Das erste Feste, das sich in der unorganischen Natur darstellt, ist das Erdreich. Die Formen, die es im Großen zeigt, sind zwar durch äußere Gewalt entstanden und es fehlt ihnen daher die Individualität als eine von innen heraus ein durch sich selbst begrenztes Gebilde bauende Macht. Allein sie sind durch eine Bewegung entstanden, diese Bewegung und die Art ihrer Ursache sieht man ihnen dunkler oder deutlicher an und so rufen sie die gewaltigen Gährungen und Umwälzungen vor die Seele, wodurch der Planet seine jetzige Gestalt sich gegeben hat. Diese Bewegung scheint sich im Anschauen zu wieder- holen, die todten Formen leben auf und der thätige Planet ist daher das In- dividuum, welches als das eigentliche Subject der Schönheit in diesem Schauspiele sich darstellt; die einzelnen Formen erscheinen als seine massenhafte Gliederung. Alles geht in's Große, Erhabene.
Das rechte Sehen ist ein inneres Nachzeichnen; man braucht dazu nicht Künstler zu sein, aber man muß sehen gelernt haben. Indem ich so die Erdbildungen sehend nachzeichne, hebe ich sie eigentlich auf und schaffe sie neu; ich verstehe und ahne in ihren Linien die Gewalt, die sie einst aus einem Chaos wirklich schuf und mitgerissen lege ich mich selbst in diese Gewalt und wiederhole ihren Prozeß. Die Feuergewalt höre ich wieder dumpf zischen, donnern und die großen Massen thürmen, die Urwasser höre ich rauschen und sehe, wie sie die breiten Flächen hinwerfen, die Berge aufschichten; die großen Strom-Durchbrüche reißen das wilde Thal, spülen das sanftere aus. Der Planet arbeitet mächtig, sich seine Gestalt zu geben, er ist als werdendes Individuum der ästhetische Gegenstand in diesem Schau- spiele. Er schafft sich seine Rippen, sein Knochengerüste, er breitet seine gigantischen Glieder aus und legt die weicheren Umhüllungen darüber. Wie wir in Alles den Menschen legen, so hat im Kleineren auch die Sprache für die Erdbildungen organische Namen festgesetzt: Kopf, Rücken, Kamm, Schulter, Arm, Fuß, Sohle bezeichnen die Theile der Gebirge, des Thals. Da nun hier alles in massenhaften, großen Verhältnissen besteht, so wird durchaus der Charakter des Erhabenen herrschen, doch tritt innerhalb desselben ein Gegensatz von Schönem und Erhabenem auf.
Vischer's Aesthetik. 2. Band. 5
e. Die Erde.
§. 260.
Das erſte Feſte, das ſich in der unorganiſchen Natur darſtellt, iſt das Erdreich. Die Formen, die es im Großen zeigt, ſind zwar durch äußere Gewalt entſtanden und es fehlt ihnen daher die Individualität als eine von innen heraus ein durch ſich ſelbſt begrenztes Gebilde bauende Macht. Allein ſie ſind durch eine Bewegung entſtanden, dieſe Bewegung und die Art ihrer Urſache ſieht man ihnen dunkler oder deutlicher an und ſo rufen ſie die gewaltigen Gährungen und Umwälzungen vor die Seele, wodurch der Planet ſeine jetzige Geſtalt ſich gegeben hat. Dieſe Bewegung ſcheint ſich im Anſchauen zu wieder- holen, die todten Formen leben auf und der thätige Planet iſt daher das In- dividuum, welches als das eigentliche Subject der Schönheit in dieſem Schauſpiele ſich darſtellt; die einzelnen Formen erſcheinen als ſeine maſſenhafte Gliederung. Alles geht in’s Große, Erhabene.
Das rechte Sehen iſt ein inneres Nachzeichnen; man braucht dazu nicht Künſtler zu ſein, aber man muß ſehen gelernt haben. Indem ich ſo die Erdbildungen ſehend nachzeichne, hebe ich ſie eigentlich auf und ſchaffe ſie neu; ich verſtehe und ahne in ihren Linien die Gewalt, die ſie einſt aus einem Chaos wirklich ſchuf und mitgeriſſen lege ich mich ſelbſt in dieſe Gewalt und wiederhole ihren Prozeß. Die Feuergewalt höre ich wieder dumpf ziſchen, donnern und die großen Maſſen thürmen, die Urwaſſer höre ich rauſchen und ſehe, wie ſie die breiten Flächen hinwerfen, die Berge aufſchichten; die großen Strom-Durchbrüche reißen das wilde Thal, ſpülen das ſanftere aus. Der Planet arbeitet mächtig, ſich ſeine Geſtalt zu geben, er iſt als werdendes Individuum der äſthetiſche Gegenſtand in dieſem Schau- ſpiele. Er ſchafft ſich ſeine Rippen, ſein Knochengerüſte, er breitet ſeine gigantiſchen Glieder aus und legt die weicheren Umhüllungen darüber. Wie wir in Alles den Menſchen legen, ſo hat im Kleineren auch die Sprache für die Erdbildungen organiſche Namen feſtgeſetzt: Kopf, Rücken, Kamm, Schulter, Arm, Fuß, Sohle bezeichnen die Theile der Gebirge, des Thals. Da nun hier alles in maſſenhaften, großen Verhältniſſen beſteht, ſo wird durchaus der Charakter des Erhabenen herrſchen, doch tritt innerhalb deſſelben ein Gegenſatz von Schönem und Erhabenem auf.
Viſcher’s Aeſthetik. 2. Band. 5
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Die Erde.
§. 260.
Das erſte Feſte, das ſich in der unorganiſchen Natur darſtellt, iſt das
Erdreich. Die Formen, die es im Großen zeigt, ſind zwar durch äußere
Gewalt entſtanden und es fehlt ihnen daher die Individualität als eine von
innen heraus ein durch ſich ſelbſt begrenztes Gebilde bauende Macht. Allein
ſie ſind durch eine Bewegung entſtanden, dieſe Bewegung und die Art ihrer
Urſache ſieht man ihnen dunkler oder deutlicher an und ſo rufen ſie die gewaltigen
Gährungen und Umwälzungen vor die Seele, wodurch der Planet ſeine jetzige
Geſtalt ſich gegeben hat. Dieſe Bewegung ſcheint ſich im Anſchauen zu wieder-
holen, die todten Formen leben auf und der thätige Planet iſt daher das In-
dividuum, welches als das eigentliche Subject der Schönheit in dieſem Schauſpiele
ſich darſtellt; die einzelnen Formen erſcheinen als ſeine maſſenhafte Gliederung.
Alles geht in’s Große, Erhabene.
Das rechte Sehen iſt ein inneres Nachzeichnen; man braucht dazu
nicht Künſtler zu ſein, aber man muß ſehen gelernt haben. Indem ich ſo
die Erdbildungen ſehend nachzeichne, hebe ich ſie eigentlich auf und ſchaffe
ſie neu; ich verſtehe und ahne in ihren Linien die Gewalt, die ſie einſt
aus einem Chaos wirklich ſchuf und mitgeriſſen lege ich mich ſelbſt in
dieſe Gewalt und wiederhole ihren Prozeß. Die Feuergewalt höre ich
wieder dumpf ziſchen, donnern und die großen Maſſen thürmen, die Urwaſſer
höre ich rauſchen und ſehe, wie ſie die breiten Flächen hinwerfen, die Berge
aufſchichten; die großen Strom-Durchbrüche reißen das wilde Thal, ſpülen
das ſanftere aus. Der Planet arbeitet mächtig, ſich ſeine Geſtalt zu geben,
er iſt als werdendes Individuum der äſthetiſche Gegenſtand in dieſem Schau-
ſpiele. Er ſchafft ſich ſeine Rippen, ſein Knochengerüſte, er breitet ſeine
gigantiſchen Glieder aus und legt die weicheren Umhüllungen darüber.
Wie wir in Alles den Menſchen legen, ſo hat im Kleineren auch die
Sprache für die Erdbildungen organiſche Namen feſtgeſetzt: Kopf,
Rücken, Kamm, Schulter, Arm, Fuß, Sohle bezeichnen die Theile der
Gebirge, des Thals. Da nun hier alles in maſſenhaften, großen
Verhältniſſen beſteht, ſo wird durchaus der Charakter des Erhabenen
herrſchen, doch tritt innerhalb deſſelben ein Gegenſatz von Schönem und
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/77>, abgerufen am 16.02.2025.
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