwelt ragen die Schicksalsgötter, ins-
besondere die furchtbaren Erinnyen in die Gegenwart herein. Die Be-
wegung der Zeit erscheint in den Horen. Die Elemente, obwohl sie in
Hauptgöttern ihre Herren haben, isoliren sich wieder zu einzelnen Genien;
die Sonne hat ihren Geist, Phöbos (denn Apollon ist mehr das Mani-
festiren des Lichts überhaupt), Selene liebt Endymion, Eos, Iris durch-
ziehen den Himmel. Die Winde sausen als bewegte Gestalten, die un-
gesunden als scheußliche Harpyien. Im Wasser sammelt Poseidon die
Amphitrite, die Thetis, die phantastischen Gestalten der Tritonen und
Nereiden um sich; Flüsse und Quellen haben ihre Götter und Na-
jaden. Das Land wird von Genien der Berge, der Gärten, der Blüthe,
der Früchte, der Bäume (Dryaden) gesegnet und die heilenden Kräfte
haben ihre Geister in Asklepios, Hygieia, Telesphoros. Endlich haben
auch die besondern menschlichen Zustände, Lebensalter, Thätigkeiten, außer
ihren Beschützern in den Hauptgottheiten, ihre Vorsteher: Haus und Heerd,
Stadt und ihre Plätze, ihre Aemter, Krieg und Frieden, Sieg, Eintracht,
Freiheit, Schifffahrt, Leibesübung u. s. w., erfreuen sich ihrer Genien.

An den heitern Pleonasmus der Götterwelt schließt sich ebenso reich
die Sage an. Der Mythus von Herkules, ursprünglich ein Bild der
Schicksale der Erde in ihrem Verhältniß zur Sonne, dann des Kampfes
der menschlichen Freiheit mit der Naturnothwendigkeit, des Ringens, das
sich den Himmel, die Götterwürde erstreitet, bildet das Band zwischen
jener göttlichen und dieser menschlichen Welt. Sowohl diese Sage, als
die folgenden, schließen jede wieder für sich eine reiche Reihe von Perso-
nen, Abenteuern, Schicksalen ein und runden sich zu einem Ganzen ab.
Es treten die einzelnen Kreise der Heldensage hervor, von Theseus, dem
uralten attischen Heros der ersten Civilisation angeführt, während Kreta
die Künstlersage von Dädalus und Ikarus liefert. Schon im attischen
Sagenkreise beginnen die blutigen Familiengreuel, wodurch die Sage die
ungebrochene Naturgewalt des Willens in heroischer Vorzeit zu äußerst
fruchtbaren Motiven für die freiere Phantasie erhebt, mit der Erzählung
von Tereus und Prokne. Die thebanische Sage liefert den ungeheuern
Stoff der Geschichte des Hauses der Labdakiden und des tragisch schönen
Untergangs der Niobiden, die orchomenische und jolkische die an Gestal-
ten und Begebenheiten fruchtbare Mähre der ersten kühnen Seefahrt, des

murmel der Quellen wird in den Muſen mit der Macht des Geſangs zu-
ſammengeſchaut; halb Menſchen- halb Thier-Leib ſchwimmen die verlocken-
den Sirenen im Meere. Düſter thronen Hades und Perſephone in der
Unterwelt mit den Todtenrichtern, dem Fährmann, den beſtraften Titanen,
den Genien des Schlafes und Todes. Zu dieſem dunkeln Reiche der Phan-
taſie gehören die Zauberweſen, Hekate, die verſteinernde Gorgo. Aus
der zurückgeſtellten Finſterniß der Urwelt ragen die Schickſalsgötter, ins-
beſondere die furchtbaren Erinnyen in die Gegenwart herein. Die Be-
wegung der Zeit erſcheint in den Horen. Die Elemente, obwohl ſie in
Hauptgöttern ihre Herren haben, iſoliren ſich wieder zu einzelnen Genien;
die Sonne hat ihren Geiſt, Phöbos (denn Apollon iſt mehr das Mani-
feſtiren des Lichts überhaupt), Selene liebt Endymion, Eos, Iris durch-
ziehen den Himmel. Die Winde ſauſen als bewegte Geſtalten, die un-
geſunden als ſcheußliche Harpyien. Im Waſſer ſammelt Poſeidon die
Amphitrite, die Thetis, die phantaſtiſchen Geſtalten der Tritonen und
Nereiden um ſich; Flüſſe und Quellen haben ihre Götter und Na-
jaden. Das Land wird von Genien der Berge, der Gärten, der Blüthe,
der Früchte, der Bäume (Dryaden) geſegnet und die heilenden Kräfte
haben ihre Geiſter in Aſklepios, Hygieia, Telesphoros. Endlich haben
auch die beſondern menſchlichen Zuſtände, Lebensalter, Thätigkeiten, außer
ihren Beſchützern in den Hauptgottheiten, ihre Vorſteher: Haus und Heerd,
Stadt und ihre Plätze, ihre Aemter, Krieg und Frieden, Sieg, Eintracht,
Freiheit, Schifffahrt, Leibesübung u. ſ. w., erfreuen ſich ihrer Genien.

An den heitern Pleonaſmus der Götterwelt ſchließt ſich ebenſo reich
die Sage an. Der Mythus von Herkules, urſprünglich ein Bild der
Schickſale der Erde in ihrem Verhältniß zur Sonne, dann des Kampfes
der menſchlichen Freiheit mit der Naturnothwendigkeit, des Ringens, das
ſich den Himmel, die Götterwürde erſtreitet, bildet das Band zwiſchen
jener göttlichen und dieſer menſchlichen Welt. Sowohl dieſe Sage, als
die folgenden, ſchließen jede wieder für ſich eine reiche Reihe von Perſo-
nen, Abenteuern, Schickſalen ein und runden ſich zu einem Ganzen ab.
Es treten die einzelnen Kreiſe der Heldenſage hervor, von Theſeus, dem
uralten attiſchen Heros der erſten Civiliſation angeführt, während Kreta
die Künſtlerſage von Dädalus und Ikarus liefert. Schon im attiſchen
Sagenkreiſe beginnen die blutigen Familiengreuel, wodurch die Sage die
ungebrochene Naturgewalt des Willens in heroiſcher Vorzeit zu äußerſt
fruchtbaren Motiven für die freiere Phantaſie erhebt, mit der Erzählung
von Tereus und Prokne. Die thebaniſche Sage liefert den ungeheuern
Stoff der Geſchichte des Hauſes der Labdakiden und des tragiſch ſchönen
Untergangs der Niobiden, die orchomeniſche und jolkiſche die an Geſtal-
ten und Begebenheiten fruchtbare Mähre der erſten kühnen Seefahrt, des

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[453/0167] murmel der Quellen wird in den Muſen mit der Macht des Geſangs zu- ſammengeſchaut; halb Menſchen- halb Thier-Leib ſchwimmen die verlocken- den Sirenen im Meere. Düſter thronen Hades und Perſephone in der Unterwelt mit den Todtenrichtern, dem Fährmann, den beſtraften Titanen, den Genien des Schlafes und Todes. Zu dieſem dunkeln Reiche der Phan- taſie gehören die Zauberweſen, Hekate, die verſteinernde Gorgo. Aus der zurückgeſtellten Finſterniß der Urwelt ragen die Schickſalsgötter, ins- beſondere die furchtbaren Erinnyen in die Gegenwart herein. Die Be- wegung der Zeit erſcheint in den Horen. Die Elemente, obwohl ſie in Hauptgöttern ihre Herren haben, iſoliren ſich wieder zu einzelnen Genien; die Sonne hat ihren Geiſt, Phöbos (denn Apollon iſt mehr das Mani- feſtiren des Lichts überhaupt), Selene liebt Endymion, Eos, Iris durch- ziehen den Himmel. Die Winde ſauſen als bewegte Geſtalten, die un- geſunden als ſcheußliche Harpyien. Im Waſſer ſammelt Poſeidon die Amphitrite, die Thetis, die phantaſtiſchen Geſtalten der Tritonen und Nereiden um ſich; Flüſſe und Quellen haben ihre Götter und Na- jaden. Das Land wird von Genien der Berge, der Gärten, der Blüthe, der Früchte, der Bäume (Dryaden) geſegnet und die heilenden Kräfte haben ihre Geiſter in Aſklepios, Hygieia, Telesphoros. Endlich haben auch die beſondern menſchlichen Zuſtände, Lebensalter, Thätigkeiten, außer ihren Beſchützern in den Hauptgottheiten, ihre Vorſteher: Haus und Heerd, Stadt und ihre Plätze, ihre Aemter, Krieg und Frieden, Sieg, Eintracht, Freiheit, Schifffahrt, Leibesübung u. ſ. w., erfreuen ſich ihrer Genien. An den heitern Pleonaſmus der Götterwelt ſchließt ſich ebenſo reich die Sage an. Der Mythus von Herkules, urſprünglich ein Bild der Schickſale der Erde in ihrem Verhältniß zur Sonne, dann des Kampfes der menſchlichen Freiheit mit der Naturnothwendigkeit, des Ringens, das ſich den Himmel, die Götterwürde erſtreitet, bildet das Band zwiſchen jener göttlichen und dieſer menſchlichen Welt. Sowohl dieſe Sage, als die folgenden, ſchließen jede wieder für ſich eine reiche Reihe von Perſo- nen, Abenteuern, Schickſalen ein und runden ſich zu einem Ganzen ab. Es treten die einzelnen Kreiſe der Heldenſage hervor, von Theſeus, dem uralten attiſchen Heros der erſten Civiliſation angeführt, während Kreta die Künſtlerſage von Dädalus und Ikarus liefert. Schon im attiſchen Sagenkreiſe beginnen die blutigen Familiengreuel, wodurch die Sage die ungebrochene Naturgewalt des Willens in heroiſcher Vorzeit zu äußerſt fruchtbaren Motiven für die freiere Phantaſie erhebt, mit der Erzählung von Tereus und Prokne. Die thebaniſche Sage liefert den ungeheuern Stoff der Geſchichte des Hauſes der Labdakiden und des tragiſch ſchönen Untergangs der Niobiden, die orchomeniſche und jolkiſche die an Geſtal- ten und Begebenheiten fruchtbare Mähre der erſten kühnen Seefahrt, des

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 453. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/167>, abgerufen am 22.11.2024.