geworden, die Antwort, welche die Kosmogonie darauf gibt, genügt, ohne daß man ihr weitere Aufmerksamkeit schenkt. Ist aber der sittliche Lebens- gehalt an die Götter vertheilt, so muß der Urgrund alles Lebens auch Grund des Sittlichen sein, und dieß ist es, was daran nun wesentlich interessirt. Die absolute Einheit kann auch dem Polytheismus nie ganz verloren gehen, sie schwebt hinter oder über den Göttern, nun aber ist sie sittliche Bestimmung des Lebens. Allein diese Bestimmung ist schlecht- weg, dunkel, eben weil, was im Reiche des Bewußtseins liegt, an die Vielen schon vertheilt ist, und solches Dunkel ist freilich wieder Rest von Naturreligion, denn wohl waltet in der Welt der Zufall und schließt Vorherwissen des Schicksals aus, aber der denkende Wille hebt verarbei- tend den Zufall auf: dieß ist noch nicht im Bewußtsein der Griechen, daher ist ihr Schicksal jener dunkle, aus Zufall und Wollen geflochtene Knoten, finster wie eine blinde Naturkraft und doch gerecht, sittlich.
2. Männliche und weibliche Gottheiten werden Liebende und Ge- liebte, Mann und Frau, Bruder und Schwester. Dieß waren sie zwar auch in den orientalischen Religionen, aber es war nicht Ernst damit; jetzt, bei den Griechen, sind es die Liebschaften, die Ehe-Scenen, das Zusammenwirken, womit sich ein rein menschliches Interesse beschäftigt; zudem gibt es, durch den Zusammenfluß der örtlichen Culte, viele sol- cher Paare. Das abstracte Grundgesetz eines Dualismus männlicher und weiblicher Götterkraft ist daher flüssig geworden, aufgehoben. So war Here ursprünglich symbolische Personification dessen, was im Naturleben überhaupt als empfangende Seite erschien, insbesondere eine Mond- und Erd-Gottheit; Zeus verführt sie als Kukuk unter stürmischem Frühlings- regen: man erkennt das Verhältniß von Himmel und Erde, aber als seine Gemahlin wird sie die Gottheit der Ehe und in ihrem launischen Wesen liegt nur noch eine Spur der Local-Gottheit, deren Dienst sich widerstrebend mit dem des Zeus vereinigte.
3. In einem Volke, worin das Gute in der Form des Maaßes liberale Wirklichkeit hat (vergl. §. 349), kann das Böse ebensowenig zum hartnäckig reflectirten Eigensinn der subjectiven Empörung sich zusammen- fassen, als jenes auf einem tieferen Bruche des reinen Willens mit dem sinnlichen ruht. Zeigt also das Leben der Griechen die eigentliche Ge- stalt des Bösen nicht, so können sie auch keinen bösen Gott dichten. Zwar sagten wir von dem Gegensatze guter und böser Götter in der orienta- lischen Religion, daß es nicht eigentlich ein sittlicher, sondern ein Kampf des Heilsamen und Schädlichen sei; allein der schädliche Gott wird doch dargestellt als ein solcher, der das Schädliche will, und zwar mit sol- chem Grimme, daß man sogleich das größere Talent zum eigentlich Bö- sen erkennt, das im Charakter dieser Nationen, besonders der Semiten,
geworden, die Antwort, welche die Koſmogonie darauf gibt, genügt, ohne daß man ihr weitere Aufmerkſamkeit ſchenkt. Iſt aber der ſittliche Lebens- gehalt an die Götter vertheilt, ſo muß der Urgrund alles Lebens auch Grund des Sittlichen ſein, und dieß iſt es, was daran nun weſentlich intereſſirt. Die abſolute Einheit kann auch dem Polytheiſmus nie ganz verloren gehen, ſie ſchwebt hinter oder über den Göttern, nun aber iſt ſie ſittliche Beſtimmung des Lebens. Allein dieſe Beſtimmung iſt ſchlecht- weg, dunkel, eben weil, was im Reiche des Bewußtſeins liegt, an die Vielen ſchon vertheilt iſt, und ſolches Dunkel iſt freilich wieder Reſt von Naturreligion, denn wohl waltet in der Welt der Zufall und ſchließt Vorherwiſſen des Schickſals aus, aber der denkende Wille hebt verarbei- tend den Zufall auf: dieß iſt noch nicht im Bewußtſein der Griechen, daher iſt ihr Schickſal jener dunkle, aus Zufall und Wollen geflochtene Knoten, finſter wie eine blinde Naturkraft und doch gerecht, ſittlich.
2. Männliche und weibliche Gottheiten werden Liebende und Ge- liebte, Mann und Frau, Bruder und Schweſter. Dieß waren ſie zwar auch in den orientaliſchen Religionen, aber es war nicht Ernſt damit; jetzt, bei den Griechen, ſind es die Liebſchaften, die Ehe-Scenen, das Zuſammenwirken, womit ſich ein rein menſchliches Intereſſe beſchäftigt; zudem gibt es, durch den Zuſammenfluß der örtlichen Culte, viele ſol- cher Paare. Das abſtracte Grundgeſetz eines Dualiſmus männlicher und weiblicher Götterkraft iſt daher flüſſig geworden, aufgehoben. So war Here urſprünglich ſymboliſche Perſonification deſſen, was im Naturleben überhaupt als empfangende Seite erſchien, insbeſondere eine Mond- und Erd-Gottheit; Zeus verführt ſie als Kukuk unter ſtürmiſchem Frühlings- regen: man erkennt das Verhältniß von Himmel und Erde, aber als ſeine Gemahlin wird ſie die Gottheit der Ehe und in ihrem launiſchen Weſen liegt nur noch eine Spur der Local-Gottheit, deren Dienſt ſich widerſtrebend mit dem des Zeus vereinigte.
3. In einem Volke, worin das Gute in der Form des Maaßes liberale Wirklichkeit hat (vergl. §. 349), kann das Böſe ebenſowenig zum hartnäckig reflectirten Eigenſinn der ſubjectiven Empörung ſich zuſammen- faſſen, als jenes auf einem tieferen Bruche des reinen Willens mit dem ſinnlichen ruht. Zeigt alſo das Leben der Griechen die eigentliche Ge- ſtalt des Böſen nicht, ſo können ſie auch keinen böſen Gott dichten. Zwar ſagten wir von dem Gegenſatze guter und böſer Götter in der orienta- liſchen Religion, daß es nicht eigentlich ein ſittlicher, ſondern ein Kampf des Heilſamen und Schädlichen ſei; allein der ſchädliche Gott wird doch dargeſtellt als ein ſolcher, der das Schädliche will, und zwar mit ſol- chem Grimme, daß man ſogleich das größere Talent zum eigentlich Bö- ſen erkennt, das im Charakter dieſer Nationen, beſonders der Semiten,
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gehalt an die Götter vertheilt, ſo muß der Urgrund alles Lebens auch
Grund des Sittlichen ſein, und dieß iſt es, was daran nun weſentlich
intereſſirt. Die abſolute Einheit kann auch dem Polytheiſmus nie ganz
verloren gehen, ſie ſchwebt hinter oder über den Göttern, nun aber iſt
ſie ſittliche Beſtimmung des Lebens. Allein dieſe Beſtimmung iſt ſchlecht-
weg, dunkel, eben weil, was im Reiche des Bewußtſeins liegt, an die
Vielen ſchon vertheilt iſt, und ſolches Dunkel iſt freilich wieder Reſt von
Naturreligion, denn wohl waltet in der Welt der Zufall und ſchließt
Vorherwiſſen des Schickſals aus, aber der denkende Wille hebt verarbei-
tend den Zufall auf: dieß iſt noch nicht im Bewußtſein der Griechen,
daher iſt ihr Schickſal jener dunkle, aus Zufall und Wollen geflochtene
Knoten, finſter wie eine blinde Naturkraft und doch gerecht, ſittlich.
2. Männliche und weibliche Gottheiten werden Liebende und Ge-
liebte, Mann und Frau, Bruder und Schweſter. Dieß waren ſie zwar
auch in den orientaliſchen Religionen, aber es war nicht Ernſt damit;
jetzt, bei den Griechen, ſind es die Liebſchaften, die Ehe-Scenen, das
Zuſammenwirken, womit ſich ein rein menſchliches Intereſſe beſchäftigt;
zudem gibt es, durch den Zuſammenfluß der örtlichen Culte, viele ſol-
cher Paare. Das abſtracte Grundgeſetz eines Dualiſmus männlicher und
weiblicher Götterkraft iſt daher flüſſig geworden, aufgehoben. So war
Here urſprünglich ſymboliſche Perſonification deſſen, was im Naturleben
überhaupt als empfangende Seite erſchien, insbeſondere eine Mond- und
Erd-Gottheit; Zeus verführt ſie als Kukuk unter ſtürmiſchem Frühlings-
regen: man erkennt das Verhältniß von Himmel und Erde, aber als
ſeine Gemahlin wird ſie die Gottheit der Ehe und in ihrem launiſchen
Weſen liegt nur noch eine Spur der Local-Gottheit, deren Dienſt ſich
widerſtrebend mit dem des Zeus vereinigte.
3. In einem Volke, worin das Gute in der Form des Maaßes
liberale Wirklichkeit hat (vergl. §. 349), kann das Böſe ebenſowenig zum
hartnäckig reflectirten Eigenſinn der ſubjectiven Empörung ſich zuſammen-
faſſen, als jenes auf einem tieferen Bruche des reinen Willens mit dem
ſinnlichen ruht. Zeigt alſo das Leben der Griechen die eigentliche Ge-
ſtalt des Böſen nicht, ſo können ſie auch keinen böſen Gott dichten. Zwar
ſagten wir von dem Gegenſatze guter und böſer Götter in der orienta-
liſchen Religion, daß es nicht eigentlich ein ſittlicher, ſondern ein Kampf
des Heilſamen und Schädlichen ſei; allein der ſchädliche Gott wird doch
dargeſtellt als ein ſolcher, der das Schädliche will, und zwar mit ſol-
chem Grimme, daß man ſogleich das größere Talent zum eigentlich Bö-
ſen erkennt, das im Charakter dieſer Nationen, beſonders der Semiten,
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 450. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/164>, abgerufen am 16.02.2025.
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