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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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an den niedrigen Thierarten hervorhängt und herumflattert und womit
die kleinen Insectenstacheln, die Stecknadeln, deren Nothwendigkeit allein
schon ein Beweis stylloser Tracht ist, ganz in Einklang stehen. Nun alle
übrigen neu erfundenen Mechanismen; die Guillotine hat selbst die Todes-
strafe zur Maschinensache, den Kopf zum Kohlhaupte gemacht, die Eisen-
babnen verdrängen den rüstigen Gang, den männlichen Ritt, selbst vom
Wagen das feurige Pferd, und es fehlt nur noch, daß man Menschen
mit Dampf mache und die Liebe aus dem Leben schwinde.

§. 377.

In dieser Armuth sucht die Schönheit die unaufhaltsam, und zwar
meistens in häßlicher Faulniß, verschwindenden Trümmer objectiver Lebens-
formen in der Gegenwart auf, oder sie hält sich an das Komische der Armuth
selbst. Da dieser Stoff spärlich ist, so flieht sie in die Vergangenheit; da sie
aber in der Gegenwart zu wenig Form findet, so kann ihr auch jene nicht
zum lebendigen Bilde werden.

Seit den Kreuzzügen war immer Berührung mit dem Morgenlande;
in den Türkenkriegen des sechzehnten, siebzehnten, achtzehnten Jahrhunderts
interessirte man sich freilich nicht im ästhetischen Sinne für orientalische
Formen, wohl aber seit Napoleons Feldzug nach Aegypten. Die Eng-
länder schließen Indien, die Eroberung Algiers das afrikanische Beduinen-
land, die russischen Kriege die tscherkessischen Bergvölker auf, Griechenland
wird offen und seine Revolution genießt den großen ästhetischen Vortheil
einer schönen Tracht, phantasievollen Bewaffnung; Italien, Spanien, die
Schweiz werden sozusagen neu entdeckt. Begierig stürzt sich das ästhetische
Bedürfniß auf die schönen Lebens-Formen, die man hier noch findet.
Aber im Sehen verschwinden sie, richtiger das Sehen selbst tödtet sie.
Die moderne Civilisation ist so corrosiv, daß, wo sie hinkommt, da welken
die Blumen der Naturfrische unter ihr. Der knappen Coquetterie ihrer
Formen, der Verführung des Eleganten, ihren Lastern widersteht kein
Volk, denn sie sind im Bunde mit ihren Gütern. Wo der Untergang
alter Sitte und naturfrischen Volkslebens durch Kampf vermittelt ist, da
gibt er noch herrliche Erscheinungen, wie die Heldenkämpfe der Araber,
der Tscherkessen, beide treffliche Stoffe, da ihre Feinde zwar gewissenlose,
aber mittelbar doch berechtigte Organe der berechtigten Civilisation sind;
wo es aber ein stilles Faulen ist, wo man Sitte und Volkstracht um's
Geld zeigt, ehe sie vollends verschwinden, da ist der Prozeß eckelhaft.
Die Cultur verwischt so nicht nur den Unterschied der Stände, der Indi-
viduen, sondern auch der Völker. Wohl erhält sich ihr innerster Charakter,

an den niedrigen Thierarten hervorhängt und herumflattert und womit
die kleinen Inſectenſtacheln, die Stecknadeln, deren Nothwendigkeit allein
ſchon ein Beweis ſtylloſer Tracht iſt, ganz in Einklang ſtehen. Nun alle
übrigen neu erfundenen Mechaniſmen; die Guillotine hat ſelbſt die Todes-
ſtrafe zur Maſchinenſache, den Kopf zum Kohlhaupte gemacht, die Eiſen-
babnen verdrängen den rüſtigen Gang, den männlichen Ritt, ſelbſt vom
Wagen das feurige Pferd, und es fehlt nur noch, daß man Menſchen
mit Dampf mache und die Liebe aus dem Leben ſchwinde.

§. 377.

In dieſer Armuth ſucht die Schönheit die unaufhaltſam, und zwar
meiſtens in häßlicher Faulniß, verſchwindenden Trümmer objectiver Lebens-
formen in der Gegenwart auf, oder ſie hält ſich an das Komiſche der Armuth
ſelbſt. Da dieſer Stoff ſpärlich iſt, ſo flieht ſie in die Vergangenheit; da ſie
aber in der Gegenwart zu wenig Form findet, ſo kann ihr auch jene nicht
zum lebendigen Bilde werden.

Seit den Kreuzzügen war immer Berührung mit dem Morgenlande;
in den Türkenkriegen des ſechzehnten, ſiebzehnten, achtzehnten Jahrhunderts
intereſſirte man ſich freilich nicht im äſthetiſchen Sinne für orientaliſche
Formen, wohl aber ſeit Napoleons Feldzug nach Aegypten. Die Eng-
länder ſchließen Indien, die Eroberung Algiers das afrikaniſche Beduinen-
land, die ruſſiſchen Kriege die tſcherkeſſiſchen Bergvölker auf, Griechenland
wird offen und ſeine Revolution genießt den großen äſthetiſchen Vortheil
einer ſchönen Tracht, phantaſievollen Bewaffnung; Italien, Spanien, die
Schweiz werden ſozuſagen neu entdeckt. Begierig ſtürzt ſich das äſthetiſche
Bedürfniß auf die ſchönen Lebens-Formen, die man hier noch findet.
Aber im Sehen verſchwinden ſie, richtiger das Sehen ſelbſt tödtet ſie.
Die moderne Civiliſation iſt ſo corroſiv, daß, wo ſie hinkommt, da welken
die Blumen der Naturfriſche unter ihr. Der knappen Coquetterie ihrer
Formen, der Verführung des Eleganten, ihren Laſtern widerſteht kein
Volk, denn ſie ſind im Bunde mit ihren Gütern. Wo der Untergang
alter Sitte und naturfriſchen Volkslebens durch Kampf vermittelt iſt, da
gibt er noch herrliche Erſcheinungen, wie die Heldenkämpfe der Araber,
der Tſcherkeſſen, beide treffliche Stoffe, da ihre Feinde zwar gewiſſenloſe,
aber mittelbar doch berechtigte Organe der berechtigten Civiliſation ſind;
wo es aber ein ſtilles Faulen iſt, wo man Sitte und Volkstracht um’s
Geld zeigt, ehe ſie vollends verſchwinden, da iſt der Prozeß eckelhaft.
Die Cultur verwiſcht ſo nicht nur den Unterſchied der Stände, der Indi-
viduen, ſondern auch der Völker. Wohl erhält ſich ihr innerſter Charakter,

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[295/0307] an den niedrigen Thierarten hervorhängt und herumflattert und womit die kleinen Inſectenſtacheln, die Stecknadeln, deren Nothwendigkeit allein ſchon ein Beweis ſtylloſer Tracht iſt, ganz in Einklang ſtehen. Nun alle übrigen neu erfundenen Mechaniſmen; die Guillotine hat ſelbſt die Todes- ſtrafe zur Maſchinenſache, den Kopf zum Kohlhaupte gemacht, die Eiſen- babnen verdrängen den rüſtigen Gang, den männlichen Ritt, ſelbſt vom Wagen das feurige Pferd, und es fehlt nur noch, daß man Menſchen mit Dampf mache und die Liebe aus dem Leben ſchwinde. §. 377. In dieſer Armuth ſucht die Schönheit die unaufhaltſam, und zwar meiſtens in häßlicher Faulniß, verſchwindenden Trümmer objectiver Lebens- formen in der Gegenwart auf, oder ſie hält ſich an das Komiſche der Armuth ſelbſt. Da dieſer Stoff ſpärlich iſt, ſo flieht ſie in die Vergangenheit; da ſie aber in der Gegenwart zu wenig Form findet, ſo kann ihr auch jene nicht zum lebendigen Bilde werden. Seit den Kreuzzügen war immer Berührung mit dem Morgenlande; in den Türkenkriegen des ſechzehnten, ſiebzehnten, achtzehnten Jahrhunderts intereſſirte man ſich freilich nicht im äſthetiſchen Sinne für orientaliſche Formen, wohl aber ſeit Napoleons Feldzug nach Aegypten. Die Eng- länder ſchließen Indien, die Eroberung Algiers das afrikaniſche Beduinen- land, die ruſſiſchen Kriege die tſcherkeſſiſchen Bergvölker auf, Griechenland wird offen und ſeine Revolution genießt den großen äſthetiſchen Vortheil einer ſchönen Tracht, phantaſievollen Bewaffnung; Italien, Spanien, die Schweiz werden ſozuſagen neu entdeckt. Begierig ſtürzt ſich das äſthetiſche Bedürfniß auf die ſchönen Lebens-Formen, die man hier noch findet. Aber im Sehen verſchwinden ſie, richtiger das Sehen ſelbſt tödtet ſie. Die moderne Civiliſation iſt ſo corroſiv, daß, wo ſie hinkommt, da welken die Blumen der Naturfriſche unter ihr. Der knappen Coquetterie ihrer Formen, der Verführung des Eleganten, ihren Laſtern widerſteht kein Volk, denn ſie ſind im Bunde mit ihren Gütern. Wo der Untergang alter Sitte und naturfriſchen Volkslebens durch Kampf vermittelt iſt, da gibt er noch herrliche Erſcheinungen, wie die Heldenkämpfe der Araber, der Tſcherkeſſen, beide treffliche Stoffe, da ihre Feinde zwar gewiſſenloſe, aber mittelbar doch berechtigte Organe der berechtigten Civiliſation ſind; wo es aber ein ſtilles Faulen iſt, wo man Sitte und Volkstracht um’s Geld zeigt, ehe ſie vollends verſchwinden, da iſt der Prozeß eckelhaft. Die Cultur verwiſcht ſo nicht nur den Unterſchied der Stände, der Indi- viduen, ſondern auch der Völker. Wohl erhält ſich ihr innerſter Charakter,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 295. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/307>, abgerufen am 23.11.2024.