Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.
Kriegen am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts. Carl V setzt mit
Kriegen am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts. Carl V ſetzt mit <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0295" n="283"/> Kriegen am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts. Carl <hi rendition="#aq">V</hi> ſetzt mit<lb/> Franz <hi rendition="#aq">I</hi> dieſe Kriege vereinzelten, modern politiſchen Länderſtreits fort,<lb/> in welchen die gewerbsmäßige Betreibung des Kriegs (Söldnerweſen,<lb/> Schweizer, Deutſche, Landsknechte, Frundsberg) ſich in ihrer ganzen<lb/> Ausbildung zeigt. Iſolirt treten noch Geſtalten wie Bayard, der Ritter<lb/> ohne Furcht und Tadel, auf. Spanien bildete den formalen Verſtand<lb/> der äußeren modernen Politik ſchon zu einem Syſtem aus, allein es war<lb/> noch von einem ſubſtantiellen Pathos, dem kirchlichen Gewiſſen, gebunden.<lb/> Der ächt modern politiſche, gewiſſenloſe Verſtand trat erſt durch einen<lb/> Richelieu, Mazarin, Ludwig <hi rendition="#aq">XIV</hi> reif in die Welt. Der diplomatiſche<lb/> Wechſelverkehr der Staaten, der ſich nun entwickelte, iſt nicht nur durch<lb/> ſeine abſtracte, geheime Form als Kabinetspolitik eine äſthetiſch ungünſtige<lb/> Erſcheinung, ſondern auch weil nun jede Staatshandlung zu einer reflec-<lb/> tirten, weil jedem Pathos der Völker ein verborgener Hintergrund gegeben<lb/> wird, der gerade die Ironie deſſelben ſein kann, ſo daß z. B. im Kriege<lb/> der begeiſterte Soldat ganz anderen Zwecken dient, als er weiß, und daher<lb/> überhaupt kein Zutrauen zu dem iſt, was erſcheint. Ganz in dieſes<lb/> Gewebe feiner Liſt, wo Alles hinter Couliſſen ſpielt, gehört das ſogenannte<lb/> Syſtem des politiſchen Gleichgewichts. Dieſer mechaniſche Begriff iſt<lb/> nichts als ein Ausdruck gegenſeitiger Belaurung des allgemeinen Egoismus<lb/> der Monarchen, welcher, ſehr verſchieden von dem kräftigen, in Eroberung<lb/> überwogenden Selbſtgefühl der alten Staaten, nach Gelegenheit ſpäht,<lb/> ſich zu vergrößern, gewiſſenlos nach Ländern zu ſchnappen. So beginnt<lb/> Ludwig <hi rendition="#aq">XIV</hi> eine Reihe von Kriegen, in welchen die Intereſſen aller<lb/> europäiſchen Länder ſich durchkreuzen, gegen die ſpaniſchen Nieder-<lb/> lande, Holland, die Pfalz, England; es folgt der ſpaniſche, dann der<lb/> öſtreichiſche Erbfolgekrieg. In allen dieſen Kriegen geſchieht vereinzelt<lb/> Großes, ein Cond<hi rendition="#aq">é</hi>, Türenne, Catinat, Prinz Eugen, Marlborough treten<lb/> auf, aber dem Ganzen fehlt die Einfachheit, Deutlichkeit, Ueberſichtlichkeit,<lb/> welche zu einem vortheilhaften Stoffe erfordert wird. Bezeichnend für<lb/> die moderne Politik iſt namentlich die Rolle, welche ſeit dem ſechzehnten<lb/> Jahrhundert die Türken ſpielen, richtiger, welche man mit ihnen ſpielt.<lb/> Dieſes kühne, fanatiſche, rohe Volk gibt im Kampfe mit den abend-<lb/> ländiſchen Waffen ein farbenreiches Schauſpiel; einzelne Acte für ſich,<lb/> wie die Entſetzung Wiens durch Sobiesky, die Einnahme Belgrads durch<lb/> Prinz Eugen treten für ſich heraus als tüchtige Stoffe, woran ſich Vater-<lb/> landsgefühl betheiligen kann; allein überall ſteckt die Politik im Hinter-<lb/> grunde, welche längſt entwöhnt des alten Gewiſſens dieſes Volk vorſchiebt,<lb/> beſtellt gelegentlich ſchützt und gelegentlich angreift, zum allgemeinen<lb/> Vorwand, Zankapfel und endlich in der neueſten Zeit zur lebendigen<lb/> Leiche macht, welche die politiſche Eiferſuch nicht ſterben läßt.</hi> </p><lb/> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [283/0295]
Kriegen am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts. Carl V ſetzt mit
Franz I dieſe Kriege vereinzelten, modern politiſchen Länderſtreits fort,
in welchen die gewerbsmäßige Betreibung des Kriegs (Söldnerweſen,
Schweizer, Deutſche, Landsknechte, Frundsberg) ſich in ihrer ganzen
Ausbildung zeigt. Iſolirt treten noch Geſtalten wie Bayard, der Ritter
ohne Furcht und Tadel, auf. Spanien bildete den formalen Verſtand
der äußeren modernen Politik ſchon zu einem Syſtem aus, allein es war
noch von einem ſubſtantiellen Pathos, dem kirchlichen Gewiſſen, gebunden.
Der ächt modern politiſche, gewiſſenloſe Verſtand trat erſt durch einen
Richelieu, Mazarin, Ludwig XIV reif in die Welt. Der diplomatiſche
Wechſelverkehr der Staaten, der ſich nun entwickelte, iſt nicht nur durch
ſeine abſtracte, geheime Form als Kabinetspolitik eine äſthetiſch ungünſtige
Erſcheinung, ſondern auch weil nun jede Staatshandlung zu einer reflec-
tirten, weil jedem Pathos der Völker ein verborgener Hintergrund gegeben
wird, der gerade die Ironie deſſelben ſein kann, ſo daß z. B. im Kriege
der begeiſterte Soldat ganz anderen Zwecken dient, als er weiß, und daher
überhaupt kein Zutrauen zu dem iſt, was erſcheint. Ganz in dieſes
Gewebe feiner Liſt, wo Alles hinter Couliſſen ſpielt, gehört das ſogenannte
Syſtem des politiſchen Gleichgewichts. Dieſer mechaniſche Begriff iſt
nichts als ein Ausdruck gegenſeitiger Belaurung des allgemeinen Egoismus
der Monarchen, welcher, ſehr verſchieden von dem kräftigen, in Eroberung
überwogenden Selbſtgefühl der alten Staaten, nach Gelegenheit ſpäht,
ſich zu vergrößern, gewiſſenlos nach Ländern zu ſchnappen. So beginnt
Ludwig XIV eine Reihe von Kriegen, in welchen die Intereſſen aller
europäiſchen Länder ſich durchkreuzen, gegen die ſpaniſchen Nieder-
lande, Holland, die Pfalz, England; es folgt der ſpaniſche, dann der
öſtreichiſche Erbfolgekrieg. In allen dieſen Kriegen geſchieht vereinzelt
Großes, ein Condé, Türenne, Catinat, Prinz Eugen, Marlborough treten
auf, aber dem Ganzen fehlt die Einfachheit, Deutlichkeit, Ueberſichtlichkeit,
welche zu einem vortheilhaften Stoffe erfordert wird. Bezeichnend für
die moderne Politik iſt namentlich die Rolle, welche ſeit dem ſechzehnten
Jahrhundert die Türken ſpielen, richtiger, welche man mit ihnen ſpielt.
Dieſes kühne, fanatiſche, rohe Volk gibt im Kampfe mit den abend-
ländiſchen Waffen ein farbenreiches Schauſpiel; einzelne Acte für ſich,
wie die Entſetzung Wiens durch Sobiesky, die Einnahme Belgrads durch
Prinz Eugen treten für ſich heraus als tüchtige Stoffe, woran ſich Vater-
landsgefühl betheiligen kann; allein überall ſteckt die Politik im Hinter-
grunde, welche längſt entwöhnt des alten Gewiſſens dieſes Volk vorſchiebt,
beſtellt gelegentlich ſchützt und gelegentlich angreift, zum allgemeinen
Vorwand, Zankapfel und endlich in der neueſten Zeit zur lebendigen
Leiche macht, welche die politiſche Eiferſuch nicht ſterben läßt.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |