Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

Bild:
<< vorherige Seite

verliert sich das Licht in Dämmerung; oder es fällt durch enge Oeffnung
ein Lichtstrahl in ein Zimmer, eine menschliche Figur, die im Zimmer ist,
steht im vollen Lichte, Geräthe, Wände aber u. s. w. schwimmen im
Helldunkel, denn der Strahl hat nicht genug Umfang, um Alles zu
beleuchten. Ein solches Nebeneinander von scharfer Beleuchtung und
Helldunkel kann sich mit der Bedeutung der Gegenstände höchst stimmungs-
voll vereinigen: Auge und Sinn sucht in der Dämmerung des Waldes
sich von der Helle und Gluth der übrigen Landschaft zu erholen; zu
den scharf beleuchteten Zügen des studirenden Astrologen gibt das Hell-
dunkel seines mit räthselhaftem Geräthe gefüllten Zimmers die geheimniß-
volle Stimmung.

Wir müssen hier noch einmal auf die in §. 242 erwähnte Lichtfreude
zurückkommen, um sie mit der Wirkung des Helldunkels in Contrast zu-
sammenzustellen. Die Kräfte des Seins, welche in Bildung individueller
Gestalten zusammenwirken, sind wesentlich ein Denken, nur noch nicht in
wirklicher Gestalt des zu sich gekommenen, geistigen Denkens. Indem die
Natur dieses ihr Denken, welches ein Bilden ist, durch die Wirkung des
Lichtes nicht nur theilweise vollzieht, sondern auch aufzeigt, so ist es als
gebe sie ein Vorspiel des eigentlichen, wirklichen Denkens; sie denkt in
Formen und sie scheint dieses verhüllte Denken in der Manifestation des
Lichtes selbst zu denken; es ist wie ein Bewußtsein der Natur von sich
und der Zuschauer genießt in diesem Vorbilde sinnlich, was er in dem
Vollziehen deutlicher Gedanken auf andere Weise geistig und innerlich
genießt. Es ruht aber im persönlichen Geiste eine unentwickelte Welt
unendlicher Gedanken, deren unausgesprochene Tiefe im ahnenden Gefühle
bang und freudig zugleich sich als Ahnung ankündigt: dem entspricht das
Helldunkel. So spricht der Dichter die Wirkung des Helldunkels durch
Mondschein auf das Gemüth mit den Worten aus, daß es die Brust
lösend aufschließe, mit dem Freunde zu genießen,

Was vom Menschen nicht gewußt
Oder nicht bedacht,
Durch das Labyrinth der Brust
Wandelt in der Nacht.

Das Helldunkel kann auch anders wirken, als in dieser Weise des
Rührenden: drohend, schauerlich, aber auch hier eben durch das Ungewisse
der noch nicht deutlichen Gefahr. Immer ist etwas vom negativ Erhabenen
in der Wirkung des Helldunkels, weil die Nacht an das Vergehen erinnert.
Volles Licht wirkt dagegen im Sinne des Schönen, durch blendende Fülle
wird es aber erhaben. Wie sich das Schöne und Erhabene an die bisher
aufgeführten Erscheinungen vertheile, kann jedoch hier nicht weiter verfolgt
werden; es mag Jeder leicht die Anwendung ziehen.


verliert ſich das Licht in Dämmerung; oder es fällt durch enge Oeffnung
ein Lichtſtrahl in ein Zimmer, eine menſchliche Figur, die im Zimmer iſt,
ſteht im vollen Lichte, Geräthe, Wände aber u. ſ. w. ſchwimmen im
Helldunkel, denn der Strahl hat nicht genug Umfang, um Alles zu
beleuchten. Ein ſolches Nebeneinander von ſcharfer Beleuchtung und
Helldunkel kann ſich mit der Bedeutung der Gegenſtände höchſt ſtimmungs-
voll vereinigen: Auge und Sinn ſucht in der Dämmerung des Waldes
ſich von der Helle und Gluth der übrigen Landſchaft zu erholen; zu
den ſcharf beleuchteten Zügen des ſtudirenden Aſtrologen gibt das Hell-
dunkel ſeines mit räthſelhaftem Geräthe gefüllten Zimmers die geheimniß-
volle Stimmung.

Wir müſſen hier noch einmal auf die in §. 242 erwähnte Lichtfreude
zurückkommen, um ſie mit der Wirkung des Helldunkels in Contraſt zu-
ſammenzuſtellen. Die Kräfte des Seins, welche in Bildung individueller
Geſtalten zuſammenwirken, ſind weſentlich ein Denken, nur noch nicht in
wirklicher Geſtalt des zu ſich gekommenen, geiſtigen Denkens. Indem die
Natur dieſes ihr Denken, welches ein Bilden iſt, durch die Wirkung des
Lichtes nicht nur theilweiſe vollzieht, ſondern auch aufzeigt, ſo iſt es als
gebe ſie ein Vorſpiel des eigentlichen, wirklichen Denkens; ſie denkt in
Formen und ſie ſcheint dieſes verhüllte Denken in der Manifeſtation des
Lichtes ſelbſt zu denken; es iſt wie ein Bewußtſein der Natur von ſich
und der Zuſchauer genießt in dieſem Vorbilde ſinnlich, was er in dem
Vollziehen deutlicher Gedanken auf andere Weiſe geiſtig und innerlich
genießt. Es ruht aber im perſönlichen Geiſte eine unentwickelte Welt
unendlicher Gedanken, deren unausgeſprochene Tiefe im ahnenden Gefühle
bang und freudig zugleich ſich als Ahnung ankündigt: dem entſpricht das
Helldunkel. So ſpricht der Dichter die Wirkung des Helldunkels durch
Mondſchein auf das Gemüth mit den Worten aus, daß es die Bruſt
löſend aufſchließe, mit dem Freunde zu genießen,

Was vom Menſchen nicht gewußt
Oder nicht bedacht,
Durch das Labyrinth der Bruſt
Wandelt in der Nacht.

Das Helldunkel kann auch anders wirken, als in dieſer Weiſe des
Rührenden: drohend, ſchauerlich, aber auch hier eben durch das Ungewiſſe
der noch nicht deutlichen Gefahr. Immer iſt etwas vom negativ Erhabenen
in der Wirkung des Helldunkels, weil die Nacht an das Vergehen erinnert.
Volles Licht wirkt dagegen im Sinne des Schönen, durch blendende Fülle
wird es aber erhaben. Wie ſich das Schöne und Erhabene an die bisher
aufgeführten Erſcheinungen vertheile, kann jedoch hier nicht weiter verfolgt
werden; es mag Jeder leicht die Anwendung ziehen.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p>
                  <pb facs="#f0048" n="36"/> <hi rendition="#et">verliert &#x017F;ich das Licht in Dämmerung; oder es fällt durch enge Oeffnung<lb/>
ein Licht&#x017F;trahl in ein Zimmer, eine men&#x017F;chliche Figur, die im Zimmer i&#x017F;t,<lb/>
&#x017F;teht im vollen Lichte, Geräthe, Wände aber u. &#x017F;. w. &#x017F;chwimmen im<lb/>
Helldunkel, denn der Strahl hat nicht genug Umfang, um Alles zu<lb/>
beleuchten. Ein &#x017F;olches Nebeneinander von &#x017F;charfer Beleuchtung und<lb/>
Helldunkel kann &#x017F;ich mit der Bedeutung der Gegen&#x017F;tände höch&#x017F;t &#x017F;timmungs-<lb/>
voll vereinigen: Auge und Sinn &#x017F;ucht in der Dämmerung des Waldes<lb/>
&#x017F;ich von der Helle und Gluth der übrigen Land&#x017F;chaft zu erholen; zu<lb/>
den &#x017F;charf beleuchteten Zügen des &#x017F;tudirenden A&#x017F;trologen gibt das Hell-<lb/>
dunkel &#x017F;eines mit räth&#x017F;elhaftem Geräthe gefüllten Zimmers die geheimniß-<lb/>
volle Stimmung.</hi> </p><lb/>
                <p> <hi rendition="#et">Wir mü&#x017F;&#x017F;en hier noch einmal auf die in §. 242 erwähnte Lichtfreude<lb/>
zurückkommen, um &#x017F;ie mit der Wirkung des Helldunkels in Contra&#x017F;t zu-<lb/>
&#x017F;ammenzu&#x017F;tellen. Die Kräfte des Seins, welche in Bildung individueller<lb/>
Ge&#x017F;talten zu&#x017F;ammenwirken, &#x017F;ind we&#x017F;entlich ein Denken, nur noch nicht in<lb/>
wirklicher Ge&#x017F;talt des zu &#x017F;ich gekommenen, gei&#x017F;tigen Denkens. Indem die<lb/>
Natur die&#x017F;es ihr Denken, welches ein Bilden i&#x017F;t, durch die Wirkung des<lb/>
Lichtes nicht nur theilwei&#x017F;e vollzieht, &#x017F;ondern auch aufzeigt, &#x017F;o i&#x017F;t es als<lb/>
gebe &#x017F;ie ein Vor&#x017F;piel des eigentlichen, wirklichen Denkens; &#x017F;ie denkt in<lb/>
Formen und &#x017F;ie &#x017F;cheint die&#x017F;es verhüllte Denken in der Manife&#x017F;tation des<lb/>
Lichtes &#x017F;elb&#x017F;t zu denken; es i&#x017F;t wie ein Bewußt&#x017F;ein der Natur von &#x017F;ich<lb/>
und der Zu&#x017F;chauer genießt in die&#x017F;em Vorbilde &#x017F;innlich, was er in dem<lb/>
Vollziehen deutlicher Gedanken auf andere Wei&#x017F;e gei&#x017F;tig und innerlich<lb/>
genießt. Es ruht aber im per&#x017F;önlichen Gei&#x017F;te eine unentwickelte Welt<lb/>
unendlicher Gedanken, deren unausge&#x017F;prochene Tiefe im ahnenden Gefühle<lb/>
bang und freudig zugleich &#x017F;ich als Ahnung ankündigt: dem ent&#x017F;pricht das<lb/>
Helldunkel. So &#x017F;pricht der Dichter die Wirkung des Helldunkels durch<lb/>
Mond&#x017F;chein auf das Gemüth mit den Worten aus, daß es die Bru&#x017F;t<lb/>&#x017F;end auf&#x017F;chließe, mit dem Freunde zu genießen,</hi> </p><lb/>
                <lg type="poem">
                  <l>Was vom Men&#x017F;chen nicht gewußt</l><lb/>
                  <l>Oder nicht bedacht,</l><lb/>
                  <l>Durch das Labyrinth der Bru&#x017F;t</l><lb/>
                  <l>Wandelt in der Nacht.</l>
                </lg><lb/>
                <p> <hi rendition="#et">Das Helldunkel kann auch anders wirken, als in die&#x017F;er Wei&#x017F;e des<lb/>
Rührenden: drohend, &#x017F;chauerlich, aber auch hier eben durch das Ungewi&#x017F;&#x017F;e<lb/>
der noch nicht deutlichen Gefahr. Immer i&#x017F;t etwas vom negativ Erhabenen<lb/>
in der Wirkung des Helldunkels, weil die Nacht an das Vergehen erinnert.<lb/>
Volles Licht wirkt dagegen im Sinne des Schönen, durch blendende Fülle<lb/>
wird es aber erhaben. Wie &#x017F;ich das Schöne und Erhabene an die bisher<lb/>
aufgeführten Er&#x017F;cheinungen vertheile, kann jedoch hier nicht weiter verfolgt<lb/>
werden; es mag Jeder leicht die Anwendung ziehen.</hi> </p><lb/>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[36/0048] verliert ſich das Licht in Dämmerung; oder es fällt durch enge Oeffnung ein Lichtſtrahl in ein Zimmer, eine menſchliche Figur, die im Zimmer iſt, ſteht im vollen Lichte, Geräthe, Wände aber u. ſ. w. ſchwimmen im Helldunkel, denn der Strahl hat nicht genug Umfang, um Alles zu beleuchten. Ein ſolches Nebeneinander von ſcharfer Beleuchtung und Helldunkel kann ſich mit der Bedeutung der Gegenſtände höchſt ſtimmungs- voll vereinigen: Auge und Sinn ſucht in der Dämmerung des Waldes ſich von der Helle und Gluth der übrigen Landſchaft zu erholen; zu den ſcharf beleuchteten Zügen des ſtudirenden Aſtrologen gibt das Hell- dunkel ſeines mit räthſelhaftem Geräthe gefüllten Zimmers die geheimniß- volle Stimmung. Wir müſſen hier noch einmal auf die in §. 242 erwähnte Lichtfreude zurückkommen, um ſie mit der Wirkung des Helldunkels in Contraſt zu- ſammenzuſtellen. Die Kräfte des Seins, welche in Bildung individueller Geſtalten zuſammenwirken, ſind weſentlich ein Denken, nur noch nicht in wirklicher Geſtalt des zu ſich gekommenen, geiſtigen Denkens. Indem die Natur dieſes ihr Denken, welches ein Bilden iſt, durch die Wirkung des Lichtes nicht nur theilweiſe vollzieht, ſondern auch aufzeigt, ſo iſt es als gebe ſie ein Vorſpiel des eigentlichen, wirklichen Denkens; ſie denkt in Formen und ſie ſcheint dieſes verhüllte Denken in der Manifeſtation des Lichtes ſelbſt zu denken; es iſt wie ein Bewußtſein der Natur von ſich und der Zuſchauer genießt in dieſem Vorbilde ſinnlich, was er in dem Vollziehen deutlicher Gedanken auf andere Weiſe geiſtig und innerlich genießt. Es ruht aber im perſönlichen Geiſte eine unentwickelte Welt unendlicher Gedanken, deren unausgeſprochene Tiefe im ahnenden Gefühle bang und freudig zugleich ſich als Ahnung ankündigt: dem entſpricht das Helldunkel. So ſpricht der Dichter die Wirkung des Helldunkels durch Mondſchein auf das Gemüth mit den Worten aus, daß es die Bruſt löſend aufſchließe, mit dem Freunde zu genießen, Was vom Menſchen nicht gewußt Oder nicht bedacht, Durch das Labyrinth der Bruſt Wandelt in der Nacht. Das Helldunkel kann auch anders wirken, als in dieſer Weiſe des Rührenden: drohend, ſchauerlich, aber auch hier eben durch das Ungewiſſe der noch nicht deutlichen Gefahr. Immer iſt etwas vom negativ Erhabenen in der Wirkung des Helldunkels, weil die Nacht an das Vergehen erinnert. Volles Licht wirkt dagegen im Sinne des Schönen, durch blendende Fülle wird es aber erhaben. Wie ſich das Schöne und Erhabene an die bisher aufgeführten Erſcheinungen vertheile, kann jedoch hier nicht weiter verfolgt werden; es mag Jeder leicht die Anwendung ziehen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/48
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/48>, abgerufen am 23.11.2024.