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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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mit der Tiefe an, so dürfen wir die Bedeutung des Mythus von Osiris,
Typhon und Isis, wie sie Hegel als Mittelpunkt dieser Religion aufge-
faßt, als anerkannt voraussetzen. Der sterbende Gott ist nun freilich der
sinkende Nil, die fliehende Sonne, aber Osiris ist auch der Gründer der
Gesittung, des Ackerbaus, des Staats, jedes Guten, jeder Ordnung; da
er also sittliche Bedeutung hat, wie sein Feind Typhon nicht nur der
verzehrende Gluthwind und alles Schädliche, sondern auch das ethisch
Böse ist, so muß das Sterben, die Negation des Sinnlichen, mehr als
blos Naturbedeutung haben, es muß der sittliche Gehalt des Gottes eine
Frucht davon tragen, und so steht Osiris im Reiche der Geister, einer
Welt des vorgestellten Jenseits, deren Sinn aber einfach die Zurücknahme
aus dem Unmittelbaren in das Innere ist, als Todtenrichter wieder auf
und richtet hier die ebenfalls den sinnlichen Tod geistig überlebenden Men-
schen. Auch die persische Religion kennt ein Todtengericht und Geister,
die ihm obwalten, aber sie kennt nicht den Uebergang eines Hauptgottes
aus sinnlichem Tode in dieses geistige Amt. Hätte nun die ägyptische
Weltanschauung diese Bewegung aus dem sinnlichen Sein durch seine
Negation in die sittliche Innerlichkeit in Einen Begriff zusammengefaßt,
so wäre sie keine Naturreligion mehr, die Persönlichkeit wäre aufgegangen;
allein der sinnliche Tod ist ein Geschehen von außen (die Zerstücklung
durch Typhon) kommt von außen an das Subject, ist nicht Ueberwindung
des Endlichen durch Freiheit, und nur successiv, in einem Nachher, in einem
vorgestellten andern Ort, trägt er seine Frucht, den Aufgang der sittlichen
Bedeutung. Die Naturgrundlage bleibt, Osiris ist der Nil, die Sonne,
das Jahr. Es fehlt die Sammlung des im Fortgang Gewonnenen in
Eins und so bekommt der Tod als nackte Thatsache einen Werth, das
Todtsein wird zum Höchsten, der Leichnam, nicht der Geist, der nach der
Vorstellung ihn überlebt, recht verstanden aber von Anfang an seine
Wahrheit war, ist heilig. Es ist eine große Wahrheit, daß man bildlich
gestorben sein muß, um etwas, um ewig zu sein, aber eine traurige
Verkehrung derselben, daß das todte Residuum des buchstäblichen, unbild-
lichen Gestorbenseins das werthvolle Bleibende sei. So legt sich Leichen-
geruch, todtenhafter Charakter über die ganze Welt dieser Phantasie, nicht
nur über jene Todtenstädte und Mumien, sondern über Alles, was die
Phantasie bildet: Gestalten, die eben, da sie den Schritt zur Freiheit thun
wollen, verzaubert, in Todesschlaf gebannt wurden.

So nah an der Lösung des Räthsels, daß die absolute Idee die
Persönlichkeit als Menschheit und ihre Erscheinung die Schönheit sei, ar-
beitet sich die Phantasie in brütendem, saurem, vergeblichem Drange ab,
durch Häufung und Ineinanderfügung von bildlichen Darstellungen das
Wort des Räthsels zu finden. Das Symbol tritt hier in seine ganze

mit der Tiefe an, ſo dürfen wir die Bedeutung des Mythus von Oſiris,
Typhon und Iſis, wie ſie Hegel als Mittelpunkt dieſer Religion aufge-
faßt, als anerkannt vorausſetzen. Der ſterbende Gott iſt nun freilich der
ſinkende Nil, die fliehende Sonne, aber Oſiris iſt auch der Gründer der
Geſittung, des Ackerbaus, des Staats, jedes Guten, jeder Ordnung; da
er alſo ſittliche Bedeutung hat, wie ſein Feind Typhon nicht nur der
verzehrende Gluthwind und alles Schädliche, ſondern auch das ethiſch
Böſe iſt, ſo muß das Sterben, die Negation des Sinnlichen, mehr als
blos Naturbedeutung haben, es muß der ſittliche Gehalt des Gottes eine
Frucht davon tragen, und ſo ſteht Oſiris im Reiche der Geiſter, einer
Welt des vorgeſtellten Jenſeits, deren Sinn aber einfach die Zurücknahme
aus dem Unmittelbaren in das Innere iſt, als Todtenrichter wieder auf
und richtet hier die ebenfalls den ſinnlichen Tod geiſtig überlebenden Men-
ſchen. Auch die perſiſche Religion kennt ein Todtengericht und Geiſter,
die ihm obwalten, aber ſie kennt nicht den Uebergang eines Hauptgottes
aus ſinnlichem Tode in dieſes geiſtige Amt. Hätte nun die ägyptiſche
Weltanſchauung dieſe Bewegung aus dem ſinnlichen Sein durch ſeine
Negation in die ſittliche Innerlichkeit in Einen Begriff zuſammengefaßt,
ſo wäre ſie keine Naturreligion mehr, die Perſönlichkeit wäre aufgegangen;
allein der ſinnliche Tod iſt ein Geſchehen von außen (die Zerſtücklung
durch Typhon) kommt von außen an das Subject, iſt nicht Ueberwindung
des Endlichen durch Freiheit, und nur ſucceſſiv, in einem Nachher, in einem
vorgeſtellten andern Ort, trägt er ſeine Frucht, den Aufgang der ſittlichen
Bedeutung. Die Naturgrundlage bleibt, Oſiris iſt der Nil, die Sonne,
das Jahr. Es fehlt die Sammlung des im Fortgang Gewonnenen in
Eins und ſo bekommt der Tod als nackte Thatſache einen Werth, das
Todtſein wird zum Höchſten, der Leichnam, nicht der Geiſt, der nach der
Vorſtellung ihn überlebt, recht verſtanden aber von Anfang an ſeine
Wahrheit war, iſt heilig. Es iſt eine große Wahrheit, daß man bildlich
geſtorben ſein muß, um etwas, um ewig zu ſein, aber eine traurige
Verkehrung derſelben, daß das todte Reſiduum des buchſtäblichen, unbild-
lichen Geſtorbenſeins das werthvolle Bleibende ſei. So legt ſich Leichen-
geruch, todtenhafter Charakter über die ganze Welt dieſer Phantaſie, nicht
nur über jene Todtenſtädte und Mumien, ſondern über Alles, was die
Phantaſie bildet: Geſtalten, die eben, da ſie den Schritt zur Freiheit thun
wollen, verzaubert, in Todesſchlaf gebannt wurden.

So nah an der Löſung des Räthſels, daß die abſolute Idee die
Perſönlichkeit als Menſchheit und ihre Erſcheinung die Schönheit ſei, ar-
beitet ſich die Phantaſie in brütendem, ſaurem, vergeblichem Drange ab,
durch Häufung und Ineinanderfügung von bildlichen Darſtellungen das
Wort des Räthſels zu finden. Das Symbol tritt hier in ſeine ganze

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[438/0152] mit der Tiefe an, ſo dürfen wir die Bedeutung des Mythus von Oſiris, Typhon und Iſis, wie ſie Hegel als Mittelpunkt dieſer Religion aufge- faßt, als anerkannt vorausſetzen. Der ſterbende Gott iſt nun freilich der ſinkende Nil, die fliehende Sonne, aber Oſiris iſt auch der Gründer der Geſittung, des Ackerbaus, des Staats, jedes Guten, jeder Ordnung; da er alſo ſittliche Bedeutung hat, wie ſein Feind Typhon nicht nur der verzehrende Gluthwind und alles Schädliche, ſondern auch das ethiſch Böſe iſt, ſo muß das Sterben, die Negation des Sinnlichen, mehr als blos Naturbedeutung haben, es muß der ſittliche Gehalt des Gottes eine Frucht davon tragen, und ſo ſteht Oſiris im Reiche der Geiſter, einer Welt des vorgeſtellten Jenſeits, deren Sinn aber einfach die Zurücknahme aus dem Unmittelbaren in das Innere iſt, als Todtenrichter wieder auf und richtet hier die ebenfalls den ſinnlichen Tod geiſtig überlebenden Men- ſchen. Auch die perſiſche Religion kennt ein Todtengericht und Geiſter, die ihm obwalten, aber ſie kennt nicht den Uebergang eines Hauptgottes aus ſinnlichem Tode in dieſes geiſtige Amt. Hätte nun die ägyptiſche Weltanſchauung dieſe Bewegung aus dem ſinnlichen Sein durch ſeine Negation in die ſittliche Innerlichkeit in Einen Begriff zuſammengefaßt, ſo wäre ſie keine Naturreligion mehr, die Perſönlichkeit wäre aufgegangen; allein der ſinnliche Tod iſt ein Geſchehen von außen (die Zerſtücklung durch Typhon) kommt von außen an das Subject, iſt nicht Ueberwindung des Endlichen durch Freiheit, und nur ſucceſſiv, in einem Nachher, in einem vorgeſtellten andern Ort, trägt er ſeine Frucht, den Aufgang der ſittlichen Bedeutung. Die Naturgrundlage bleibt, Oſiris iſt der Nil, die Sonne, das Jahr. Es fehlt die Sammlung des im Fortgang Gewonnenen in Eins und ſo bekommt der Tod als nackte Thatſache einen Werth, das Todtſein wird zum Höchſten, der Leichnam, nicht der Geiſt, der nach der Vorſtellung ihn überlebt, recht verſtanden aber von Anfang an ſeine Wahrheit war, iſt heilig. Es iſt eine große Wahrheit, daß man bildlich geſtorben ſein muß, um etwas, um ewig zu ſein, aber eine traurige Verkehrung derſelben, daß das todte Reſiduum des buchſtäblichen, unbild- lichen Geſtorbenſeins das werthvolle Bleibende ſei. So legt ſich Leichen- geruch, todtenhafter Charakter über die ganze Welt dieſer Phantaſie, nicht nur über jene Todtenſtädte und Mumien, ſondern über Alles, was die Phantaſie bildet: Geſtalten, die eben, da ſie den Schritt zur Freiheit thun wollen, verzaubert, in Todesſchlaf gebannt wurden. So nah an der Löſung des Räthſels, daß die abſolute Idee die Perſönlichkeit als Menſchheit und ihre Erſcheinung die Schönheit ſei, ar- beitet ſich die Phantaſie in brütendem, ſaurem, vergeblichem Drange ab, durch Häufung und Ineinanderfügung von bildlichen Darſtellungen das Wort des Räthſels zu finden. Das Symbol tritt hier in ſeine ganze

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 438. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/152>, abgerufen am 24.11.2024.