diese furchtbaren Gährungen uns vor Augen. Nun erinnert sich das an- schauende persönliche Wesen, daß das, was wir jetzt unorganische Natur nennen, einst mehr war, es schaut sie als den Schooß, die Wiege alles Lebens an, verlegt sich selbst in diese Wiege zurück, wirft das Explicirte hinter sich selbst, die Zwischenglieder überspringend, in das Implicirte zurück, sieht in den Bewegungen der Natur Stimmungen, Leidenschaften des menschlichen Gemüths, läßt den künftigen Menschen aus dem Urgrunde, worin er mit allen Lebendigen schlummerte, hervor und sich entgegenblicken. Die Empfindung kann allerdings auch eine andere Wendung nehmen; die Elemente werden vorgestellt als wüßten sie um das außer ihnen bereits vorhandene organische und menschliche Leben und erfreuten sich daran, es zu nähren, sich ihm zum Genusse zu geben oder es neidisch zu zerstören. Allein die Zurückverlegung des empfindenden und selbstbewußten Lebens hinter sich in die blinde Natur ist hier dieselbe, nur daß der Act unver- merkt den bestimmten Widerspruch in sich aufnimmt, das höhere Leben da zu suchen, wo es noch nicht ist, und doch zugleich es da zu wissen, wo es ist. -- Die vorchristlichen Religionen vollzogen diese ganze Unterschiebung förmlich und machten die Erscheinungen der unorganischen Natur zu Göttern, die neuere Bildung vollzieht dieselbe unbestimmt in ahnender, blos ästhetischer Weise; denn wo sie bestimmt denkt, hat natürlich für sie die Unterschiebung ein Ende. Dieß leihende Anschauen kann nun gerade bei dem höchsten Producte der unorganischen Natur, dem Minerale, am wenigsten eintreten; denn für die Täuschung ist dieses zu bestimmt, um aber ohne Täuschung ihm ein Bild der Persönlichkeit unterzulegen, zu arm und todt.
Hinzuzusetzen ist nur noch, daß man uns nicht einwenden darf, wir setzen hier unberufener Weise die schöpferische Phantasie schon voraus, die sich uns doch erst erzeugen soll. Das empfindungsvolle, ahnende Schauen ist, wie schon zu §. 236 Anm. 3. berührt wurde, noch lange nicht das der Phantasie im engeren Sinne. Einen Zuschauer haben wir in den Begriff des Schönen selbst mit eingeschlossen (§. 70 ff.); Auge und empfindenden Sinn braucht es auch zum ästhetischen Anschauen der organischen Schönheit. Es wird sich seines Orts allerdings zeigen, daß wir überall in das Natur- schöne die reine Schönheit erst hineinschauen; ein ausdrücklicher und selb- ständiger Gegenstand der Untersuchung wird dieß aber erst da, wo die Mängel aller Naturschönheit zur Sprache kommen. Hier handelt es sich noch vom Unterschied ihrer Stufen, wie derselbe freilich bei der einen ein bestimmteres Leihen nöthig macht, bei der andern es erspart. Jetzt zeigt sich, daß der Zuschauer der unorganischen Natur etwas leihen muß, was sie nicht hat; dann wird sich zeigen, daß außer diesem Leihen noch etwas ganz Anderes geschehen muß, um ihre Mängel so wie die Mängel aller Naturschönheit zu tilgen und sie wahrhaft in das Schöne zu erheben.
dieſe furchtbaren Gährungen uns vor Augen. Nun erinnert ſich das an- ſchauende perſönliche Weſen, daß das, was wir jetzt unorganiſche Natur nennen, einſt mehr war, es ſchaut ſie als den Schooß, die Wiege alles Lebens an, verlegt ſich ſelbſt in dieſe Wiege zurück, wirft das Explicirte hinter ſich ſelbſt, die Zwiſchenglieder überſpringend, in das Implicirte zurück, ſieht in den Bewegungen der Natur Stimmungen, Leidenſchaften des menſchlichen Gemüths, läßt den künftigen Menſchen aus dem Urgrunde, worin er mit allen Lebendigen ſchlummerte, hervor und ſich entgegenblicken. Die Empfindung kann allerdings auch eine andere Wendung nehmen; die Elemente werden vorgeſtellt als wüßten ſie um das außer ihnen bereits vorhandene organiſche und menſchliche Leben und erfreuten ſich daran, es zu nähren, ſich ihm zum Genuſſe zu geben oder es neidiſch zu zerſtören. Allein die Zurückverlegung des empfindenden und ſelbſtbewußten Lebens hinter ſich in die blinde Natur iſt hier dieſelbe, nur daß der Act unver- merkt den beſtimmten Widerſpruch in ſich aufnimmt, das höhere Leben da zu ſuchen, wo es noch nicht iſt, und doch zugleich es da zu wiſſen, wo es iſt. — Die vorchriſtlichen Religionen vollzogen dieſe ganze Unterſchiebung förmlich und machten die Erſcheinungen der unorganiſchen Natur zu Göttern, die neuere Bildung vollzieht dieſelbe unbeſtimmt in ahnender, blos äſthetiſcher Weiſe; denn wo ſie beſtimmt denkt, hat natürlich für ſie die Unterſchiebung ein Ende. Dieß leihende Anſchauen kann nun gerade bei dem höchſten Producte der unorganiſchen Natur, dem Minerale, am wenigſten eintreten; denn für die Täuſchung iſt dieſes zu beſtimmt, um aber ohne Täuſchung ihm ein Bild der Perſönlichkeit unterzulegen, zu arm und todt.
Hinzuzuſetzen iſt nur noch, daß man uns nicht einwenden darf, wir ſetzen hier unberufener Weiſe die ſchöpferiſche Phantaſie ſchon voraus, die ſich uns doch erſt erzeugen ſoll. Das empfindungsvolle, ahnende Schauen iſt, wie ſchon zu §. 236 Anm. 3. berührt wurde, noch lange nicht das der Phantaſie im engeren Sinne. Einen Zuſchauer haben wir in den Begriff des Schönen ſelbſt mit eingeſchloſſen (§. 70 ff.); Auge und empfindenden Sinn braucht es auch zum äſthetiſchen Anſchauen der organiſchen Schönheit. Es wird ſich ſeines Orts allerdings zeigen, daß wir überall in das Natur- ſchöne die reine Schönheit erſt hineinſchauen; ein ausdrücklicher und ſelb- ſtändiger Gegenſtand der Unterſuchung wird dieß aber erſt da, wo die Mängel aller Naturſchönheit zur Sprache kommen. Hier handelt es ſich noch vom Unterſchied ihrer Stufen, wie derſelbe freilich bei der einen ein beſtimmteres Leihen nöthig macht, bei der andern es erſpart. Jetzt zeigt ſich, daß der Zuſchauer der unorganiſchen Natur etwas leihen muß, was ſie nicht hat; dann wird ſich zeigen, daß außer dieſem Leihen noch etwas ganz Anderes geſchehen muß, um ihre Mängel ſo wie die Mängel aller Naturſchönheit zu tilgen und ſie wahrhaft in das Schöne zu erheben.
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dieſe furchtbaren Gährungen uns vor Augen. Nun erinnert ſich das an-
ſchauende perſönliche Weſen, daß das, was wir jetzt unorganiſche Natur
nennen, einſt mehr war, es ſchaut ſie als den Schooß, die Wiege alles
Lebens an, verlegt ſich ſelbſt in dieſe Wiege zurück, wirft das Explicirte
hinter ſich ſelbſt, die Zwiſchenglieder überſpringend, in das Implicirte
zurück, ſieht in den Bewegungen der Natur Stimmungen, Leidenſchaften
des menſchlichen Gemüths, läßt den künftigen Menſchen aus dem Urgrunde,
worin er mit allen Lebendigen ſchlummerte, hervor und ſich entgegenblicken.
Die Empfindung kann allerdings auch eine andere Wendung nehmen; die
Elemente werden vorgeſtellt als wüßten ſie um das außer ihnen bereits
vorhandene organiſche und menſchliche Leben und erfreuten ſich daran, es
zu nähren, ſich ihm zum Genuſſe zu geben oder es neidiſch zu zerſtören.
Allein die Zurückverlegung des empfindenden und ſelbſtbewußten Lebens
hinter ſich in die blinde Natur iſt hier dieſelbe, nur daß der Act unver-
merkt den beſtimmten Widerſpruch in ſich aufnimmt, das höhere Leben da
zu ſuchen, wo es noch nicht iſt, und doch zugleich es da zu wiſſen, wo es
iſt. — Die vorchriſtlichen Religionen vollzogen dieſe ganze Unterſchiebung
förmlich und machten die Erſcheinungen der unorganiſchen Natur zu Göttern,
die neuere Bildung vollzieht dieſelbe unbeſtimmt in ahnender, blos äſthetiſcher
Weiſe; denn wo ſie beſtimmt denkt, hat natürlich für ſie die Unterſchiebung
ein Ende. Dieß leihende Anſchauen kann nun gerade bei dem höchſten
Producte der unorganiſchen Natur, dem Minerale, am wenigſten eintreten;
denn für die Täuſchung iſt dieſes zu beſtimmt, um aber ohne Täuſchung
ihm ein Bild der Perſönlichkeit unterzulegen, zu arm und todt.
Hinzuzuſetzen iſt nur noch, daß man uns nicht einwenden darf, wir
ſetzen hier unberufener Weiſe die ſchöpferiſche Phantaſie ſchon voraus, die
ſich uns doch erſt erzeugen ſoll. Das empfindungsvolle, ahnende Schauen
iſt, wie ſchon zu §. 236 Anm. 3. berührt wurde, noch lange nicht das der
Phantaſie im engeren Sinne. Einen Zuſchauer haben wir in den Begriff
des Schönen ſelbſt mit eingeſchloſſen (§. 70 ff.); Auge und empfindenden
Sinn braucht es auch zum äſthetiſchen Anſchauen der organiſchen Schönheit.
Es wird ſich ſeines Orts allerdings zeigen, daß wir überall in das Natur-
ſchöne die reine Schönheit erſt hineinſchauen; ein ausdrücklicher und ſelb-
ſtändiger Gegenſtand der Unterſuchung wird dieß aber erſt da, wo die
Mängel aller Naturſchönheit zur Sprache kommen. Hier handelt es ſich
noch vom Unterſchied ihrer Stufen, wie derſelbe freilich bei der einen ein
beſtimmteres Leihen nöthig macht, bei der andern es erſpart. Jetzt zeigt
ſich, daß der Zuſchauer der unorganiſchen Natur etwas leihen muß, was
ſie nicht hat; dann wird ſich zeigen, daß außer dieſem Leihen noch
etwas ganz Anderes geſchehen muß, um ihre Mängel ſo wie die Mängel
aller Naturſchönheit zu tilgen und ſie wahrhaft in das Schöne zu erheben.
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/39>, abgerufen am 16.07.2024.
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