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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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ob das Gebiet dem der Kunst näher oder ferner liege; Leonardo war
sehr bedeutend in der Wasser- und Festungs-Baukunst, in der Mechanik,
da ist Alles noch greiflich, und doch war er auch hierin nicht Genie, wie
in der Malerei, sondern ebenfalls nur Talent. Göthe verlor viel Zeit
mit Staatsgeschäften, die ein Anderer ohne sein Genie mindestens ebenso-
gut verwaltet hätte. Wie das praktische Leben hat auch die Wissenschaft
ihre Sphären, die der Kunst nahe liegen; Göthe war in der Naturwis-
senschaft Talent, etwa fragmentarisches Genie, sofern er einzelne Epochen-
machende Blicke that. Noch näher liegt natürlich die Theorie der künst-
lerischen Technik, und da sind anatomische Studien, Forschungen über Pro-
spective, Proportionen u. s. w. wohl ein Feld für den Phantasiebegabten,
doch hat auch dieß seine Grenze und die Ausdehnung dieser Studien hat
gewiß einen Leonardo und M. Angelo in der Fruchtbarkeit und Raschheit der
Production gestört. Ganz seitab liegt, wie wir schon sahen, Philosophie,
Göthe war wie der Fisch am Land, wenn er speculiren sollte. Diese
Beispiele brauchen keine Erläuterung und Begründung.

3. Was nun umgekehrt das Verhältniß des praktischen und wissen-
schaftlichen Genies zum ästhetischen betrifft, so hat die Unruhe des
Sollens und der scheinlosen Thätigkeit, die streng zerlegende Wissen-
schaft sicherlich keinen Beruf zur Erzeugung des Schönen; sie steht zu ihm
im Verhältniß der allgemeinen, blos aufnehmenden Phantasie. Doch wird
das praktische Genie und in der Wissenschaft das empirische, historische
immer noch eher eine ästhetisch productive Stunde haben, als das philo-
sophische. Antonio freilich macht ebenso geringe Verse, als Tasso schlechter
Oekonom, Diätetiker, Hofmann, Diplomat ist; Napoleon that gute Blicke
in die Poesie und Göthe rühmt von ihm einen genialen Fund eines Plan-
fehlers in Werthers Leiden: da zeigt sich der Taktiker; die Hohenstaufen
waren zum Theil glücklich im Minnelied. Plato, Schelling waren in dem
Grad nicht spezifisch vollendete Philosophen, als sie einige glückliche Ge-
dichte produzirten. Von Schillers Kampfe sprachen wir oben. Hegel und
Jedem, der in strenge Philosophie übergeht, versiegt die mäßige poetische
Ader, die etwa in der Jugend geflossen.



ob das Gebiet dem der Kunſt näher oder ferner liege; Leonardo war
ſehr bedeutend in der Waſſer- und Feſtungs-Baukunſt, in der Mechanik,
da iſt Alles noch greiflich, und doch war er auch hierin nicht Genie, wie
in der Malerei, ſondern ebenfalls nur Talent. Göthe verlor viel Zeit
mit Staatsgeſchäften, die ein Anderer ohne ſein Genie mindeſtens ebenſo-
gut verwaltet hätte. Wie das praktiſche Leben hat auch die Wiſſenſchaft
ihre Sphären, die der Kunſt nahe liegen; Göthe war in der Naturwiſ-
ſenſchaft Talent, etwa fragmentariſches Genie, ſofern er einzelne Epochen-
machende Blicke that. Noch näher liegt natürlich die Theorie der künſt-
leriſchen Technik, und da ſind anatomiſche Studien, Forſchungen über Pro-
ſpective, Proportionen u. ſ. w. wohl ein Feld für den Phantaſiebegabten,
doch hat auch dieß ſeine Grenze und die Ausdehnung dieſer Studien hat
gewiß einen Leonardo und M. Angelo in der Fruchtbarkeit und Raſchheit der
Production geſtört. Ganz ſeitab liegt, wie wir ſchon ſahen, Philoſophie,
Göthe war wie der Fiſch am Land, wenn er ſpeculiren ſollte. Dieſe
Beiſpiele brauchen keine Erläuterung und Begründung.

3. Was nun umgekehrt das Verhältniß des praktiſchen und wiſſen-
ſchaftlichen Genies zum äſthetiſchen betrifft, ſo hat die Unruhe des
Sollens und der ſcheinloſen Thätigkeit, die ſtreng zerlegende Wiſſen-
ſchaft ſicherlich keinen Beruf zur Erzeugung des Schönen; ſie ſteht zu ihm
im Verhältniß der allgemeinen, blos aufnehmenden Phantaſie. Doch wird
das praktiſche Genie und in der Wiſſenſchaft das empiriſche, hiſtoriſche
immer noch eher eine äſthetiſch productive Stunde haben, als das philo-
ſophiſche. Antonio freilich macht ebenſo geringe Verſe, als Taſſo ſchlechter
Oekonom, Diätetiker, Hofmann, Diplomat iſt; Napoleon that gute Blicke
in die Poeſie und Göthe rühmt von ihm einen genialen Fund eines Plan-
fehlers in Werthers Leiden: da zeigt ſich der Taktiker; die Hohenſtaufen
waren zum Theil glücklich im Minnelied. Plato, Schelling waren in dem
Grad nicht ſpezifiſch vollendete Philoſophen, als ſie einige glückliche Ge-
dichte produzirten. Von Schillers Kampfe ſprachen wir oben. Hegel und
Jedem, der in ſtrenge Philoſophie übergeht, verſiegt die mäßige poetiſche
Ader, die etwa in der Jugend gefloſſen.



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[402/0116] ob das Gebiet dem der Kunſt näher oder ferner liege; Leonardo war ſehr bedeutend in der Waſſer- und Feſtungs-Baukunſt, in der Mechanik, da iſt Alles noch greiflich, und doch war er auch hierin nicht Genie, wie in der Malerei, ſondern ebenfalls nur Talent. Göthe verlor viel Zeit mit Staatsgeſchäften, die ein Anderer ohne ſein Genie mindeſtens ebenſo- gut verwaltet hätte. Wie das praktiſche Leben hat auch die Wiſſenſchaft ihre Sphären, die der Kunſt nahe liegen; Göthe war in der Naturwiſ- ſenſchaft Talent, etwa fragmentariſches Genie, ſofern er einzelne Epochen- machende Blicke that. Noch näher liegt natürlich die Theorie der künſt- leriſchen Technik, und da ſind anatomiſche Studien, Forſchungen über Pro- ſpective, Proportionen u. ſ. w. wohl ein Feld für den Phantaſiebegabten, doch hat auch dieß ſeine Grenze und die Ausdehnung dieſer Studien hat gewiß einen Leonardo und M. Angelo in der Fruchtbarkeit und Raſchheit der Production geſtört. Ganz ſeitab liegt, wie wir ſchon ſahen, Philoſophie, Göthe war wie der Fiſch am Land, wenn er ſpeculiren ſollte. Dieſe Beiſpiele brauchen keine Erläuterung und Begründung. 3. Was nun umgekehrt das Verhältniß des praktiſchen und wiſſen- ſchaftlichen Genies zum äſthetiſchen betrifft, ſo hat die Unruhe des Sollens und der ſcheinloſen Thätigkeit, die ſtreng zerlegende Wiſſen- ſchaft ſicherlich keinen Beruf zur Erzeugung des Schönen; ſie ſteht zu ihm im Verhältniß der allgemeinen, blos aufnehmenden Phantaſie. Doch wird das praktiſche Genie und in der Wiſſenſchaft das empiriſche, hiſtoriſche immer noch eher eine äſthetiſch productive Stunde haben, als das philo- ſophiſche. Antonio freilich macht ebenſo geringe Verſe, als Taſſo ſchlechter Oekonom, Diätetiker, Hofmann, Diplomat iſt; Napoleon that gute Blicke in die Poeſie und Göthe rühmt von ihm einen genialen Fund eines Plan- fehlers in Werthers Leiden: da zeigt ſich der Taktiker; die Hohenſtaufen waren zum Theil glücklich im Minnelied. Plato, Schelling waren in dem Grad nicht ſpezifiſch vollendete Philoſophen, als ſie einige glückliche Ge- dichte produzirten. Von Schillers Kampfe ſprachen wir oben. Hegel und Jedem, der in ſtrenge Philoſophie übergeht, verſiegt die mäßige poetiſche Ader, die etwa in der Jugend gefloſſen.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 402. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/116>, abgerufen am 22.11.2024.