Gebilde stehen da, als hätten sie sich selbst gemacht, als verständen sie sich von selbst: das Ei des Columbus; ihre Tiefe ist still und ruhig, ihre Gewalt so sanft und mäßig, als stark und übermenschlich. Wir haben aus dem Wesen der Phantasie ersehen, wie sich Nothwendigkeit und Freiheit, Bewußtlosigkeit und Besonnenheit in ihr verhält. Diese Einheit der Gegensätze hat aber selbst wieder ihre Stadien; das Genie bricht zuerst, auch durch äußere Lebenshindernisse, wie ein wilder Strom durch und seine ersten Gestaltungen sind stürmisch, leidenschaftlich, überschwellend, oft formlos, doch kündigt sich die Grazie schon an. Es folgt die Selbsterkenntniß, daß es so nicht bleiben könne, Zweifel, Kampf, inneres Unglück; aber das reine Genie geht darin nicht zu Grunde, wie das fragmentarische, seine Ge- sundheit ist unzerstörbar und so heilt es sich durch eine glückliche Krise. Der erste Sturm der Production war zugleich noch mit persönlicher, stoff- artiger Leidenschaft verwachsen; auch aus dieser ringt sich das Genie heraus und sammelt Stoff aus ihr. Nun aber ist die Naturdichtung zu Ende, die freie Selbstbeschränkung und Besonnenheit, die Bildung durchdringt, was dunkle Natur war. Diese Bildung ist zugleich Fleiß, Mühe der Arbeit am äußeren Stoffe: diese Seite lassen wir noch liegen, sie ist ohnedieß nur Wirkung der inneren Arbeit und Sammlung. Vorher hatte das Genie alle heteronomische Gesetzgebung über den Haufen ge- worfen, ohne eine neue zu schaffen, jetzt gibt es sich selbst sein Gesetz erhebt sich zur reinen, freien Gesetzmäßigkeit. Diese dritte Stufe ist aber kein Abfall von der Natur und Nothwendigkeit; es ist durchleuchtete Na- tur, ausgegorener Wein, freie Nothwendigkeit, bewußtloses Bewußtsein. Im Kleinen aber und Einzelnen läßt auch das reife Genie manche Masche fallen, es ist nicht so correct, als das Talent. Wer den Mantel in gro- ßen Massen umschlägt, kann nicht nach jeder kleinen Falte sehen.
§. 412.
1
Das Genie ist originell. Originalität als ein Schaffen dessen, was nie dagewesen und als Ganzes nicht nachgeahmt werden kann, schließt eine nur dem genievollen Subjecte eigene Weltanschauung, ein schlechtweg neues Weltbild in sich. Allein dieß Weltbild ist, indem es das Allersubjectivste ist, vollkom- men objectiv, die Sache selbst; denn das Eigenste des Genie's ist eben dieß, daß es ein objectiver Mensch ist. Genie ist im Centrum und das Centrum; weil es in sich die reine Menschheit findet, durchschaut es auch das Innerste der Menschheit außer ihm. Daher ist das absolut Neue, was es schafft, zu- 2gleich das Uralte, was in jedem Zuschauer geschlummert. Dadurch reißt das Genie hin, bezwingt, wird "als die angeborene Gemüths-Anlage, durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt" (Kant) exemplarisch und bildet Schulen.
Gebilde ſtehen da, als hätten ſie ſich ſelbſt gemacht, als verſtänden ſie ſich von ſelbſt: das Ei des Columbus; ihre Tiefe iſt ſtill und ruhig, ihre Gewalt ſo ſanft und mäßig, als ſtark und übermenſchlich. Wir haben aus dem Weſen der Phantaſie erſehen, wie ſich Nothwendigkeit und Freiheit, Bewußtloſigkeit und Beſonnenheit in ihr verhält. Dieſe Einheit der Gegenſätze hat aber ſelbſt wieder ihre Stadien; das Genie bricht zuerſt, auch durch äußere Lebenshinderniſſe, wie ein wilder Strom durch und ſeine erſten Geſtaltungen ſind ſtürmiſch, leidenſchaftlich, überſchwellend, oft formlos, doch kündigt ſich die Grazie ſchon an. Es folgt die Selbſterkenntniß, daß es ſo nicht bleiben könne, Zweifel, Kampf, inneres Unglück; aber das reine Genie geht darin nicht zu Grunde, wie das fragmentariſche, ſeine Ge- ſundheit iſt unzerſtörbar und ſo heilt es ſich durch eine glückliche Kriſe. Der erſte Sturm der Production war zugleich noch mit perſönlicher, ſtoff- artiger Leidenſchaft verwachſen; auch aus dieſer ringt ſich das Genie heraus und ſammelt Stoff aus ihr. Nun aber iſt die Naturdichtung zu Ende, die freie Selbſtbeſchränkung und Beſonnenheit, die Bildung durchdringt, was dunkle Natur war. Dieſe Bildung iſt zugleich Fleiß, Mühe der Arbeit am äußeren Stoffe: dieſe Seite laſſen wir noch liegen, ſie iſt ohnedieß nur Wirkung der inneren Arbeit und Sammlung. Vorher hatte das Genie alle heteronomiſche Geſetzgebung über den Haufen ge- worfen, ohne eine neue zu ſchaffen, jetzt gibt es ſich ſelbſt ſein Geſetz erhebt ſich zur reinen, freien Geſetzmäßigkeit. Dieſe dritte Stufe iſt aber kein Abfall von der Natur und Nothwendigkeit; es iſt durchleuchtete Na- tur, ausgegorener Wein, freie Nothwendigkeit, bewußtloſes Bewußtſein. Im Kleinen aber und Einzelnen läßt auch das reife Genie manche Maſche fallen, es iſt nicht ſo correct, als das Talent. Wer den Mantel in gro- ßen Maſſen umſchlägt, kann nicht nach jeder kleinen Falte ſehen.
§. 412.
1
Das Genie iſt originell. Originalität als ein Schaffen deſſen, was nie dageweſen und als Ganzes nicht nachgeahmt werden kann, ſchließt eine nur dem genievollen Subjecte eigene Weltanſchauung, ein ſchlechtweg neues Weltbild in ſich. Allein dieß Weltbild iſt, indem es das Allerſubjectivſte iſt, vollkom- men objectiv, die Sache ſelbſt; denn das Eigenſte des Genie’s iſt eben dieß, daß es ein objectiver Menſch iſt. Genie iſt im Centrum und das Centrum; weil es in ſich die reine Menſchheit findet, durchſchaut es auch das Innerſte der Menſchheit außer ihm. Daher iſt das abſolut Neue, was es ſchafft, zu- 2gleich das Uralte, was in jedem Zuſchauer geſchlummert. Dadurch reißt das Genie hin, bezwingt, wird „als die angeborene Gemüths-Anlage, durch welche die Natur der Kunſt die Regel gibt“ (Kant) exemplariſch und bildet Schulen.
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Gewalt ſo ſanft und mäßig, als ſtark und übermenſchlich. Wir haben aus
dem Weſen der Phantaſie erſehen, wie ſich Nothwendigkeit und Freiheit,
Bewußtloſigkeit und Beſonnenheit in ihr verhält. Dieſe Einheit der Gegenſätze
hat aber ſelbſt wieder ihre Stadien; das Genie bricht zuerſt, auch durch
äußere Lebenshinderniſſe, wie ein wilder Strom durch und ſeine erſten
Geſtaltungen ſind ſtürmiſch, leidenſchaftlich, überſchwellend, oft formlos, doch
kündigt ſich die Grazie ſchon an. Es folgt die Selbſterkenntniß, daß es
ſo nicht bleiben könne, Zweifel, Kampf, inneres Unglück; aber das reine
Genie geht darin nicht zu Grunde, wie das fragmentariſche, ſeine Ge-
ſundheit iſt unzerſtörbar und ſo heilt es ſich durch eine glückliche Kriſe.
Der erſte Sturm der Production war zugleich noch mit perſönlicher, ſtoff-
artiger Leidenſchaft verwachſen; auch aus dieſer ringt ſich das Genie heraus
und ſammelt Stoff aus ihr. Nun aber iſt die Naturdichtung zu Ende,
die freie Selbſtbeſchränkung und Beſonnenheit, die Bildung durchdringt,
was dunkle Natur war. Dieſe Bildung iſt zugleich Fleiß, Mühe
der Arbeit am äußeren Stoffe: dieſe Seite laſſen wir noch liegen,
ſie iſt ohnedieß nur Wirkung der inneren Arbeit und Sammlung. Vorher
hatte das Genie alle heteronomiſche Geſetzgebung über den Haufen ge-
worfen, ohne eine neue zu ſchaffen, jetzt gibt es ſich ſelbſt ſein Geſetz
erhebt ſich zur reinen, freien Geſetzmäßigkeit. Dieſe dritte Stufe iſt aber
kein Abfall von der Natur und Nothwendigkeit; es iſt durchleuchtete Na-
tur, ausgegorener Wein, freie Nothwendigkeit, bewußtloſes Bewußtſein.
Im Kleinen aber und Einzelnen läßt auch das reife Genie manche Maſche
fallen, es iſt nicht ſo correct, als das Talent. Wer den Mantel in gro-
ßen Maſſen umſchlägt, kann nicht nach jeder kleinen Falte ſehen.
§. 412.
Das Genie iſt originell. Originalität als ein Schaffen deſſen, was nie
dageweſen und als Ganzes nicht nachgeahmt werden kann, ſchließt eine nur
dem genievollen Subjecte eigene Weltanſchauung, ein ſchlechtweg neues Weltbild
in ſich. Allein dieß Weltbild iſt, indem es das Allerſubjectivſte iſt, vollkom-
men objectiv, die Sache ſelbſt; denn das Eigenſte des Genie’s iſt eben dieß,
daß es ein objectiver Menſch iſt. Genie iſt im Centrum und das Centrum;
weil es in ſich die reine Menſchheit findet, durchſchaut es auch das Innerſte
der Menſchheit außer ihm. Daher iſt das abſolut Neue, was es ſchafft, zu-
gleich das Uralte, was in jedem Zuſchauer geſchlummert. Dadurch reißt das
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die Natur der Kunſt die Regel gibt“ (Kant) exemplariſch und bildet Schulen.
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 394. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/108>, abgerufen am 22.02.2025.
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