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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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hindert, dem Instincte zu folgen, der uns treibt, den Charakter in unserem
Aeußern auszudrücken. Wohl gibt es gewisse feine Merkmale, den Stand
und die Individualität an der Kleidung zu erkennen, sowie eine geschärfte
Physiognomik sie in Gesicht und Haltung wohl noch hervorfindet unter
der Cultur, die alle Welt beleckt; allein diese Züge sind zu versteckt, zu
leise, als daß dem Schönen, das Bestimmtheit will und volles Heraus-
treten in die Form, damit gedient sein könnte. -- In dieser Tracht nun
spielt die ganze Geschichte seit der Revolution, und da sie schlechtweg
unästhetisch ist, so sind die größten Momente, Erscheinungen, Männer
ein unüberwindliches Kreuz für das ästhetische Auge. Der Gehalt groß,
die Form stutzig, schäbig, hungrig, kahl, matt, so daß der elendeste Bettler
in einem Volke, das noch Tracht hat, dem Reichsten unter uns einen
Pfennig schenken möchte zu besserem Kleide. Freilich hat auch der Gehalt
selbst den rasirten Charakter, wie wir sahen. Aehnlich verhält es sich
nun mit Umgebungen, Geräthen u. s. w. Die Aufklärung in ihrem
zweiten, scharf schneidenden Stadium hat die gerade Linie, die nackte
Wand, die schmucklose Nützlichkeit Alles dessen, was das Handwerk macht,
eingeführt, ist mit Formen und Farben verfahren wie mit Dogmen. Es
ist z. B. lächerlich, schmuckvollen Reitzeug und Pferdegeschirr zu zeigen.
Der Schreiner kann keinen Sessel, der Töpfer keinen Krug machen, der
auch nur eine Spur von Schwung hätte.

Ein Gefühl dieser Armuth drängte sich auf. Aller eigenen Erfindung
und alles Muthes dazu baar sucht man nun in der Vergangenheit herum,
erneut orientalische, griechische, römische, vorgothische, gothische Formen,
Renaissance, Rokoko, Alles bunt durcheinander und in der Nachahmung
seines Zusammenhangs, Schwungs, seiner Schneide entblößt. Bart und
Haar machte dieses Herumbetteln mit; einige Opposition regt sich gegen
das nackte Affengesicht wie gegen den Frack, und nun sieht man zu unsern
windigen Kleiderfetzen einen Francois, Henri IV, einen Abdelkader u. s. w.
Was man aber an Formen in Geräthen u. dergl. aufnehmen mag, fast
Alles wird fabrikmäßig gemacht und hat Maschinen-Charakter. Wie die
Fabriken, deren Fortschritt wir doch nicht können hemmen wollen, ein
fressendes Gift in die Sittlichkeit des Volkes sind, die schöne Einfalt der
Sitten, das Familienverhältniß zwischen Meister und Geselle zerstören,
so haben sie der Handarbeit den Schwung des Formsinns entzogen, liefern
Producte von seelenlosem, papiernem Gepräge und haben durch die Wohl-
feilheit der blöden, charakterlosen Zize, Kattune u. s. w. namentlich zur
Vertilgung der Volkstrachten beigetragen. Aus ihrem Maschinenrachen
wird ferner all das dünne, gestaltlose, neblichte Unkraut von Spitzen,
Blonden u. s. w. ausgespieen, was an der weiblichen Modekleidung ver-
worren wie Füße, Saugrüssel, Bartfasern u. dergl. unklares Nebenwerk

hindert, dem Inſtincte zu folgen, der uns treibt, den Charakter in unſerem
Aeußern auszudrücken. Wohl gibt es gewiſſe feine Merkmale, den Stand
und die Individualität an der Kleidung zu erkennen, ſowie eine geſchärfte
Phyſiognomik ſie in Geſicht und Haltung wohl noch hervorfindet unter
der Cultur, die alle Welt beleckt; allein dieſe Züge ſind zu verſteckt, zu
leiſe, als daß dem Schönen, das Beſtimmtheit will und volles Heraus-
treten in die Form, damit gedient ſein könnte. — In dieſer Tracht nun
ſpielt die ganze Geſchichte ſeit der Revolution, und da ſie ſchlechtweg
unäſthetiſch iſt, ſo ſind die größten Momente, Erſcheinungen, Männer
ein unüberwindliches Kreuz für das äſthetiſche Auge. Der Gehalt groß,
die Form ſtutzig, ſchäbig, hungrig, kahl, matt, ſo daß der elendeſte Bettler
in einem Volke, das noch Tracht hat, dem Reichſten unter uns einen
Pfennig ſchenken möchte zu beſſerem Kleide. Freilich hat auch der Gehalt
ſelbſt den raſirten Charakter, wie wir ſahen. Aehnlich verhält es ſich
nun mit Umgebungen, Geräthen u. ſ. w. Die Aufklärung in ihrem
zweiten, ſcharf ſchneidenden Stadium hat die gerade Linie, die nackte
Wand, die ſchmuckloſe Nützlichkeit Alles deſſen, was das Handwerk macht,
eingeführt, iſt mit Formen und Farben verfahren wie mit Dogmen. Es
iſt z. B. lächerlich, ſchmuckvollen Reitzeug und Pferdegeſchirr zu zeigen.
Der Schreiner kann keinen Seſſel, der Töpfer keinen Krug machen, der
auch nur eine Spur von Schwung hätte.

Ein Gefühl dieſer Armuth drängte ſich auf. Aller eigenen Erfindung
und alles Muthes dazu baar ſucht man nun in der Vergangenheit herum,
erneut orientaliſche, griechiſche, römiſche, vorgothiſche, gothiſche Formen,
Renaiſſance, Rokoko, Alles bunt durcheinander und in der Nachahmung
ſeines Zuſammenhangs, Schwungs, ſeiner Schneide entblößt. Bart und
Haar machte dieſes Herumbetteln mit; einige Oppoſition regt ſich gegen
das nackte Affengeſicht wie gegen den Frack, und nun ſieht man zu unſern
windigen Kleiderfetzen einen Francois, Henri IV, einen Abdelkader u. ſ. w.
Was man aber an Formen in Geräthen u. dergl. aufnehmen mag, faſt
Alles wird fabrikmäßig gemacht und hat Maſchinen-Charakter. Wie die
Fabriken, deren Fortſchritt wir doch nicht können hemmen wollen, ein
freſſendes Gift in die Sittlichkeit des Volkes ſind, die ſchöne Einfalt der
Sitten, das Familienverhältniß zwiſchen Meiſter und Geſelle zerſtören,
ſo haben ſie der Handarbeit den Schwung des Formſinns entzogen, liefern
Producte von ſeelenloſem, papiernem Gepräge und haben durch die Wohl-
feilheit der blöden, charakterloſen Zize, Kattune u. ſ. w. namentlich zur
Vertilgung der Volkstrachten beigetragen. Aus ihrem Maſchinenrachen
wird ferner all das dünne, geſtaltloſe, neblichte Unkraut von Spitzen,
Blonden u. ſ. w. ausgeſpieen, was an der weiblichen Modekleidung ver-
worren wie Füße, Saugrüſſel, Bartfaſern u. dergl. unklares Nebenwerk

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[294/0306] hindert, dem Inſtincte zu folgen, der uns treibt, den Charakter in unſerem Aeußern auszudrücken. Wohl gibt es gewiſſe feine Merkmale, den Stand und die Individualität an der Kleidung zu erkennen, ſowie eine geſchärfte Phyſiognomik ſie in Geſicht und Haltung wohl noch hervorfindet unter der Cultur, die alle Welt beleckt; allein dieſe Züge ſind zu verſteckt, zu leiſe, als daß dem Schönen, das Beſtimmtheit will und volles Heraus- treten in die Form, damit gedient ſein könnte. — In dieſer Tracht nun ſpielt die ganze Geſchichte ſeit der Revolution, und da ſie ſchlechtweg unäſthetiſch iſt, ſo ſind die größten Momente, Erſcheinungen, Männer ein unüberwindliches Kreuz für das äſthetiſche Auge. Der Gehalt groß, die Form ſtutzig, ſchäbig, hungrig, kahl, matt, ſo daß der elendeſte Bettler in einem Volke, das noch Tracht hat, dem Reichſten unter uns einen Pfennig ſchenken möchte zu beſſerem Kleide. Freilich hat auch der Gehalt ſelbſt den raſirten Charakter, wie wir ſahen. Aehnlich verhält es ſich nun mit Umgebungen, Geräthen u. ſ. w. Die Aufklärung in ihrem zweiten, ſcharf ſchneidenden Stadium hat die gerade Linie, die nackte Wand, die ſchmuckloſe Nützlichkeit Alles deſſen, was das Handwerk macht, eingeführt, iſt mit Formen und Farben verfahren wie mit Dogmen. Es iſt z. B. lächerlich, ſchmuckvollen Reitzeug und Pferdegeſchirr zu zeigen. Der Schreiner kann keinen Seſſel, der Töpfer keinen Krug machen, der auch nur eine Spur von Schwung hätte. Ein Gefühl dieſer Armuth drängte ſich auf. Aller eigenen Erfindung und alles Muthes dazu baar ſucht man nun in der Vergangenheit herum, erneut orientaliſche, griechiſche, römiſche, vorgothiſche, gothiſche Formen, Renaiſſance, Rokoko, Alles bunt durcheinander und in der Nachahmung ſeines Zuſammenhangs, Schwungs, ſeiner Schneide entblößt. Bart und Haar machte dieſes Herumbetteln mit; einige Oppoſition regt ſich gegen das nackte Affengeſicht wie gegen den Frack, und nun ſieht man zu unſern windigen Kleiderfetzen einen Francois, Henri IV, einen Abdelkader u. ſ. w. Was man aber an Formen in Geräthen u. dergl. aufnehmen mag, faſt Alles wird fabrikmäßig gemacht und hat Maſchinen-Charakter. Wie die Fabriken, deren Fortſchritt wir doch nicht können hemmen wollen, ein freſſendes Gift in die Sittlichkeit des Volkes ſind, die ſchöne Einfalt der Sitten, das Familienverhältniß zwiſchen Meiſter und Geſelle zerſtören, ſo haben ſie der Handarbeit den Schwung des Formſinns entzogen, liefern Producte von ſeelenloſem, papiernem Gepräge und haben durch die Wohl- feilheit der blöden, charakterloſen Zize, Kattune u. ſ. w. namentlich zur Vertilgung der Volkstrachten beigetragen. Aus ihrem Maſchinenrachen wird ferner all das dünne, geſtaltloſe, neblichte Unkraut von Spitzen, Blonden u. ſ. w. ausgeſpieen, was an der weiblichen Modekleidung ver- worren wie Füße, Saugrüſſel, Bartfaſern u. dergl. unklares Nebenwerk

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 294. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/306>, abgerufen am 23.11.2024.