dernisse und Verirrungen sich des rechten Weges wohl bewußt ist. Sie werden immer von geringer Fruchtbarkeit sein. Beispiele sind Marlowe, Günther, Bürger, Leop. Robert und And. Die blitzende, springende und unharmonische Form des fragmentarischen Genie's ist es, die man ge- wöhnlich geistreich, auf höherer Stufe (in einem Sinne des Adjectivs, der von dem des Hauptworts abweicht) genial nennt.
§. 411.
Das reine und ungetheilte Wirken der Phantasie in einem Individuum ist Genie. Sein inneres Thun ist daher vor Allem ein geistiger Prozeß, der durch ursprüngliche Gewalt, Fruchtbarkeit, Sicherheit, Nothwendigkeit, Ein- falt und stille Tiefe, die sich als Naivetät in der ganzen Persönlichkeit kund gibt, ebensosehr ein Naturprozeß ist und daher, obzwar vom ersten Sturm und Drang durch Kampf und Mühe, doch sicher zum Ziele, zur freien Nothwen- digkeit, die sich selbst das Gesetz gibt, zur Besonnenheit, die doch Eingebung bleibt, sich hindurcharbeitet.
Eigentlich hätten wir mit dem ersten Satze des §. Alles gesagt, denn was die Phantasie ist, haben wir gesehen. Doch bildet sich der allge- meine Begriff zu bestimmteren Zügen, wenn er als lebensvolle Persön- lichkeit vor uns tritt. So, was in jenem Unmittelbarkeit, Nothwendig- keit hieß, heißt jetzt wesentlich zuvörderst ein Angebornes. Angeboren ist auch das Talent, das fragmentarische Genie; aber was diesen angeboren ist, ebendieß ist bei jenem mehr ein Machen, als ein Sein, bei diesem ein Hereinbrechen des Seins in das Machen, und bei beiden entsteht außer der angebornen Leichtigkeit des Machens auch ein erzwungenes Machen. Das Genie aber ist Vollblut. Interessant ist, daß es meist Erbe von der Mutter ist; das weibliche Leben, das in Naturmitte webt, ist sein geheimnißvoller Schooß. Das Genie ist eine Urkraft, kündigt sich an wie eine Naturmacht. Es muß schaffen und Schönes schaffen, es kann nichts dafür, es verwundert sich selbst über seine Gebilde und ist daher naiv in allen seinen Aeußerungen. Geisterschauer umweht diese Naturen und wir treten in Scheue vor ihnen zurück, und doch sind sie, wie andere Leute auch, zutraulich, kindlich, reine Menschen; "still, einfach, groß und noth- wendig wie die Natur" (Schelling Meth. d. ak. St. Vorl. 14). Die Stim- mung kommt dem Genie nicht selten, sondern ist sein natürlicher Zustand, es sprudelt von Fruchtbarkeit. Die Menge der Werke der großen Genien, der griechischen, spanischen Dramatiker, Shakespeares, Göthes, der gro- ßen Bildhauer Griechenlands, Maler Italiens, Spaniens, Belgiens ist wunderbar. Der Drang steigt bis zum Schmerz, läßt keine Ruhe. Die
derniſſe und Verirrungen ſich des rechten Weges wohl bewußt iſt. Sie werden immer von geringer Fruchtbarkeit ſein. Beiſpiele ſind Marlowe, Günther, Bürger, Leop. Robert und And. Die blitzende, ſpringende und unharmoniſche Form des fragmentariſchen Genie’s iſt es, die man ge- wöhnlich geiſtreich, auf höherer Stufe (in einem Sinne des Adjectivs, der von dem des Hauptworts abweicht) genial nennt.
§. 411.
Das reine und ungetheilte Wirken der Phantaſie in einem Individuum iſt Genie. Sein inneres Thun iſt daher vor Allem ein geiſtiger Prozeß, der durch urſprüngliche Gewalt, Fruchtbarkeit, Sicherheit, Nothwendigkeit, Ein- falt und ſtille Tiefe, die ſich als Naivetät in der ganzen Perſönlichkeit kund gibt, ebenſoſehr ein Naturprozeß iſt und daher, obzwar vom erſten Sturm und Drang durch Kampf und Mühe, doch ſicher zum Ziele, zur freien Nothwen- digkeit, die ſich ſelbſt das Geſetz gibt, zur Beſonnenheit, die doch Eingebung bleibt, ſich hindurcharbeitet.
Eigentlich hätten wir mit dem erſten Satze des §. Alles geſagt, denn was die Phantaſie iſt, haben wir geſehen. Doch bildet ſich der allge- meine Begriff zu beſtimmteren Zügen, wenn er als lebensvolle Perſön- lichkeit vor uns tritt. So, was in jenem Unmittelbarkeit, Nothwendig- keit hieß, heißt jetzt weſentlich zuvörderſt ein Angebornes. Angeboren iſt auch das Talent, das fragmentariſche Genie; aber was dieſen angeboren iſt, ebendieß iſt bei jenem mehr ein Machen, als ein Sein, bei dieſem ein Hereinbrechen des Seins in das Machen, und bei beiden entſteht außer der angebornen Leichtigkeit des Machens auch ein erzwungenes Machen. Das Genie aber iſt Vollblut. Intereſſant iſt, daß es meiſt Erbe von der Mutter iſt; das weibliche Leben, das in Naturmitte webt, iſt ſein geheimnißvoller Schooß. Das Genie iſt eine Urkraft, kündigt ſich an wie eine Naturmacht. Es muß ſchaffen und Schönes ſchaffen, es kann nichts dafür, es verwundert ſich ſelbſt über ſeine Gebilde und iſt daher naiv in allen ſeinen Aeußerungen. Geiſterſchauer umweht dieſe Naturen und wir treten in Scheue vor ihnen zurück, und doch ſind ſie, wie andere Leute auch, zutraulich, kindlich, reine Menſchen; „ſtill, einfach, groß und noth- wendig wie die Natur“ (Schelling Meth. d. ak. St. Vorl. 14). Die Stim- mung kommt dem Genie nicht ſelten, ſondern iſt ſein natürlicher Zuſtand, es ſprudelt von Fruchtbarkeit. Die Menge der Werke der großen Genien, der griechiſchen, ſpaniſchen Dramatiker, Shakespeares, Göthes, der gro- ßen Bildhauer Griechenlands, Maler Italiens, Spaniens, Belgiens iſt wunderbar. Der Drang ſteigt bis zum Schmerz, läßt keine Ruhe. Die
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Günther, Bürger, Leop. Robert und And. Die blitzende, ſpringende und
unharmoniſche Form des fragmentariſchen Genie’s iſt es, die man ge-
wöhnlich geiſtreich, auf höherer Stufe (in einem Sinne des Adjectivs,
der von dem des Hauptworts abweicht) genial nennt.
§. 411.
Das reine und ungetheilte Wirken der Phantaſie in einem Individuum
iſt Genie. Sein inneres Thun iſt daher vor Allem ein geiſtiger Prozeß,
der durch urſprüngliche Gewalt, Fruchtbarkeit, Sicherheit, Nothwendigkeit, Ein-
falt und ſtille Tiefe, die ſich als Naivetät in der ganzen Perſönlichkeit kund
gibt, ebenſoſehr ein Naturprozeß iſt und daher, obzwar vom erſten Sturm und
Drang durch Kampf und Mühe, doch ſicher zum Ziele, zur freien Nothwen-
digkeit, die ſich ſelbſt das Geſetz gibt, zur Beſonnenheit, die doch Eingebung
bleibt, ſich hindurcharbeitet.
Eigentlich hätten wir mit dem erſten Satze des §. Alles geſagt, denn
was die Phantaſie iſt, haben wir geſehen. Doch bildet ſich der allge-
meine Begriff zu beſtimmteren Zügen, wenn er als lebensvolle Perſön-
lichkeit vor uns tritt. So, was in jenem Unmittelbarkeit, Nothwendig-
keit hieß, heißt jetzt weſentlich zuvörderſt ein Angebornes. Angeboren iſt
auch das Talent, das fragmentariſche Genie; aber was dieſen angeboren
iſt, ebendieß iſt bei jenem mehr ein Machen, als ein Sein, bei dieſem
ein Hereinbrechen des Seins in das Machen, und bei beiden entſteht
außer der angebornen Leichtigkeit des Machens auch ein erzwungenes
Machen. Das Genie aber iſt Vollblut. Intereſſant iſt, daß es meiſt
Erbe von der Mutter iſt; das weibliche Leben, das in Naturmitte webt,
iſt ſein geheimnißvoller Schooß. Das Genie iſt eine Urkraft, kündigt ſich
an wie eine Naturmacht. Es muß ſchaffen und Schönes ſchaffen, es
kann nichts dafür, es verwundert ſich ſelbſt über ſeine Gebilde und iſt
daher naiv in allen ſeinen Aeußerungen. Geiſterſchauer umweht dieſe Naturen
und wir treten in Scheue vor ihnen zurück, und doch ſind ſie, wie andere Leute
auch, zutraulich, kindlich, reine Menſchen; „ſtill, einfach, groß und noth-
wendig wie die Natur“ (Schelling Meth. d. ak. St. Vorl. 14). Die Stim-
mung kommt dem Genie nicht ſelten, ſondern iſt ſein natürlicher Zuſtand, es
ſprudelt von Fruchtbarkeit. Die Menge der Werke der großen Genien,
der griechiſchen, ſpaniſchen Dramatiker, Shakespeares, Göthes, der gro-
ßen Bildhauer Griechenlands, Maler Italiens, Spaniens, Belgiens iſt
wunderbar. Der Drang ſteigt bis zum Schmerz, läßt keine Ruhe. Die
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 393. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/107>, abgerufen am 22.02.2025.
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