Es entstehen noch drei Fragen: gibt es Genie auch in der Sphäre des Guten und Wahren? Kann das ästhetische Genie zugleich auch in diesen Ge- bieten als Genie wirken? Kann das praktische und wissenschaftliche Genie, 1wenn es ein solches gibt, zugleich ästhetisches sein? Die erste ist mit Ein- schränkung auf den ersten, der Handlung und dem Beweise vorangehenden Wurf des Geistes, also auf eine blos vorbereitende Berechtigung des Instincts der 2Phantasie zu bejahen, die zweite mit Ausnahme der dem Schönen verwandtesten 3Gebiete im Object und der Vorstufen des Genie's im Subject (des Talents und fragmentarischen Genies), die dritte ganz zu verneinen.
1. Die Religion wird hier nicht aufgeführt, denn was sie vom Sitt- lichen und vom Denken des Wahren unterscheidet, ist eine unselbständige Beimischung der Phantasie, welche verlangt, daß sie, aber nicht hier, sondern an ganz anderem Orte, wie sich nun mit Nächstem zeigen wird, in die Lehre von der Phantasie aufgenommen werde. -- Es scheint nun, wir dürfen, was zuerst das Gute betrifft, nur auf §. 56--60 hinweisen, um das Ergebniß zu haben, daß die Thätigkeit, die dieses (das Nützliche §. 23 gehört dazu) erzeugt, ganz außer das Genie falle. Was schon Kant gesagt, daß das Genie, da es als Natur die Regel gebe, nicht dürfe beschreiben und wissenschaftlich anzeigen können, wie es sein Pro- duct zu Stande bringe, können wir einfach in den Begriff des Beweises fassen und so auch auf das Gute und alle Sphären des zweckmäßigen Thuns anwenden. Die Handlung nämlich muß sich beweisen können. Sie ist zwar ein ganz in Realität übertretender Gedanke, ein Thatsäch- liches, aber ihr Werth oder Unwerth besteht nur für den, der den Zweck und das Verhältniß der Mittel zu ihm begreift und die Folgen übersieht, und eben davon soll der Handelnde selbst Rechenschaft geben; sie umschließt eine Kette scheinloser Vermittlungen von Ueberlegung, Ausführung, beab- sichtigten und unbeabsichtigten, aber auch so als Möglichkeit in die Ueberle- gung aufzunehmenden Wirkungen: scheinloser, denn hier ist nicht das Vollkom- mene im reinen Bilde vorauszunehmen, sondern die Welt, wie sie ist, als un- vollkommene in Rechnung zu nehmen. Die Phantasie scheint also vom Guten ausgeschlossen, nach ihr Handeln Narrheit. -- Noch gewisser scheint die Wissen- schaft sich vor der Phantasie zu sträuben, denn mag sie gegebenen Stoff in Be- griffe auflösen oder voraussetzungslos als Philosophie sich im reinen Begriff bewegen, sie hebt überall das Einzelne in das Allgemeine auf, um es aus ihm wieder zu begreifen. Sie hat jeden Schritt durch den Beweis zu ver- mitteln und ist je bildloser, desto vollkommener. Und dennoch muß der große Praktiker, der Erfinder, der Judustrielle, der Staatsmann, der
§. 415.
Es entſtehen noch drei Fragen: gibt es Genie auch in der Sphäre des Guten und Wahren? Kann das äſthetiſche Genie zugleich auch in dieſen Ge- bieten als Genie wirken? Kann das praktiſche und wiſſenſchaftliche Genie, 1wenn es ein ſolches gibt, zugleich äſthetiſches ſein? Die erſte iſt mit Ein- ſchränkung auf den erſten, der Handlung und dem Beweiſe vorangehenden Wurf des Geiſtes, alſo auf eine blos vorbereitende Berechtigung des Inſtincts der 2Phantaſie zu bejahen, die zweite mit Ausnahme der dem Schönen verwandteſten 3Gebiete im Object und der Vorſtufen des Genie’s im Subject (des Talents und fragmentariſchen Genies), die dritte ganz zu verneinen.
1. Die Religion wird hier nicht aufgeführt, denn was ſie vom Sitt- lichen und vom Denken des Wahren unterſcheidet, iſt eine unſelbſtändige Beimiſchung der Phantaſie, welche verlangt, daß ſie, aber nicht hier, ſondern an ganz anderem Orte, wie ſich nun mit Nächſtem zeigen wird, in die Lehre von der Phantaſie aufgenommen werde. — Es ſcheint nun, wir dürfen, was zuerſt das Gute betrifft, nur auf §. 56—60 hinweiſen, um das Ergebniß zu haben, daß die Thätigkeit, die dieſes (das Nützliche §. 23 gehört dazu) erzeugt, ganz außer das Genie falle. Was ſchon Kant geſagt, daß das Genie, da es als Natur die Regel gebe, nicht dürfe beſchreiben und wiſſenſchaftlich anzeigen können, wie es ſein Pro- duct zu Stande bringe, können wir einfach in den Begriff des Beweiſes faſſen und ſo auch auf das Gute und alle Sphären des zweckmäßigen Thuns anwenden. Die Handlung nämlich muß ſich beweiſen können. Sie iſt zwar ein ganz in Realität übertretender Gedanke, ein Thatſäch- liches, aber ihr Werth oder Unwerth beſteht nur für den, der den Zweck und das Verhältniß der Mittel zu ihm begreift und die Folgen überſieht, und eben davon ſoll der Handelnde ſelbſt Rechenſchaft geben; ſie umſchließt eine Kette ſcheinloſer Vermittlungen von Ueberlegung, Ausführung, beab- ſichtigten und unbeabſichtigten, aber auch ſo als Möglichkeit in die Ueberle- gung aufzunehmenden Wirkungen: ſcheinloſer, denn hier iſt nicht das Vollkom- mene im reinen Bilde vorauszunehmen, ſondern die Welt, wie ſie iſt, als un- vollkommene in Rechnung zu nehmen. Die Phantaſie ſcheint alſo vom Guten ausgeſchloſſen, nach ihr Handeln Narrheit. — Noch gewiſſer ſcheint die Wiſſen- ſchaft ſich vor der Phantaſie zu ſträuben, denn mag ſie gegebenen Stoff in Be- griffe auflöſen oder vorausſetzungslos als Philoſophie ſich im reinen Begriff bewegen, ſie hebt überall das Einzelne in das Allgemeine auf, um es aus ihm wieder zu begreifen. Sie hat jeden Schritt durch den Beweis zu ver- mitteln und iſt je bildloſer, deſto vollkommener. Und dennoch muß der große Praktiker, der Erfinder, der Juduſtrielle, der Staatsmann, der
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Es entſtehen noch drei Fragen: gibt es Genie auch in der Sphäre des
Guten und Wahren? Kann das äſthetiſche Genie zugleich auch in dieſen Ge-
bieten als Genie wirken? Kann das praktiſche und wiſſenſchaftliche Genie,
wenn es ein ſolches gibt, zugleich äſthetiſches ſein? Die erſte iſt mit Ein-
ſchränkung auf den erſten, der Handlung und dem Beweiſe vorangehenden Wurf
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Phantaſie zu bejahen, die zweite mit Ausnahme der dem Schönen verwandteſten
Gebiete im Object und der Vorſtufen des Genie’s im Subject (des Talents und
fragmentariſchen Genies), die dritte ganz zu verneinen.
1. Die Religion wird hier nicht aufgeführt, denn was ſie vom Sitt-
lichen und vom Denken des Wahren unterſcheidet, iſt eine unſelbſtändige
Beimiſchung der Phantaſie, welche verlangt, daß ſie, aber nicht hier,
ſondern an ganz anderem Orte, wie ſich nun mit Nächſtem zeigen wird,
in die Lehre von der Phantaſie aufgenommen werde. — Es ſcheint nun, wir
dürfen, was zuerſt das Gute betrifft, nur auf §. 56—60 hinweiſen, um
das Ergebniß zu haben, daß die Thätigkeit, die dieſes (das Nützliche
§. 23 gehört dazu) erzeugt, ganz außer das Genie falle. Was ſchon
Kant geſagt, daß das Genie, da es als Natur die Regel gebe, nicht
dürfe beſchreiben und wiſſenſchaftlich anzeigen können, wie es ſein Pro-
duct zu Stande bringe, können wir einfach in den Begriff des Beweiſes
faſſen und ſo auch auf das Gute und alle Sphären des zweckmäßigen
Thuns anwenden. Die Handlung nämlich muß ſich beweiſen können.
Sie iſt zwar ein ganz in Realität übertretender Gedanke, ein Thatſäch-
liches, aber ihr Werth oder Unwerth beſteht nur für den, der den Zweck
und das Verhältniß der Mittel zu ihm begreift und die Folgen überſieht,
und eben davon ſoll der Handelnde ſelbſt Rechenſchaft geben; ſie umſchließt
eine Kette ſcheinloſer Vermittlungen von Ueberlegung, Ausführung, beab-
ſichtigten und unbeabſichtigten, aber auch ſo als Möglichkeit in die Ueberle-
gung aufzunehmenden Wirkungen: ſcheinloſer, denn hier iſt nicht das Vollkom-
mene im reinen Bilde vorauszunehmen, ſondern die Welt, wie ſie iſt, als un-
vollkommene in Rechnung zu nehmen. Die Phantaſie ſcheint alſo vom Guten
ausgeſchloſſen, nach ihr Handeln Narrheit. — Noch gewiſſer ſcheint die Wiſſen-
ſchaft ſich vor der Phantaſie zu ſträuben, denn mag ſie gegebenen Stoff in Be-
griffe auflöſen oder vorausſetzungslos als Philoſophie ſich im reinen Begriff
bewegen, ſie hebt überall das Einzelne in das Allgemeine auf, um es aus
ihm wieder zu begreifen. Sie hat jeden Schritt durch den Beweis zu ver-
mitteln und iſt je bildloſer, deſto vollkommener. Und dennoch muß der
große Praktiker, der Erfinder, der Juduſtrielle, der Staatsmann, der
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 400. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/114>, abgerufen am 16.02.2025.
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